Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das Oger-Reich
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 217–224
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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[217]
75. Das Oger-Reich

In Annam lebte ein Mann namens Sü, der fuhr als Kaufmann über das Meer. Plötzlich wurde er von einem großen Sturme an eine ferne Küste verschlagen. Zerklüftete Berge erhoben sich, von üppigem Grün bewachsen. Doch sah er auf dem Lande etwas, das Menschenwohnungen glich. So nahm er denn Wegzehrung zu sich und stieg ans Ufer. Kaum war er ins Gebirge eingetreten, so sah er auf beiden Seiten die Öffnungen von Höhlen, dicht gereiht wie Bienenkörbe. Er blieb stehen und sah in eines der Löcher hinein. Da waren zwei Oger darin, die hatten Zähne wie Speere. Ihre Augen glichen feurigen Lampen. Mit den Krallen zerrissen sie einen rohen Hirsch und fraßen ihn auf. Er erschrak bei diesem Anblick aufs äußerste und wollte entfliehen; aber die Oger hatten ihn schon erblickt, fingen ihn ein und nahmen ihn mit sich in ihre Höhle. Die beiden Wesen redeten miteinander in tierischen Lauten. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib und wollten ihn auffressen. Da nahm er eiligst aus seinem Sack Brot und Dörrfleisch hervor und bot es ihnen dar. Sie teilten es, aßen es auf, und es schien ihnen zu schmecken. Sie durchsuchten abermals seinen Sack; er aber winkte mit der Hand, um ihnen anzudeuten, daß er nichts mehr habe.

Dann sprach er: „Laßt mich los! Ich habe in meinem Schiffe Pfannen und Töpfe, Essig und Würzen. Damit kann ich euch Speisen kochen.“

Die Oger aber verstanden nicht, was er sagte, und waren immer noch böse. Da suchte er sich durch Zeichen mit der Hand verständlich zu machen, und schließlich schienen sie ein wenig zu verstehen. Er ging mit ihnen ans Schiff, holte sein Kochgeschirr in die Höhle, sammelte Reisig, zündete ein Feuer an und kochte die Überreste [218] des Hirsches. Als es gar war, gab er ihnen davon zu essen. Die beiden Wesen fraßen mit großem Behagen. Darauf gingen sie zur Höhle hinaus und verschlossen die Öffnung mit einem großen Felsblock. In kurzer Zeit kamen sie wieder und hatten noch einen Hirsch gefangen. Der Kaufmann häutete ihn, holte frisches Wasser, wusch das Fleisch und kochte davon einige Kessel voll. Plötzlich kam eine ganze Herde von Ogern herbei, die fraßen das Gekochte auf. Darüber wurden sie recht munter. Alle deuteten auf den Kessel, der ihnen zu klein zu sein schien. Nach drei, vier Tagen brachte einer der Oger einen großen Kessel auf dem Rücken herbeigeschleppt, der von nun an immer benützt wurde.

Jetzt drängten sich die Oger um den Kaufmann, brachten Wölfe und Hirschantilopen, die er für sie kochen mußte, und wenn sie gar waren, so riefen sie ihm zu, daß er mit essen solle.

So vergingen einige Wochen, und sie wurden allmählich mit ihm vertraut, so daß sie ihn frei herumlaufen ließen. Der Kaufmann hörte mit der Zeit auf die Laute, die sie ausstießen und lernte sie verstehen. Ja, es dauerte nicht lange, da konnte er selber die Sprache der Oger reden. Darüber waren diese um so mehr erfreut. Sie brachten ein Weibchen her, das sollte der Kaufmann heiraten. Er aber fürchtete sich vor ihr und wagte sich nicht in ihre Nähe. Das Ogermädchen aber nahm ihn mit Gewalt zum Manne und hatte eine große Freude an ihm. Sie schenkte ihm Kostbarkeiten und Früchte, um ihn anzulocken, und sie gewannen einander lieb wie Mann und Frau.

Eines Tages standen alle Oger ganz frühe auf, und alle hatten sich um den Hals eine Kette von leuchtenden Perlen gehängt. Sie befahlen dem Kaufmann, recht viel Fleisch zu kochen. Der Kaufmann fragte seine Frau, was das bedeuten solle.

„Heute ist ein hohes Fest,“ sagte sie, „wir haben den großen König zum Essen eingeladen.“

[219] Zu den andern Ogern aber sprach sie: „Der Kaufmann hat keine Perlenkette.“

Da gaben ihr alle Oger jeder fünf Perlen, und sie selbst tat zehn dazu, so daß er über fünfzig Perlen hatte. Die faßte sie an einem Faden auf und hängte sie ihm um den Hals. Jede einzelne dieser Perlen war mehrere hundert Lot Silber wert.

Der Kaufmann kochte nun das Fleisch; dann ging er mit der ganzen Herde zur Höhle hinaus, um den großen König zu empfangen. Sie kamen in eine weite Höhle; mitten darin lag ein großer Felsblock, der war glatt und eben wie ein Tisch. Ringsum standen steinerne Sitzplätze. Der Ehrenplatz war mit einem Leopardenfell bedeckt, die übrigen alle mit Hirschfellen. Mehrere Dutzend der Oger saßen in Reih und Glied in der Höhle.

Plötzlich erhob sich ein großer Sturm, der den Staub aufwirbelte, und ein Ungeheuer kam herbei, das in seiner Gestalt den Ogern glich. Die Oger kamen alle in großer Aufregung heraus, ihn zu empfangen. Der große König lief in die Höhle hinein, setzte sich mit gespreizten Beinen nieder und blickte mit runden Adleraugen um sich. Die ganze Herde folgte ihm dann in die Höhle. Sie stellten sich zu seinen beiden Seiten, blickten zu ihm empor und legten die Arme auf der Brust in Form eines Kreuzes zusammen, auf diese Weise ihm ihre Ehrfurcht bezeugend.

Der große König nickte mit dem Haupt, blickte sie an und fragte: „Sind von dem Wo-Me Berge alle da?“

Die ganze Herde bejahte es.

Dann erblickte er den Kaufmann und fragte: „Und woher kommt der?“

Seine Frau antwortete für ihn, und alle erwähnten mit Lob seine Kochkunst. Ein paar von den Ogern brachten gekochtes Fleisch herbei und breiteten es auf dem Tische aus. Der große König fraß sich satt daran und lobte ihn dann mit vollem Munde und befahl, ihm immer diese Speise zu liefern.

[220] Dann blickte er auf den Kaufmann und sagte: „Warum ist denn deine Halskette so kurz?“

Mit diesen Worten nahm er von seinem eigenen Halsband zehn Perlen, groß und rund wie Flintenkugeln. Sein Weib nahm sie rasch für ihn in Empfang und hängte sie ihm um. Der Kaufmann kreuzte die Arme und bedankte sich in der Sprache der Oger. Darauf ging der große König wieder weg, auf dem Sturme davonfahrend wie im Fluge.

Der Kaufmann hatte mit seinem Weibe vier Jahre zusammen gewohnt, da gebar sie ihm Drillinge, zwei Knaben und ein Mädchen. Alle hatten Menschengestalt, unähnlich ihrer Mutter.

Eines Tages war der Kaufmann alleine zu Hause; da kam aus einer andern Höhle ein Weib und wollte ihn verführen. Er aber war nicht einverstanden. Da wurde das Ogerweib zornig und packte ihn am Arm. Unterdessen kam seine Frau nach Hause, und die beiden gerieten in ein fürchterliches Handgemenge. Schließlich biß seine Frau der andern ein Ohr ab, da ging sie weg. Von jener Zeit an bewachte nun die Frau den Kaufmann und wich keinen Augenblick von seiner Seite.

Abermals vergingen drei Jahre, und die Kinder lernten allmählich sprechen. Er lehrte sie auch die Menschensprache. Sie wuchsen heran und wurden so stark, daß sie über die Berge liefen wie auf ebenem Grunde.

Eines Tages war sein Weib mit dem einen Knaben und dem Mädchen ausgegangen und war einen halben Tag lang weggeblieben. Der Nordwind wehte stark, und in dem Herzen des Kaufmanns erwachte die Sehnsucht nach seiner alten Heimat. Er nahm seinen Sohn an der Hand und führte ihn zum Meeresufer. Da lag sein altes Schiff noch immer. Er stieg mit seinem Sohn hinein und kam in einem Tag und einer Nacht nach Annam zurück.

Als er zu Hause ankam, hatte sich seine erste Frau inzwischen mit einem andern Manne verheiratet. Er tat zwei von seinen Perlen hervor und gewann dafür eine [221] Menge Goldes, so daß er ein vornehmes Haus führen konnte. Seinem Sohn gab er den Namen Panther. Als er vierzehn Jahre alt war, ward er so stark, daß er ein Gewicht von dreißig Zentnern heben konnte. Doch war er roh und liebte den Streit. Der General von Annam, erstaunt über seine Tapferkeit, ernannte ihn zum Obersten, und bei der Niederwerfung eines Aufstandes erwarb er sich solche Verdienste, daß er mit achtzehn Jahren schon Unterfeldherr wurde.

Um jene Zeit ward ein anderer Kaufmann ebenfalls vom Sturme nach der Insel Wo Me verschlagen.

Als er an Land kam, sah er einen Jüngling, der ihn erstaunt fragte: „Seid Ihr nicht ein Mann aus dem Mittelreich?“

Der Kaufmann erzählte, wie er herverschlagen worden sei, und der Jüngling führte ihn in eine kleine Höhle in einem verborgenen Tal. Dann brachte er Hirschfleisch herbei und plauderte mit dem Manne. Er erzählte ihm, daß sein Vater auch aus Annam gewesen sei, und es stellte sich heraus, daß er ein alter Bekannter des Kaufmanns war.

„Wir müssen warten bis der Nordwind einsetzt,“ sagte der Jüngling, „dann will ich kommen und dir das Geleite geben. Ich will dir auch einen Gruß für meinen Vater und älteren Bruder mitgeben.“

„Warum kommst du denn nicht selber mit,“ sagte der Kaufmann, „um deinen Vater aufzusuchen?“

„Meine Mutter stammt nicht aus dem Mittelreich,“ antwortete der Jüngling, „sie ist anders in Rede und Aussehen, darum geht es nicht wohl an.“

Eines Tages nun erhob sich der Nordwind mit Macht, und der Jüngling kam und begleitete den Kaufmann auf das Schiff und befahl ihm beim Abschied an, von seinen Worten keines zu vergessen.

Als der Kaufmann zurückkam nach Annam, begab er sich in den Palast Panthers, des Unterfeldherrn, und erzählte alles, was er gesehen.

[222] Als Panther von seinem Bruder erzählen hörte, da schluchzte er in bitterem Leid. Er nahm Urlaub und fuhr mit zwei Soldaten ins Meer hinaus. Plötzlich erhob sich ein Taifun, der die Wellen peitschte, daß sie bis zum Himmel aufspritzten. Das Schiff schlug um, und Panther fiel ins Meer. Da wurde er von einem Wesen gepackt und fortgeschleppt an einen Strand, wo Wohnungen standen. Das Wesen, das ihn gepackt hatte, sah aus wie einer der Oger. Darum redete er ihn in der Ogersprache an. Der Oger fragte ihn erstaunt, wer er wäre, und er erzählte ihm seine ganze Geschichte.

Der Oger sprach erfreut: „Wo Me ist meine alte Heimat. Es liegt von hier achttausend Meilen weit. Dies ist das Reich der Giftdrachen.“

Darauf holte er ein Schiff, und Panther mußte sich hineinsetzen. Dann schob der Oger das Schiff im Wasser vor sich her, daß es wie ein Pfeil die Wogen durchschnitt. Eine Nacht lang dauerte es, da tauchte im Norden ein Gestade auf. Ein Jüngling stand am Meeresstrand und hielt Ausschau. Panther erkannte ihn als seinen Bruder. Er stieg ans Land, sie reichten sich die Hände und weinten. Dann wandte er sich um, dem Oger, der ihn hergebracht, zu danken; doch der war schon verschwunden.

Panther fragte nun nach Mutter und Schwester und erfuhr, daß es beiden gut gehe. Er wollte mit dem Bruder hingehen. Aber der Bruder hieß ihn warten und ging alleine hin. Nicht lange danach, so kam er mit Mutter und Schwester zusammen zurück. Als sie Panther sahen, weinten sie beide vor Rührung. Panther bat sie nun, ihn nach Annam zu begleiten.

Aber die Mutter sprach: „Ich fürchte, wenn ich ginge, würden mich die Menschen wegen meiner Gestalt verspotten.“

„Ich bin ein hoher Offizier,“ antwortete Panther, „die Menschen werden nicht wagen, dich zu beleidigen.“

So gingen sie denn alle zusammen mit ihm aufs Schiff. [223] Ein günstiger Wind füllte die Segel, und pfeilgeschwind fuhren sie dahin. Am dritten Tage kamen sie ans Land. Die Menschen aber, die ihnen begegneten, liefen alle entsetzt davon. Panther zog seinen Mantel aus und teilte ihn unter die drei, damit sie sich bekleiden konnten.

Als sie nach Hause kamen und die Alte ihren Mann wiedersah, da fiel sie mit vielen Scheltworten über ihn her, daß er ihr nichts davon gesagt habe, wie er heimgekehrt sei. Die Glieder der Familie, die nun herbeikamen, um die Frau des Hausherrn zu begrüßen, taten es alle unter Zittern und Beben. Panther aber empfahl seiner Mutter an, die Sprache des Mittelreichs zu lernen, sich in Seidenstoffe zu kleiden und an die menschliche Nahrung zu gewöhnen. Damit war sie sehr einverstanden; aber Mutter und Tochter ließen sich Männerkleidung machen. Bruder und Schwester wurden allmählich weißer im Gesicht und wurden den Menschen des Mittelreichs gleich. Den Bruder nannte man Leopard, die Schwester Ogerkind. Beide waren von großer Körperkraft.

Panther aber war es nicht recht, daß sein Bruder so ungebildet war; darum ließ er ihn studieren. Leopard war sehr begabt. Beim ersten Durchlesen verstand er den Sinn der Bücher, doch hatte er keine Neigung zum Gelehrtenberuf. Schießen und Reiten war ihm das Liebste. So brachte er es in der kriegerischen Laufbahn sehr weit und heiratete schließlich die Tochter eines sehr angesehenen Beamten.

Ogerkind aber fand lange keinen Mann, weil sich alle vor der Schwiegermutter fürchteten. Schließlich starb einem der Untergebenen ihres Bruders seine erste Frau. Der ließ sich dann bereit finden, Ogerkind zu heiraten. Sie konnte die stärksten Bogen spannen; hundert Schritt weit traf sie noch den kleinsten Vogel. Nie fiel ihr Pfeil zur Erde, ohne etwas getroffen zu haben. Wenn ihr Mann in die Schlacht zog, ging sie immer mit, und daß er es schließlich zum General brachte, war zum größten Teile ihr Verdienst.

[224] Leopard war mit dreißig Jahren schon Feldmarschall. Seine Mutter begleitete ihn auf seinen Kriegszügen. Nahte sich ein gefährlicher Feind, so zog sie die Rüstung an und nahm das Messer zur Hand, um ihm statt ihres Sohnes entgegenzutreten. Unter den Feinden, die sie trafen, war keiner, der nicht entsetzt die Flucht ergriffen hätte. Wegen ihres Mutes erhielt sie vom Kaiser den Titel „Überweib“. –

In den Geschichtenbüchern heißt es immer, die Oger seien selten. Doch wenn man sichs genau überlegt, so sind sie gar nicht ungewöhnlich. Ein jeder Ehemann hat schließlich in seinem Hause solch ein Ogerchen.

Anmerkungen des Übersetzers

[401] 75. Das Oger-Reich. Vgl. Liau Dschai.

Die Oger hier sind die Ureinwohner Ceylons, ebenfalls Rakchas genannt, die als menschenfressende Ungetüme in den Sagen vorkommen.