Textdaten
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Autor: A. B.
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Titel: Das Pfälzer Potsdam
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31, 32, S. 521–524, 537–541
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Pfälzer Potsdam.


Als im Jahre 1736 die elsässische Grafschaft Hanau-Lichtenberg an Hessen-Darmstadt gefallen war, übergab man die Regierung des Ländchens dem jungen Erbprinzen von dort, dem nachmaligen Landgraf Ludwig dem Neunten, dem Helden unsers Berichts. Da jedoch die zehn elsässischen Aemter mit der Hauptstadt Buchsweiler unter französischer Oberhoheit standen, von welcher sich unser Prinz als guter Deutscher belästigt fühlte, zog er sich in das Amt Lemberg zurück, wo er seine Residenz zu Pirmasenz nahm, das heute selbst jenseits des Oceans berühmt als der Mittelpunkt des Pfälzer Schuhhandels, damals zwar nur ein elender Ort auf rauhem Vogesenrücken war und auch lange nachher erst vierunddreißig Häuser zählte, jedoch der fremden Hoheit entzogen blieb. Von hier fuhr nun eines Sommertags der stattliche Prinz „auf die Freierei“ durch die Wasgaufelsen hinaus nach Bergzabern, dem Römerstädtchen im Weinlande am Fuße der Vogesen. Im Schlosse daselbst wohnte nämlich mit ihren Kindern auf dem Wittwensitze die Herzogin Karolina von Zweibrücken, die Stammmutter der Könige von Baiern, eine Ahnfrau der Könige von Preußen.

Henriette, die älteste Tochter der vortrefflichen Fürstin, war berufen, eine der hervorragendsten Frauen des Jahrhunderts zu werden, und gleich ihrer Mutter von den Bewohnern des Städtchens schon damals verehrt ob ihres Geistes, ihrer Einfachheit und Herzensgüte. Hatte sie doch in der schönen Umgebung jenen [522] tiefen Natursinn geschöpft, der ihr durch ein segensreiches Leben erhalten blieb und sich noch in der Wahl ihrer Grabstätte äußerte. Sie ward unsers Prinzen Gemahlin, die Mutter seiner Kinder, und ihr zu Liebe wohnte er ein Jahr im freundlichen Buchsweiler. Nach dem Beispiele all der kleinen Reichsfürsten an der Grenze Frankreichs nahm auch er französischen Militärdienst und machte als Oberst des Regiments Royal Allemand im österreichischen Erbfolgekrieg den Feldzug in Böhmen mit. Die Modesache katholisch zu werden, welche damals in fürstlichen Familien und besonders auch bei den Verwandten seiner Frau stark in Schwang war, machte er jedoch nicht mit. Ja, seine Charakterfestigkeit duldete ihn nicht länger in einem Verhältniß, das blos die Politik angerathen; so folgte er seiner Neigung, indem er, die französische Uniform ausziehend, unter die preußischen Fahnen trat und als Generalmajor mit seinem Regimente den ersten schlesischen Krieg mitfocht. Als ihn sein gut kaiserlich gesinnter Vater zurückberufen wollte, blieb er trotzdem in der Garnison Prenzlow, wo seine Gemahlin wohl bitter die rheinische Natur vermißte, aber im Verkehr mit dem großen Friedrich und dem geistreichen Prinzen Heinrich von Preußen Trost fand. Beim Ausbruch des siebenjährigen Krieges jedoch mußte der „Pirmasenzer“ dem bestimmten Befehle seines Vaters folgen und den preußischen Dienst verlassen. Denn Frankreich, der gefährliche Nachbar und Oberherr im Elsaß, stand auf Seiten der Kaiserin, und der alte Landgraf ward nachher, wie Goethe erzählt, von Kaiser Franz ja selbst an der Fichte zu Heusenstamm als „bester Freund“ begrüßt. Grollend fügte sich der Sohn, aber, ohne seinen Vater zu sehen, zog er sich mit seiner Familie nach Pirmasenz zurück, in den Schmollwinkel, den er nicht wieder verließ. Niemals, von da an, durch ein ganzes Leben hindurch, verweilte er auch nur eine Nacht in der Darmstädter Residenz, ein Umstand, dem man sehr geheimnißvolle Motive unterschob, wie wir später noch sehen werden.

Von Allem, was er im preußischen Dienste kennen gelernt hatte, machte ihm die Soldatenstadt Potsdam den imponirendsten Eindruck. Die Erinnerung daran ließ ihn nicht mehr ruhen, und während die preußischen Heere den siebenjährigen Krieg durchkämpften, schwebten dem Pirmasenzer immer nur die uniformirten Enakssöhne von Potsdam vor, die „langen Kerle“, welche unterm verstorbenen König aus allen Strichen der Windrose zusammen geworben oder gestohlen worden waren, die der alte Dessauer zu einer Riesengarde von Grenadieren abgedrillt hatte und die exact wie eine Maschine exercirten und marschirten. Der alte Dessauer und noch mehr der verstorbene Soldatenkönig Friedrich Wilhelm der Erste waren seine Ideale, die er möglichst zu erreichen strebte, – Potsdam, das aus einem ärmlichen Flecken im Sumpfe zum steinernen Soldatenlager geworden war, die Stadt nach seinem Sinne. Hatte Pirmasenz auch nicht den Ueberfluß an Wasser, wie seine märkische Schwester, so lag es doch nicht weniger ungünstig auf dem hohen Sandsteingerippe der Vogesen, und es lohnte sich ebenso wie dort, aus dem elenden Neste trotz der scheinbaren Unmöglichkeit etwas zu machen, das man ganz als seine eigene, der Ungunst der Natur abgerungene Schöpfung betrachten konnte.

Und der Pirmasenzer ging an’s Werk. Während seine Gemahlin, die Liebhaberei des Gatten beklagend, sich mit ihren Kindern wieder nach Buchsweiler zurückzog, begann er eifrigst zu werben, lange Kerle einfangen, drillen und zustutzen zu lassen, um sich eine Stadt von Grenadieren zu gründen. Kein Mittel, keine Kosten wurden gescheut, um die Colonie mit großen Leuten zu bevölkern und so im Wasgenwald wieder eine Race von Riesen heranzuziehen. Türken und Zigeuner und alle Volksstämme Europas trugen mit ihren wilden Schößlingen hierzu bei, bis zuletzt auf dem öden Rücken des Wasgaus eine ummauerte Stadt von neuntausend Einwohnern stand, in der Alles Soldat war. Den fünften Theil ihres Flächenraums nahm das weite Viereck des Exercirplatzes ein, von drei Seiten mit Casernen, auf der vierten durch Pappeln geschlossen, mit denen die Grenadiere an Wuchs und Steifigkeit wetteifern sollten. Das Exercirhaus, nach dem Petersburger das größte, ein wahres Ungethüm von einem Bau, ward im Winter durch vierundzwanzig Oefen geheizt und nahm dann ein ganzes Regiment manövrirender Grenadiere in seinem weiten Bauche auf. Auch sonst war Alles in der Stadt der Soldaten wegen da, die der Prinz wie ein Vater liebte, denen er viel Gutes that und auch durch gehörige Prügel natürliche Fürsorge bewies. Seine Grenadiere waren ihm wirklich an’s Herz gewachsen, und zu einer Zeit, wo so viele deutsche Fürsten, besonders seine Vettern zu Kassel, sich durch den Verkauf ihrer Truppen an die Engländer ein schmähliches Denkmal setzten, hielt der Pirmasenzer seine Soldaten mit ängstlicher Vorsicht in der strengbewachten Stadt unter väterlicher Obhut beisammen. Denn zu eigner Lust hatte er sich die enge Soldatenwelt geschaffen, in der er lebte und webte, und aus welcher weder er selbst, noch sonst ein Glied der wunderlichen Gemeinschaft wieder in nähere Verbindung mit der Welt draußen kommen sollte.

Schon beim Eintritt in die Stadt erinnern noch heute vor dem Landauer Thor zwei mit platzenden Bomben gekrönte Obelisken an die martialischen Schrullen des alten Pirmasenzers, wie der Landgraf bei seinen Zeitgenossen hieß. Sie wurden einem benachbarten Fürsten, dessen Besitzungen zum Theil hinter Pirmasenz lagen, zur abweisenden Warnung gesetzt, damit er sich nicht beigehen lasse, seinen Weg durch die Stadt zu nehmen. Noch lebhafter mahnt aber der außerordentlich weite Exercirplatz inmitten der sonst unregelmäßig gebauten Stadt an das kostspielige Soldatenspiel, das hier einmal geherrscht. Die großen Männergestalten, denen man begegnet, beweisen, daß die Grenadierrace noch nicht völlig degenerirt ist. Gilt doch noch heute in meiner Heimath für hochaufgeschossene Mädchen die Bezeichnung „lange Pirmasenzerin“, obgleich in jüngster Zeit die Riesinnen zu Pirmasenz etwas zusammengeschrumpft sein sollen. Uebrigens trägt auch die Kirche, in welcher der curiose Soldatenfürst 1790 begraben wurde, keinerlei religiöse Symbole, sondern über’m Portal kriegerische Trophäen, militärische Embleme: Fahnen, Trommeln, Bomben und Helme.

Um auf den „alten Pirmasenzer“ selbst wieder zurückzukommen, so überließ dieser wenig bekümmert um Das, was vor den Mauern seiner Soldatenstadt vorging, seiner trefflichen Gemahlin auch die Erziehung seiner Kinder. Um diese besser leiten zu können, war sie einige Jahre nach dem Hubertusburger Frieden von dem idyllischen Buchsweiler, das Goethe in Wahrheit und Dichtung so anziehend schildert, nach Darmstadt gezogen, wo bald darauf der alte Landgraf Ludwig der Achte im Opernhause verschied, während sein Sechsgespann von weißen Hirschen draußen wartete, um ihn nach dem Kranichstein zurückzubringen.

Landgraf war jetzt der „Pirmasenzer“. Man erwartete ihn zu Darmstadt, jedoch er konnte sich nicht von seinem lieben Soldatennest im Wasgau trennen. Da ergriff die Landgräfin Henriette mit weiser Umsicht und vorsichtiger Schonung der Eigenthümlichkeiten ihres heftigen Gemahls das Staatsruder und führte es mit demselben segensreichen Erfolge, wie die Erziehung und Versorgung ihrer Töchter. Die älteste war bereits vermählt, um die zweite warb, aus Verehrung für die Mutter, Preußens großer Friedrich für seinen Neffen und Thronfolger, die dritte ward dem nachmaligen Kaiser Paul von Rußland angetraut, und die vierte, zu Buchsweiler geborene Tochter Louise mit dem unvergeßlichen Karl August von Weimar verlobt. Dabei übte die große Landgräfin einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung unserer classischen Literaturperiode, trat durch den bekannten Kriegsrath Merk mit Herder und Goethe in Verbindung und veranstaltete sogar die erste Ausgabe der gesammelten Oden und Hymnen Klopstock’s. Schon in Buchsweiler hatte sie den blinden Fabeldichter Pfeffel vielmal freundlich empfangen und hatte auf Wieland einen Eindruck gemacht, daß dieser wünschte, sie zur „Königin Europas“ machen zu können. Dabei veranlaßte sie die Aufhebung der Tortur, und vermochte ihren widerstrebenden Gemahl dazu, die Leitung des Staatswesens dem genialen Karl Friedrich v. Moser anzuvertrauen, der Ordnung in die zerrütteten Finanzen brachte.

Unterdeß stak der Landgraf, eingesperrt und abgesperrt mit seiner Soldatenfamilie, in dem selbstgebauten Neste auf der Wasgauhöhe, exercirte und manövrirte lustig drauf los, maß und setzte die Schnurrbärte regelrecht auf und freute sich seiner Flügelmänner, die aus den längsten Bengeln der Welt zu dem steifesten Grenadieren eingedrillt, eingeschnürt, eingeschmiert und eingehauen worden waren. Sein Grenadierregiment war jetzt dreitausend Mann stark geworden, und Tag und Nacht beschäftigte er sich mit der Sorge um dasselbe, so daß er gar nicht begriff, warum dennoch so mancher, dem er alles Gute gethan und nach Noten Prügel verordnet hatte, undankbar zu entwischen suchte. Gar manche Geschichte ist darüber noch im Umlauf, und es war [523] allerdings eine Art Heldenstück, einem Orte zu entrinnen, der auf das Sorgfältigste bewacht war; denn alle dreißig Schritte stand um denselben eine Schildwache, und eine Patrouille von den Husaren der „Landgräfin“ umritt allstündlich die Stadtmauern. Der Landgraf selbst aber hielt vorsichtige Späher, während die Zeit zu Pirmasenz in monotoner Soldatenspielerei zwischen Exercitien und Paraden verstrich. Da ward dem vielbeschäftigten Soldatenvater im Wasgau eines Tages ein Schreiben eingehändigt, folgenden Inhalts:

„Theuerster und liebster Gemahl! Meine letzte Stunde naht und ich danke Gott, daß er mich nach so vielem erlebten Glücke auch noch des Glückes werth hält, sie mir anzukündigen. Das Diesseits liegt hinter mir und ich ahne die Seligkeit des Jenseits. Ich wünsche Ihnen und meinen Kindern ein frohes Leben und das größte denkbare Glück: ein ruhiges seliges Ende. Meine Schatulle wird Ihnen Baron Riedesel einhändigen. Ich weiß, daß sie in eine Hand kommt, die sich so gern als die meinige den Dürftigen öffnet. Noch einen Wunsch habe ich, den letzten für diese Welt. Lassen Sie mich mitten in der großen Baumgruppe des englischen Gartens beerdigen. Man wird dort eine Grotte finden, die außer mir nur ihrem Erbauer bekannt ist. In ihr ist die Stelle, in der ich ruhen will und die ich größtentheils mit eigener Hand zugerichtet, mit einigen Steinen bezeichnet habe. Hier, wohin ich mich von dem Geräusche des Hofes flüchtete, wo sich meine Seele mit Gott unterhielt, dem ich bald von meinem Leben, das ich mit Ihnen, mein Gemahl, theilte, Rechenschaft geben soll; hier, wo ich so oft Sie und meine Kinder dem Herrn befahl, hier, wo der Allmächtige alle meine Wünsche erhörte, hier will ich auch ruhen. Mein teuerster Gemahl und Herr, ich erwarte Sie jenseits des Grabes in einer bessern Welt. Mein letzter Hauch gehört Ihnen.“

Die große Landgräfin war noch an demselben Tage, wo sie dieses Schreiben verfaßt, am 30. März 1774 zu Darmstadt in den Armen ihrer greisen Mutter gestorben, die ihr einige Wochen später nachfolgte. Auf die gewählte Ruhestätte im Park, welche man nicht ohne Schwierigkeit auffand, setzte Friedrich der Große der hochverehrten Freundin, „der Zierde und Bewunderung unseres Jahrhunderts“, wie er schrieb, jene Urne, auf welcher man noch heute seine Grabschrift liest: Femina sexu, ingenio vir! Von Geschlecht ein Weib, dem Geiste nach ein Mann! Goethe hat sie die große Landgräfin genannt. Als solche wird die hohe Frau, welche ihres Volkes wegen in die vernachlässigten Regentenpflichten ihres Mannes eintrat, im Gedächtnisse der Nachwelt bleiben.

Der Tod der herrlichen Fürstin, der großherzigen Gattin, muß den Landgrafen tief erschüttert haben. Denn obgleich er seine Soldatencolonie auch jetzt nicht verließ, suchte er von Pirmasenz aus sein fernes Stammland doch im Geiste der Verstorbenen fortzuregieren. Er kümmerte sich etwas mehr um seines hessischen Volkes Wohl und Wehe, gab seine Zustimmung zu jener Landescommission, deren einziger Zweck war: „dem guten fleißigen Untertanen jede Gattung seiner Arbeit fruchtbarer, seine Abgaben leichter, sein ganzes Leben froher, seinen Himmel blauer, ihn stolz auf sein Vaterland, zufrieden mit sich selbst und dankbar gegen seinen Fürsten zu machen.“ Ja er ließ jene höchst merkwürdige und freimüthige „Ankündigung an’s Vaterland“ erscheinen, welche, von Moser und dem nach Darmstadt berufenen Wandsbecker Boten entworfen, die gewissenlosen Beamten im Lande anklagt und warnt, von dem Bauer Vertrauen nur verlangt, wo das Gute geschehe, und ihm das Recht einräumt, von seinem Fürsten zu fordern, daß er ihm als Vater, nicht als Herr erscheine, worauf zuletzt das Volk aufgefordert wird, der Regierung freimüthig, wie ein Freund dem andern, seine Beschwerden kund zu geben.

Das Alles hatte jedoch keine Geltung für die Pirmasenzer, die unter dem höchsteigenen persönlichen Regime des „Herrn“ und unter den Schwingungen des Corporalstocks zwar oft in großen Aengsten saßen, sich jedoch eben nicht unglücklich fühlten. Ihr Staat war der Landgraf, sein Wille Gesetz, sein Gutdünken ihre Vorsehung. Ihm verdankte die Stadt ihre Existenz, der Bewohner seine Heimath, Wohnung, Nahrung, Hausstand, – denn er verheirathete ja auch seine Pirmasenzer nach seinem Geschmack, und ihretwegen war jetzt eigentlich das übrige Land da. So verlautete in Pirmasenz nichts von Beschwerden, wenn gleich Niemand ohne des „Herrn“ Erlaubniß auch nur den Fuß vor die Stadt setzen durfte. Anders dachten freilich die Hessen-Darmstädter, die sich in ihren unsichtbaren Landgrafen weniger zu finden vermochten. Zwar wollte man seinen guten Willen, Gerechtigkeitssinn, Fleiß und knappen Haushalt gelten lassen. Auch tröstete ein vergleichender Blick nach Hessen-Kassel, wo die Landeskinder zu Tausenden in die Fremde verkauft wurden, nach Kurpfalz, wo Beamtenfeilheit und Religionsdruck schwer auf dem Volke lastete, nach Zweibrücken, wo fürstliche Verschwendung im Schweiße der Untertanen badete, ein Feenschloß für vierzehn Millionen Gulden auf kahler Berghöhe hervorzauberte und in wüsten Treibjagden die ländliche Sittlichkeit untergrub. Dennoch empfand man schwer, daß der Landgraf auch nach dem Tode seiner Gemahlin nicht nach Darmstadt zurückkehrte, sich niemals dem Volke zeigte, die Regentenpflichten, wenn nicht ganz versäumte, so doch schrullenhaftem Soldatenspiel nachstellte und eigensinnig in dem entfernten Winkel einer entlegenen Enclave verharrte, wohin jährlich viermalhunderttausend Gulden ohne Wiederkehr, nutzlos für das Land und den Fürsten, spurlos in den Mäulern und Riesenleibern seiner gefräßigen, durstigen, tabakrauchenden Grenadiere verschwänden, da er auch an sich selbst sparte, um Alles an seine langen, uniformirten Tagediebe zu hängen.

Als man sich endlich darein ergab, den Landgrafen nicht wieder im Schlosse seiner Väter einziehen zu sehen, weil er eine geheimnißvolle Scheu vor demselben zeigte, erwartete man, daß er die Regierung an den Erbprinzen abtreten werde, welcher die Hoffnung des Landes war und seinem Vater vollen Spielraum in dessen Soldatencolonie gelassen haben würde. Vergeblich. Die Jahre gingen hin, die Zeit ward eine andere, der alte Fritz von Preußen starb, des Landgrafen Tochter ward preußische Königin, am Hofe seiner andern Tochter zu Weimar entwickelte sich die geistige Blüthe der Wiedergeburt Deutschlands. Aber der „alte Pirmasenzer“ lebte in seiner Weise ruhig fort und ließ exerciren, schießen und trommeln, daß die Wasgaufelsen wackelten.

Die große Welt ward freilich davon gar nichts inne oder kümmerte sich, weil von wichtigeren Interessen bewegt, nicht um das Treiben dahinten. Die literarische Bewegung der Geister, der Befreiungskampf der Nordamerikaner und die sturmverkündende politische Regung in Frankreich beschäftigte die Aufmerksamkeit. Der alte Dessauer und der Potsdamer Soldatenkönig waren verschollene Todte, ihr Ruhm antiquirt, ihr groteskes Thun und Soldatenspiel halb vergessene Curiositäten einer vergangenen Zeit, – und in Berlin liefen die Straßenjungen nach, wenn sich noch als antiquarische Rarität ein langer, hagerer, ausgetrockneter „Friedrich-Wilhelms-Officier“ sehen ließ. Da erschien bei Beginn der französischen Revolution in dem „Journal von und für Deutschland“ der Bericht eines Wanderers, dem es 1789 eingefallen war, jenen Winkel im Wasgau zu besuchen, wohin sonst selten der Zufall Jemanden geführt. Mit lächelndem Erstaunen las man die Schilderung eines förmlichen Soldatenlagers nach dem alten Potsdamer Muster, wo solches Wenige vermuthet hatten: auf den Vogesen an der Grenze Frankreichs.

„Hier bin ich wie in eine ganz neue Welt versetzt,“ beginnt der Berichterstatter sein Bild, „unter eine zahlreiche Colonie von Bürgern und Soldaten, die kein Reisender auf so ödem und undankbarem Boden suchen würde. Alles um mich her wimmelt von Uniformen, blinkt von Gewehren und tönt von kriegerischer Musik. Hier, wo ehemals nichts als Wald und Sandwüste war, wo ein einsames Jagdhaus blos zum Aufenthalte einiger Förster diente und die ganze Gegend umher von Niemandem als Räuberhorden besucht wurde, da legte der regierende Fürst von Hessen-Darmstadt mancherlei Wohnungen an, pflanzte Einwohner darein, versetzte den Kern seiner Kriegsvölker dahin und erkor sich den entlegenen Ort zu seinem Aufenthalt. Eine solche Wahl und einen solchen Entschluß kann nur eine ganz besondere Stimmung des Gemüths und eine ungewöhnliche Richtung des Charakters bei diesem Fürsten erregt haben, da er sich dadurch von seinem Lande ganz losriß, den Augen seiner Unterthanen gänzlich entzog und blos sich selbst, seinen wenigen Gesellschaften und seiner Lieblingsneigung, dem Soldatenwesen, lebt … Ohne dieses wäre Pirmasenz ein elender Ort, da kaum eine ordentliche Straße durch diesen Winkel des Wasgaus zieht. Der Landgraf wohnt in einem wohlgebauten Hause, das man weder Schloß noch Palais nennen kann und das, genau genommen, nur aus einem Geschoß besteht. Nahe bei [524] demselben, nur etwas höher, liegt das Exercirhaus. Hierin exercirt der Fürst täglich sein ansehnliches Grenadierregiment. Schönere und wohlgeübtere Leute wird man schwerlich beisammen sehen. Aber sie kosten dem Landgrafen auch ansehnliche Summen; denn es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Mann sich des Tages bis zu einem Gulden steht. Allerlei Volk von mancherlei Zungen und Nationen trifft man da, die nun freilich in der Länge nicht so zusammenbleiben würden, wenn sie nicht immer in der Stadt eingesperrt wären und Tag und Nacht von den umherreitenden Husaren beobachtet werden müßten.“

Von dem Treiben in dieser seltsamen Colonie giebt dann der Beobachter eine schnurrige Schilderung. „Soeben,“ schreibt er, „komme ich aus dem Exercirhaus von der eigentlichen Wachtparade, ganz parfümirt von den Fett- und Oeldünsten der Schuhe, des Lederwerks und der eingeschmierten Haare und von dem allgemeinen Tabakrauchen der Soldaten vor dem Anfange der Parade. Wie ich eintrat, kam mir ein Qualm und ein Dampf entgegen, der so lange meine Sinne betäubte und mich die Gegenstände kaum unterscheiden ließ, bis meine Augen und Nase sich endlich an die mancherlei Dämpfe und widrigen Dünste einigermaßen gewöhnt hatten. Wer Liebhaber von wohlgeübten, aufgeputzten und schön gewachsenen Soldaten ist, wird für all das Widrige entschädigt. So wie das Regiment aufmarschirt und seine Fronte durch das ganze Haus ausdehnt, erblickt man von einem Flügel zu dem andern eine sehr gerade Linie, in welcher man sogar von der Spitze des Fußes bis an die Spitze des aufgesetzten Bajonnets kaum eine vor- oder rückwärtsgehende Krümmung wahrnimmt. Durch alle Glieder erscheint diese pünktliche Richtung, und sie wird weder durch die häufigen Handgriffe noch durch die vielfältigen Körperbewegungen verschoben. Die Schwenkungen und Manövers geschehen mit einer außerordentlichen Schnelligkeit und Pünktlichkeit; man glaubt eine Maschine zu sehen, die durch Räder- und Triebwerke bewegt und regiert wird. Man soll sogar öfters das ganze Regiment im Finstern exercirt und in den verschiedenen Tempi keinen einzigen Fehler bemerkt haben!“

Das war nun ein Triumph, der dem alten Pirmasenzer nach vierunddreißigjährigem Abhetzen und Ausharren in der Atmosphäre des Exercirhauses wohl zu gönnen war. Mit Stolz sog er denn auch ein, was ihm darüber die fremden Officiere Schmeichelhaftes sagten, welche zu der Hauptrevue an seinem Namensfeste aus Frankreich, Kurpfalz, Zweibrücken, Baden und Hessen herzuströmten. Die Erscheinung des Landgrafen mochte dann einen besondern Genuß gewähren, wenn man die Schilderung des angeführten Berichterstatters sich vergegenwärtigt.

„Den Landgrafen,“ fährt er nämlich fort, „habe ich hierbei in aller Thätigkeit gesehen. Mit spähendem Blick befand er sich bald auf dem rechten, bald auf dem linken Flügel, bald vor denn Centrum, bald in den hinteren Gliedern; Alles war geschäftig an ihm, und er scheint mit Leib und Seele Soldat zu sein. Doch läßt er hierbei keinen fremden Zuschauer aus den Augen; es wurde sogleich bei Anfang der Parade ein Officier an mich geschickt, der sich nach meinem Namen erkundigen sollte, und nach einiger Zeit hatte ich die Ehre, den Herrn Landgrafen selbst zu sprechen, wobei er sich in den höflichsten und gefälligsten Ausdrücken mit mir unterhielt. In seinem Hause und in seinen Appartemens erblickt man wenig Pracht; man glaubt bei einem campirenden General im Felde zu sein; überall leuchtet die Lieblingsneigung des Fürsten hervor.“

So erschien das Bild der wunderlichen Soldatenstadt und ihres originellen Gründers einem zeitgenössischen Fremden. Vervollständigen wir dasselbe durch die Erzählung eines Einheimischen, der meinem Interesse für die Geschichte und Entwickelung seiner Vaterstadt mit den nachfolgenden handschriftlichen Nachrichten entgegen kam. Er beginnt mit einer charakteristischen Geschichte aus der Hauschronik seiner eigenen Familie, die nicht eben zu den spannendsten gehört, welche aus jener Glanzzeit von Pirmasenz erzählt werden, immerhin jedoch das Leben in der merkwürdigen Stadt jenes wunderlichen Fürsten treu abspiegelt.

[537] „Da hängt vor mir das Bild meiner Großmutter,“ schreibt mein wackerer Gewährsmann. „Die liebe alte Frau in der blüthenweißen gestreiften Nebelkappe, die ihr einziger Luxusartikel war, mit dem alten Schmolke in den Händen, der sie durch so manche Trübsal der Pirmasenzer Nothjahre treu begleitet hatte und deshalb trotz der soliden Messingbeschläge sein hohes Alter ebensowenig verleugnen konnte, als die achtzigjährige Matrone selbst. Dieses theure Bild, das mir die liebe Aeltermutter so lebhaft vor [538] die Augen und die Seele stellt, weckt auch die Erinnerung an die Zeit des alten Regimes, wo es auch in Pirmasenz hieß: ‚L’etat c’est moi!‘ Das Wort fand unter Landgraf Ludwig dem Neunten hier seine volle Anwendung und weitere Erläuterungen in des ‚seligen Herrn‘ Schlag und Lieblingswort: ‚Coûte qui coûte, je le veux absolument!‘ (Koste es was es will, ich will es um jeden Preis haben!) Er war jedoch zu originell, als daß ihm eine nachgebetete welsche Phrase genügt hätte. Für seine lieben Pirmasenzer hatte er noch einen andern Kraft- und Kernspruch, mit welchem er seinem absolutistischen Princip Eingang verschaffte: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel!‘ Das war sein Refrain, das die letzte und höchste Instanz, das entschied über Glück und Unglück, Leben und Tod, Gut und Blut, Karren und Spießruthen und was sonst noch das arme Menschenherz bewegt, soweit in einer Militärcolonie des achtzehnten Jahrhunderts, wo der Mensch Soldat und der Soldat Puppe war, vom Herzen überhaupt die Rede sein konnte. Doch, meine Geschichte läßt gerade das Gegentheil vermuthen.

„Als nämlich meine liebe Großmutter sechszehn Frühlinge zählte – Pirmasenzer Frühlinge, denn von unsers Herrgotts Lenz außerhalb der Stadtmauer wußte man damals in der Residenz Ludwig’s des Neunten sehr wenig –, da schlug auch ihr Herz in Liebe und Sehnsucht, denn sie war die glückliche Braut eines Müllerssohnes aus der Nähe. Sie gab somit das Beispiel, daß auch in der Stadt der Grenadiere, wo der Schnurrbart und Zopf, wie der Werth des Menschen, nur nach Zoll und Linien bemessen wurde, sich doch die Natur nicht ganz unterdrücken lasse. Bald jedoch sollte sie in Schmerz und Leid inne werden, daß unter dem väterlichen Regiment des ‚Herrn‘ nur eine Liebe das Recht hatte, sich geltend zu machen: die zum Kalbfell. Seit der Confirmation des Mädchens war ein junger Soldat täglich in’s Haus gekommen, ohne jedoch irgend welche Absicht merken zu lassen. Er mochte wohl meinen, bei sechszehn Jahren habe die Sache noch keine Eile. Als aber der junge Müller erschien, da mochte der stumme militärische Anbeter denken, der Weizen sei nun reif zur Ernte, brauche aber deshalb nicht gerade in die Mühle zu kommen. Kurz, der Soldat ging zum General, der General ging zum ‚Herrn‘, und der ‚Herr‘ sprach: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel! Coûte qui coûte, je le veux absolument!

„Eines schönen Morgens werden dem Vater, der Mutter und der bräutlichen Tochter die Pässe abgefordert. Ohne einen solchen Paß durfte in Pirmasenz Niemand vor das Thor. An eine heimliche Entfernung war in der wohlbewachten Stadt für die besorgten Eltern und ihr Kind nicht zu denken, und was weiter kam, läßt sich vermuthen. Der ‚Herr‘ hielt nach wie vor seine Parade ab und schlug an den Fensterscheiben seine selbst componirten Märsche dazu – was wußte er von einem gebrochenen Herzen! Der General maß nach wie vor die regelrecht aufgesetzten gewichsten Schnurrbärte – in seinem Reglement stand auch nichts vom Herzen. Dem Elternhause meiner Großmutter gegenüber stand eine der großen Casernen, und was die bedrängte Braut da fast täglich sehen konnte, war ganz geeignet, einem jungen Mädchen von damals die romantischen Grillen zu vertreiben, wenn sie ja daran gedacht, mit Mutter und Vater der Soldatenstadt und dem Machtbereiche des Landgrafen zu entfliehen und sich der früheren Heimath zuzuwenden. Denn das Spießruthenlaufen, das im Casernenhofe stattfand, war ein Radicalmittel gegen das Heimweh.

„Wenn nämlich einen armen Burschen die Lust anwandelte, ohne Paß und Urlaub nach den Seinigen zu sehen, nachdem er vielleicht in seinem sechszehnten oder siebenzehnten Jahre aus der Scheuer und Bodenkammer seines Vaters in der Wetterau, am Vogelsberge oder sonst anderswo hergeholt worden war; wenn er dabei, um die Thorwache nicht zu belästigen, sich die undankbare Mühe gegeben hatte, einen Abzugsgraben zu benützen, und, ohne Weg und Steg zu kennen, einem gewinnsüchtigen Bauern in die Hände fiel, der des Fanggelds wegen den Armen einlieferte: dann verschrieb dem heimwehkranken armen Tropfe der Doctor ein Recept, dessen Apotheker der Profos war. Der hatte in seinem Laboratorium allzeitig einige Schock frische, eingeweichte Weidenruthen. Baumlange Riesen bildeten eine Allee, welche die schlechteste Perspective von der Welt zeigte. Zwischen den Bajonnetspitzen zweier Grenadiere mußte der arme Sträfling mit entblößtem Rücken so und so viel Mal hin- und herlaufen, und wehe dem, der etwa aus Mitleid seine Ruthe mit dem Daumen eingebogen oder nicht nach Vorschrift tüchtig ausgezogen hätte. Es konnte ihn leicht in dieselbe Gasse bringen. Wenn nun ein solcher Delinquent mit zerfleischtem Rücken in das Haus meiner Urgroßeltern herübergebracht, mit frisch ausgelassener Butter eingerieben wurde und dabei bis an die Decke sprang, geschah dies wohl schwerlich aus Vergnügen.

„Im Angesichte solcher Scenen mag es einem jungen Mädchen nicht zu verübeln gewesen sein, wenn sie ihren Eltern kein Wagniß zumuthete und sich dem allergnädigsten Willen ihres Landesvaters gehorsamst fügte. Die Ehe meiner lieben Großeltern scheint aber doch im Himmel geschlossen worden zu sein, denn sie war eine friedliche und glückliche. Der Respect der jungen Frau vor ihrem octroyirten Eheherrn war so groß, daß sie ihn im ersten Jahre ihrer Verbindung nur per ‚Er‘ anredete, was übrigens in der guten alten Zeit nichts Seltenes war.

„Aus dem Gesagten möchte vielleicht Mancher schließen, das Regiment des seligen Herrn sei ein sehr strenges gewesen. Dieser Schluß wäre ein falscher. Der selige Herr war in der That ein guter Herr, der Absolutismus und das Spießruthenlaufen an der Zeit. Seine Casse war allzeit in gutem Stande, seine Hofhaltung einfach, jedoch nicht knickerisch, so daß viele Familien aus seiner Küche lebten, und z. B. ihren guten Theil von den in Asche gebratenen Kartoffeln erhielten, deren er täglich zu verzehren gewohnt war. Den Künsten war er nicht abhold, und man findet noch manches treffliche Portrait aus seiner Zeit von dem Hofmaler Etienne. Freimüthige Aeußerungen, soldatische Geradheit liebte er und war kein Freund von Kriecherei, wenn er auch im Dienst pedantisch strengen Gehorsam forderte. Bei allem Eigensinn, bei aller aufbrausenden Heftigkeit und mißtrauischen Eifersucht auf seine Schöpfung und die Leistungen seiner Grenadiere, war er dennoch ein zwar schnurriger, aber herzensguter und gerechter alter Herr, ohne sonstige verderbliche Vorurtheile und Leidenschaften und von großer religiöser Toleranz, – so lange all diese guten Eigenschaften eben nicht mit seiner Schwäche für das Soldatenwesen in Widerstreit geriethen. Geschah dieses, so gab es keine weiteren Rücksichten für ihn, und er schritt über jedes Hinderniß eigenwillig hinweg in der Richtung, nach welcher alle seine Passionen gingen, wovon Manches zu erzählen wäre.

„Halbe Tage lang trieb er sich unermüdlich, mit wackelndem Zopfe und rasselnden Sporen auf dem Exercirplatze umher und war wie der Satan hinter den Evolutionen seiner Grenadiere her. Waren die Wachtparade und Exercitien zu Ende, so vergnügte er sich an seinen in Pappe ausgeschnitzten Soldaten, mit denen er auf einer großen Tafel im Schlosse Manöver anstellte. Dann ging es wohl noch im Exercirhaus los, wo gewöhnlich ein gewaltiges Rumoren stattfand. Das Treiben in demselben hätte beinahe einmal ein rasches und unerwartetes Ende gefunden. Einer der Heizer, welcher die vierundzwanzig Oefen des Exercirhauses mit zu besorgen hatte, fand das Eisen des Hängewerks unterm Dache so werthvoll, daß er einen großen Theil desselben entwendete und verkaufte. Der ganze kolossale Bau konnte so eines Tages dem Landgrafen und seinem Heere überm Kopfe zusammenfallen. Doch der Frevel wurde rechtzeitig entdeckt, der Kerl zum Strang verurtheilt. Nun war jedoch der Landgraf willens, ihn zu begnadigen. Da aber der Feldprediger seine Frage, ob ein Dieb nach der Schrift den Tod verdiene, kurzweg bejahte, so hieß es: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel, der Kerl muß hängen.‘“

So mein Pirmasenzer Gewährsmann. Weniger pietätvoll ergingen sich die Zeitgenossen, die dem Landgrafen aufbrachten, er drehe die Zöpfe, wickle, messe die Schnurrbärte und setze sie seinen Grenadieren selbst auf. Am meisten wunderte man sich über den wunderlichen Landgrafen, daß er sich sein ganzes Leben lang am schlechtesten Orte seines sonst so schönen Landes in der unaussprechlichen Atmosphäre seines Exercirhauses bei uniformirten Riesen wohlfühlte und zuletzt hatte denn diese Abneigung gegen die Hauptstadt des Landes, dieses Fernbleiben vom Schlosse seiner Ahnen, diese fortwährende Unsichtbarkeit wirklich etwas Mysteriöses, das die Phantasie reizte und den „alten Pirmasenzer“, trotz aller Beschwerden gegen ihn, zur volksthümlichen Figur machte, an welche sich Sagen und Märchen knüpften.

Schon Campe, der 1785 auf der Reise nach der Schweiz durch Darmstadt kam, hörte hier als Ursache der beklagenswerthen [539] langjährigen Abwesenheit des Landgrafen die Klage, daß dieser, „durch schreckhafte Eindrücke in der Kindheit verwöhnt, das große Schloß zu Darmstadt bei Nachtzeit zu graulich gefunden habe.“ Es ist dies nämlich eine der Geisterresidenzen der weißen Frau, die hier auch als Hüterin des vergrabenen Schatzes eines Baumeisters auftritt, welcher vor der Vollendung des Schlosses die Flucht ergriffen habe. Da soll nun des Landgrafen Vater, Ludwig der Achte, zu Protokoll gegeben und beschworen haben, daß der Geist ihm den Schatz gezeigt, jedoch bedeutet habe, erst sein Sohn könne denselben heben. Auf unsern Pirmasenzer als ihren Erlöser und Heber des Schatzes berief sich die Erscheinung mit großer Beharrlichkeit immer wieder. War es ihm geglückt und hatte er mit dem gewonnenen Schatze sein Pirmasenz geschaffen, oder fürchtete er sich vor der Rolle, zu welcher ihn die weiße Frau berufen hielt? Die Volkstradition in Darmstadt scheint Letzteres annehmen zu wollen, denn sie behauptet: ihm habe des Vaters Entschlossenheit, dem Geiste zu folgen, gefehlt, und da er von den Erscheinungen gewußt, habe er niemals eine Nacht im Darmstädter Schlosse zubringen wollen, sondern in Pirmasenz seinen Wohnsitz aufgeschlagen. – Was an dieser Begründung einer schwer empfundenen Idiosynkrasie Wahres sein mag, bleibe dahingestellt. Mein Pirmasenzer Gewährsmann theilt mir eine beglaubigte Anekdote mit, welche den Landgrafen in ganz anderem, helleren Lichte erscheinen läßt.

Als das einfache Schloß zu Pirmasenz fertig war, stellte sich auch bald die Ahnfrau der Landgrafen dort ein. Das Gerücht, daß sich Abends in den Corridoren die weiße Frau sehen lasse, war bald allgemein. Wachen hatten beobachtet, wie sie den Gang entlang schwebte, Lakaien schworen darauf, daß sie im Schlosse spuke. Auch dem Landgrafen kam die Sache zu Ohren, und er nahm sie schweigend hin. Nach einiger Zeit jedoch äußerte er bei der Tafel, daß er nun auch Gelegenheit gehabt habe, die weiße Dame zu sehen, und erbot sich zugleich, den Geist seinen Kammerherren und Höflingen zu zeigen. Zu dem Ende wurden diese von dem Landgrafen für den Abend eingeladen. Nachdem Alle versammelt waren, führte er sie mit geheimnißvoll schauriger Miene auf den langen Corridor und deutete nach dem entgegengesetzten Ende desselben, indem er Jeden einzeln herbeiwinkte.

„Sehen Sie? Sehen Sie?!“

„Ja, Eure Durchlaucht, ja!“ war die Antwort.

So hatte Jeder zugegeben, den Geist genau gesehen zu haben, den ihnen ihr Herr gezeigt, bis dieser auch zu dem alten stotternden Hauptmanne Menert kam. Der sprach trocken:

„Durchlaucht, isch kann nischt sehen! Isch kann immer nischt sehen!“

Drauf klopfte ihm der Landgraf[1] auf die Schulter und sagte:

„Ich auch nicht, lieber Menert. Diese Herren sind lauter Jabrüder!“

Seitdem ließ sich die weiße Frau im Schlosse zu Pirmasenz nicht wieder sehen. Entweder war sie damit von Landgraf Ludwig dem Neunten wirklich erlöst, oder sie hatte ihren Zweck erreicht an dem Orte, wo die Dinge rasch ihrem Ende entgegenreiften.

Die Vorgänge im benachbarten Frankreich machten dem alten Herrn, der eben noch den Beginn der neuen Epoche erlebte, mancherlei Beklemmungen und er war scharfsichtig genug, eine weitergehende Bedeutung in ihnen zu finden.

„Da kochen sie jetzt in Frankreich eine Suppe, die ich nicht mitessen möchte,“ pflegte er zu seiner Umgebung zu äußern.

Der Tod meinte es gut mit dem alten Herrn und löste ihn im April 1790 von der Wache dieses Lebens ab. Wäre er von den nachsetzenden französischen Chasseurs aus seiner lieben, selbstgebauten Residenz verjagt worden, wie sein Nachbar, Herzog Karl von Zweibrücken, und hätten die Neufranken seinen Grenadieren die Zöpfe abgeschnitten, so würde ihm das Herz darüber gebrochen sein, geschweige denn, daß er die Empörung seiner Dörfer südlich von Pirmasenz, welche sich vor allen anderen der französische Republik anschlossen, und dann die Noth seiner Soldatenstadt hätte überleben können.

Zu der heißen Revolutionssuppe wurde also Ludwig der Neunte nicht mehr geladen, aber seine verwaisten Pirmasenzer mußten sie mitessen. Die Residenz der Landgrafen war wieder nach Darmstadt verlegt, während in den Aemtern des Elsasses die Revolution ihren Fortgang nahm und die landgräflichen Wappen entfernt wurden. Jetzt setzten auch die Gebirgsbauern südlich von Pirmasenz Freiheitsbäume, steckten die dreifarbigen Cocarden auf, theilten sich in das Holz der Forste und kamen vierhundert Mann stark nach Pirmasenz, wo sie unter mancherlei Gewaltthaten ebenfalls den Freiheitsbaum aufpflanzten. Das waren aber nur die Anfänge der Leiden, welche die unglückliche Stadt treffen sollten. Nach vorübergehendem Erfolg der Preußen kamen die Franzosen wieder, Plünderung auf Plünderung folgte, und man muß den Bericht des Volksrepräsentanten Becker in den Acten des Convents nachlesen, um einen Begriff von den Drangsalen zu erhalten, die Pirmasenz mit seinen pfälzischen Schwesterstädten von der Ausleerungscommission zu Landau erduldete.

Es lag in den Verhältnissen, daß der Krieg Pirmasenz härter mitnahm als jede andere Stadt, denn sobald der Born ihres Glückes und Glanzes mit dem Leben des Landgrafen versiecht war, versagten all die seitherigen Hülfsquellen, da sie keine in sich selber hatte. Sie mußte ihre gleichsam unmotivirte Existenz jetzt schwer büßen, wenn nicht gar einbüßen. Nicht gestählt durch anstrengende Arbeit mußten die verwöhnten Schoßkinder fürstlicher Laune durch den jähen Wechsel von unverdientem Glücke zu unverdientem, tiefstem Elende gelähmt und betäubt werden, aller Kraft ermangeln, der hereinbrechenden Noth zu steuern. Die Hälfte der Bevölkerung stob noch schneller davon, als sie gekommen war. Die Zurückgebliebenen schleppten ihre großen Grenadierleiber hungernd in den verödete Straßen umher, wo das Schloß und das Exercirhaus abgebrochen worden waren, während auf dem Exercirplatze die Gänse weideten, wie noch heute. Und dann vollendete das Hungerjahr 1817 das Elend. Um jene Zeit sandte die heruntergekommene Landgrafenstadt so viel bettelndes und vagabundirendes Gesindel über die Pfalz aus, daß Pirmasenz in den übelsten Ruf kam. „Pirmasenzer“ war ein Schmähwort geworden, wie es heute noch der Name „Matzenberger“ aus ähnlichen Gründen ist, da das weithin auf einer Berghöhe zerstreute Dorf Matzen- oder Carlsberg eben auch eine unglückliche Schöpfung des vorigen Jahrhunderts und zwar die eines Leininger Grafen ist.

Aber heute ist „Pirmasenzer“ kein Schimpfwort mehr, und das ist das alleinige und ureigene Verdienst der Bevölkerung selbst. Nach einem schweren, harten Verzweiflungskampfe um’s Dasein ist es ihr, auch ohne die natürlichen Hülfsquellen anderer Städte und heute noch fern von jeder Bahnlinie, dennoch gelungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Im Laufe eines halben Jahrhunderts haben die Pirmasenzer nicht blos einen sterilen in einen wohlbebauten ergiebigen Boden verwandelt, sondern sich auch industriell reichlich fließende Nahrungsquellen eröffnet und eine Existenz geschaffen, die nicht mehr von der Gunst eines Einzelnen abhängt und die Stadt hinter keiner ihrer Schwesterstädte mehr zurückstehen läßt.

Jedermann kennt die Pirmasenzer Schuhe. Der Handel mit ihnen begann etwa im Jahre 1809 oder 1810 auf Anregung eines gewissen Joß, der später nach Straßburg übersiedelte. Er hatte einige Schuhpaare fertig und konnte sie in der heruntergekommenen Vaterstadt nicht verwerthen. So schickte der Arme denn seine Frau mit denselben in die preußische Rheinprovinz, und als sie bald mit schönem Gelde zurückkehrte, wurde der Handel auch ferner und etwas eifriger betrieben. Nun griffen auch andere Schuhmacher die Sache auf, bezogen die Messen zu Mannheim, Frankfurt am Main, Darmstadt, Karlsruhe, Heidelberg und hatten schönen Erlös. Sobald der Handel ein wenig im Gange war, ersahen auch Andere, die nicht des ehrsamen Handwerkes waren, den Vortheil und ließen Schuhe in den Häusern machen. An arbeitenden Kräften fehlte es nicht, die Kunst war leicht und schnell erlernt, und so gab es im Anfange der zwanziger Jahre schon eine Menge Schuhmacher in der Stadt. Das Geschäft wurde nicht fabrikmäßig, sondern von einzelnen Meistern, welche die zugeschnittenen Schuhe in die Häuser gaben, betrieben. Darauf gründeten sich nun allerlei neue Nahrungszweige. Die Einen nähten, Andere bändelten die Schuhe ein, wieder Andere trugen sie auf die Jahrmärkte, während der Ausverkauf ebenfalls durch eigene Händlerinnen besorgt wurde. Damals fielen schon auf allen Messen am Rhein die lebhaft dreinblickenden, sonnverbrannten oder sommersprossigen Pirmasenzer Schuhmädchen durch ihre schlanken, hohen Gestalten auf, wie denn auch der Kleinhandel meist heute noch in weiblichen Händen liegt.

Es kann hier nicht der Ort sein, die Entwicklung des Pirmasenzer Schuhhandels, wie er sich allmählich über die großen baierischen [540] und Schweizer Märkte, über Warschau, Kopenhagen, Amsterdam, Petersburg, Stockholm und Edinburgh ausdehnte, zu schildern. Im Laufe der fünfziger Jahre trugen die Pirmasenzer ihre Schuhe auch über den Ocean und knüpften Handelsverbindungen mit den atlantischen Städten sowohl als mit den Emporien des Mississippi und der Seen an. Gewöhnlich gingen dabei Sendungen von je tausend Dutzend über’s Wasser, bis auch die Damen der Hinterwälder immer lieber ihre Füße mit dem bieg- und schmiegsamen Pirmasenzer Fabrikat bekleideten. Denn dieses sind keine unverwüstlichen Bergschuhe oder Jagdstiefel, sondern leichte Waare für Parquet und Estrich, Haus und Hof: Damenstiefel, Morgenschuhe, Pantoffel für trockene Witterung und zarte Füße und in aller Welt ob ihrer Eleganz und Preiswürdigkeit beliebt.

Daneben fordert aber heute auch noch der Pirmasenzer Bilderhandel alle Beachtung, d. h. das Hausiren mit jenen lithographischen Erzeugnissen des Herrn „Wentzel de Wissembourg“, welche sich heute in den katholischen Alpenländern allüberall eingenistet und schon unserm Ludwig Steub im bairischen Hochlande ästhetisches Grauen erregt haben. Auch der Orgelleute und der „Morithatenmänner“, der Herren Schartenmaier u. Comp., dürfen wir nicht vergessen. Es ist wahrscheinlich, daß der Orgelmann, welcher von Gerstäcker in Chili getroffen worden, ein Pirmasenzer war, wenn er nicht ein Matzenberger gewesen sein sollte.

So sind die Pirmasenzer, welche unter ihrem Landgrafen von aller Welt abgeschlossen der Soldatenspielerei lebten, ein flügges Völkchen geworden, das die halbe Welt durchwandert. Die Nachkommen der Grenadiere des alten Pirmasenzers handeln mit Pantoffeln, Bildern und „Morithaten“ und befinden sich nicht übel dabei. Bei sparsamem Leben draußen kommen sie mit ihren Errungenschaften zu flottem Leben in die Vaterstadt auf den Vogesen zurück, erzählen bei Bier und Wein von ihren Erlebnissen in den großen Städten draußen, und bei den häufigen Tanzbelustigungen, welche den Pirmasenzer Schustern zum Bedürfniß geworden sind, treten dann Paare in die Reihe, die, eben erst von den zwei entgegengesehen Enden Europas kommend, sich hier jubelnd begrüßen. Wie lebhaft dann die Unterhaltung geführt wird, mag der ermessen, der je ein Pirmasenzer Stadtkind „auf dem Handel“ schwatzen hörte und also einen Begriff davon hat, was der Mund auch außer dem Essen und Trinken noch zu leisten vermag.

So wechseln jetzt in derselben Stadt, wo einst eine abgesperrte [541] Soldatencolonie in der Einförmigkeit des Gamaschendienstes eine langweilige, unnütze, ja gemeinschädliche Existenz führte, Arbeit und Lohn, Handel und Wandel, Anstrengung und heiterer Lebensgenuß in natürlicher und gedeihlicher Weise. Man gedenkt wohl noch der Landgrafenzeit, aber Niemand sehnt sie zurück. Eigenes Verdienst giebt der Stadt eine ruhige Sicherheit für die Gegenwart und Vertrauen in die Zukunft, und solchen Gesinnungen gehört auch die Zukunft. Zum Schlusse können wir nichts Besseres anregen, als den alten Spruch, der für die Stätten des Fleißes, also auch für Pirmasenz gilt:

An allem Ort und Ende
Soll der gesegnet sein,
Den Arbeit seiner Hände
Ernähret still und fein.

A. B. 


  1. Vorlage: „Laudgraf“