Das Octoberfest der deutschen Veteranen
Noch sind nicht drei Monate verflossen, seit in Leipzig das wahrhaft großartige dritte deutsche Turnfest gefeiert wurde, und schon wieder hat dieselbe Stadt in ihren Mauern ein Fest gesehen, das hier von ganz Deutschland begangen wurde, wenn auch nicht alle Gauen unseres Gesammtvaterlandes dem an sie erlassenen Aufrufe in gleicher Weise Folge geleistet hatten.
Es kann nicht die Absicht der „Gartenlaube“ sein, die Schilderungen des Festes und seiner einzelnen Scenen und Feierlichkeiten, die bereits die Spalten aller Zeitungen in reichlichem Maße in Anspruch genommen haben, in neuer Variation zu wiederholen; vielmehr will sie nur den Veteranen und den ihnen erwiesenen Ehren und Huldigungen einige Seiten der Erinnerung weihen.
Was lag bei diesem ersten Jubiläum der Völkerschlacht wohl näher, als eine Dankespflicht gegen die noch lebenden Kämpfer jener Tage zu erfüllen? Es erging daher an sämmtliche Veteranen, welche an jenem Befreiungskampfe Theil genommen haben, die Einladung, auch jetzt der Jubelfeier als liebe Festgäste beizuwohnen. An vielen Orten wurden Veranstaltungen getroffen, den ärmeren Veteranen durch Unterstützungen die Möglichkeit zu gewähren, jener Einladung zu folgen, denn das Vaterland hat bis jetzt noch immer nicht daran gedacht, die Lorbeeren, welche die heldenmüthigen Kämpfer auf dem Schlachtfelde erwarben, durch wohlverdiente Unterstützungen einzulösen.
Freilich gab es Tausende von Veteranen, denen Altersschwäche oder körperliche Leiden die Theilnahme an dem ihnen hauptsächlich gewidmeten Jubelfeste versagten. Viele ausgezeichnete Persönlichkeiten aus jener glorreichen Zeit, denen man unmittelbare Einladungen hatte zugehen lassen und die aus obengenannten Rücksichten verhindert waren, bei dem Feste zu erscheinen, haben ihr Bedauern in den Ablehnungsschreiben in wahrhaft rührender Weise ausgedrückt. Wenn jene Schriftstücke der Oeffentlichkeit übergeben würden, so könnten dieselben dem jüngeren Geschlechte als die erhabensten Beispiele echter Vaterlandsliebe dienen.
Von den eingeladenen und erschienenen Ehrengästen müssen wir vor Allen den greisen General von Pfuel nennen, den Senior der preußischen Armee, der nach dem Einzug der Verbündeten in Paris unter Blücher Commandant von Paris war. Dieser würdige Heldengreis wird allen Denen unvergeßlich bleiben, welche Gelegenheit hatten, ihn kennen zu lernen. Nur um ein Jahr jünger war der gleichzeitig als Veteran und Deputirter der Universität Halle erschienene Professor Blanc, der als Feldprediger dem Freiheitskriege beiwohnte. Fr. v. Raumer, Major Beitzke, Stavenhagen u. A. erschienen gleichfalls als Veteranen und Ehrengäste. Allgemein aber wurde bedauert, daß die in gleicher Weise eingeladenen österreichischen Stabsofficiere, welche mit bei Leipzig gefochten hatten, sich nicht eingefunden hatten. Das Bestreben eines gewissen, aber eben nicht allzu ehrlichen Theiles der Presse, die Jubelfeier in Leipzig als ein rein preußisches, oder auch als ein von dem Nationalvereine ausgehendes Fest zu verdächtigen, hatte augenscheinlich in Süddeutschland unverdienten Glauben gefunden. Der Erfolg hat jedoch zur Genüge bewiesen, daß es kein preußisches, sondern wieder einmal ein echt deutsches Fest gewesen ist, und jene falschen Propheten sind jetzt der gerechten Verachtung preisgegeben.
Wie am Turnfeste hatte sich die Stadt in reichen Schmuck gekleidet. Flaggen und Fahnen wehten von den Firsten und aus den Fenstern, aus den Erkern und von den Balconen der Häuser, und während auf einem Theile des Marktes noch die Verkaufsbuden der Messe standen, wurden in dem andern Theile bereits die Tribünen für die öffentlichen Gesangaufführungen errichtet.
Die am Sonnabend (den 17. October) eintreffenden Eisenbahnzüge brachten die erwarteten Festgenossen aus allen Theilen Deutschlands, und man bemühte sich, den greisen Veteranen einen ehrenden und herzlichen Empfang zu bereiten. Wieder hatten sich die Turnerknaben mit jubelnder Freude zu Träger- und Führerdiensten erboten, allein auch diesmal wurde ihnen dieses Ehrenamt häufig streitig gemacht. Zur Leitung der alten Herren bedurfte es oft stärkerer Stützen, und zumeist mußten sie die bereitstehenden Wagen benutzen, um in ihre Wohnungen zu gelangen. Und das Reisegepäck? Ach, wie viele der Männer, die vor fünfzig Jahren mit dem schwerem Tornister und dem schützenden Mantel beladen in diese Stadt eingezogen waren, kamen jetzt in dünnem, fadenscheinigem Rocke, der nicht wohl geeignet war, seinen bejahrten Träger auf lange Zeit vor herbstlicher Luft zu schützen!
Bei Allen schienen jedoch die Anstrengungen und Entbehrungen der Reise vergessen zu sein, sobald es hieß: dort sind Leipzigs Thürme zu schauen! Bei diesen Worten schlug den alten Kriegern das Herz doch noch einmal rascher, und sie fühlten wieder etwas wie jugendliches Feuer durch ihre Adern rollen. Sie drängen sich nach den Fenstern des Wagens und rufen das Bild wach, welches sie von dieser Stadt seit jenen blutigen Tagen in ihren Herzen bewahrt hatten. Die weitläufigen Gärten, die sumpfigen Wiesen, die hier und da aufgeworfenen Schanzen und Batterien schwebten ja noch so deutlich vor ihrem Gedächtnisse, daß sie dieselben hätten malen können, wenn ihre zitternde Hand dies noch im Stande gewesen wäre. Aber umsonst suchen sie nach allen jenen Erinnerungszeichen, denn die Stadt, aus welcher sie damals heldenmüthig die Feinde Deutschlands vertrieben, ist eine ganz andere geworden. Mächtig hat sie sich nach allen Seiten ausgedehnt, und auf denselben Stellen, wo damals so viele Tapfere bluteten, so viele Helden ihr Leben aushauchten, da erhoben sich jetzt lange Häuserreihen und neue Stadttheile, bei deren Anlegung man Gebeine der Gefallenen und Waffenreste in Menge gefunden hat.
Ueber diese unerwarteten Veränderungen schüttelte so mancher der alten Herren sein Haupt und meinte wohl, das könne Leipzig gar nicht sein; aber wenn dann die Wagenzüge in die Bahnhöfe einliefen und nun Musik den Ankommenden entgegenschmetterte, wenn der begeisterte Jubelruf der harrenden Zuschauermenge sie empfing – da wurde den braven Veteranen doch wohl klar, daß sie am rechten Ziele angelangt seien und daß die anders gestaltete und vergrößerte Stadt im Gegensatze zu so vielen einzelnen Emporkömmlingen unter den Menschen die schöne Pflicht der Dankbarkeit treu bewahret und gepflegt hatte. Alles drängte sich herbei, um die Veteranen sehen, um sie begrüßen zu können. Die mit Orden und anderen Ehrenzeichen geschmückten Greise wußten kaum, wie ihnen geschah, und die Beweise der ihnen entgegengebrachten Liebe und Verehrung riefen so manche Thräne der Rührung hervor. Ja, das war doch noch dieselbe Stadt, welche vor fünfzig Jahren nach langer Bedrückung sie auch mit Jubel und Dank als Befreier empfing; dieselbe Stadt, welche in jener Zeit des Jammers die letzten kargen Bissen trockenen Brodes freudig mit ihnen getheilt hatte.
Während die gebrechlicheren oder die durch lange Fahrt ermüdeten Veteranen von den ihnen verschafften Wagen Gebrauch machten, gab es bei jedem ankommenden Bahnzuge doch auch eine gute Anzahl dieser alten Krieger, welche sich munter und rüstig fühlten. Diese stellten sich dann freudig in Reih und Glied auf, ein Musikchor trat an ihre Spitze, und so setzte sich nun der Zug nach der Stadt herein in Bewegung. Jubel begleitete und empfing diese einzelnen Züge überall wohin sie nur kamen, und besonders rührend war es, zu sehen, wie so mancher dieser Greise mit Anstrengung aller seiner Kräfte stramm und mit soldatischem Takt einherschritt.
Wie schweiften ihre Blicke nach allen Seiten, um in Straßen oder Plätzen Erinnerungszeichen zu finden an jene Zeit, wo sie als Sieger in dieselbe Stadt ihren Einzug hielten! Nur Wenigen mag es gelungen sein, sich alsbald wieder zu orientiren, denn die verflossenen fünfzig Jahre haben auch im Innern der Stadt große Umgestaltungen hervorgerufen. Die tiefen Gräben, welche zu jener Zeit die Stadt umgaben und welche das rasche Eindringen der Stürmenden verhinderten, sind längst ausgefüllt und in herrliche Parkanlagen verwandelt worden; die Thore, deren Einnahme den Andringenden noch viele Opfer kosteten, sind der Erde gleich gemacht, und ein Bild des Friedens stehen die Straßen weit offen, um die sehnlichst erwarteten Gäste aufzunehmen.
[713] Dichte Menschenmassen drängten sich neben und hinter den einziehenden Veteranen her, und glücklich schätzte sich der, dem es gelang, einen Platz an der Seite eines dieser alten Krieger zu erringen. Man bot gern den Greisen den Arm als Stütze, und von allen Seiten kamen neugierige Frager herbei, die womöglich schon auf dem Wege zur Stadt etwas von den Erlebnissen aus der Heldenkriegszeit hören mochten. Mit welcher Ehrfurcht hingen Aller Blicke an den ehrenden Zeichen der Tapferkeit, die jeder der Veteranen auf der Brust trug, und wie dürftig, wie altmodisch und abgetragen waren oft die Röcke, welche solchen Ehrenschmuck aufzuweisen hatten!
Nicht minder herzlich war der Empfang, welcher den Ehrengästen wohl ohne Ausnahme in der ihnen angewiesenen Wohnung zu Theil wurde. Wie vielen der ehrwürdigen Greise traten Thränen der Rührung und Freude in die Augen, als sie sich von ihren Gastgebern und deren Familien so liebreich aufgenommen sahen. Es waren dies freilich andere Tage als vor fünfzig Jahren, wo man den einrückenden Siegern bei der eigenen Noth der Stadt kaum hinreichend trockenes Brod zur Stillung des Hungers bieten konnte. Wie viele der gastfreundlichen Wirthe waren in jenen Schreckenstagen als Kinder beim Eindringen der Sieger in die Stadt ängstlich weinend geflohen und hatten sich zitternd hinter ihre Eltern verborgen, weil sie von der friedlichen Absicht der Soldaten keinen Begriff hatten. Die Erkenntniß der Absicht jener gefürchteten Männer war ihnen erst später geworden, und heute bot sich ihnen auch die Gelegenheit, die mangelhafte elterliche Bewirthung jener Zeit auszugleichen.
Im Laufe des Sonnabends trafen fast sämmtliche Veteranen und die Städtedeputationen in Leipzig ein, und für die Abendstunden dieses Tages war eine gesellige Zusammenkunft der Eingeladenen in den bekannten glänzenden Räumen des Schützenhauses veranstaltet. Nicht leicht möchte es aber noch eine Versammlung geben, welche sowohl für die Betheiligten, wie für Zuschauer ein größeres Interesse hätte bieten können. Die allgemeinste Theilnahme war natürlich den Veteranen gewidmet, von denen an achthundert an jenem Abende im Schützenhause anwesend sein mochten. Es war, als entrollte sich ein Stück Geschichte in lebendigen Lettern vor unsern Augen; denn diese Tapferen gehörten zu den Stiftern des herrlichsten Blattes in dem Ruhmesbuche der deutschen Nation. Die Orden und Ehrenzeichen, welche ein Jeglicher in größerer oder geringerer Zahl auf der Brust trug, waren sprechende Beweise dafür, daß von diesen Männern damals Keiner müßig die Hände in den Schooß gelegt hatte.
Aber wie verschieden erschienen diese ehrwürdigen Gestalten! Dort wankte Einer mühsam auf seinen Krücken heran, doch bald nahten sich gütige Männer, welche den Invaliden unterstützten; der danebenstehende Alte mit dem Stelzfuße kam sich im Vergleiche mit Jenem gewiß noch ganz glücklich vor, wenigstens verrieth seine Miene nicht im Geringsten, daß der fehlende Fuß seiner festlichen Stimmung Eintrag thun könne; er scherzt sogar noch und schließt die für den ihn umstehenden Zuhörerkreis bestimmte Erzählung seiner Kriegserlebnisse mit der Bemerkung: daß er hauptsächlich hierher gekommen sei, um sich von dem damaligen Bataillonschirurgen sein Bein zurückgeben zu lassen, welches man ihm zu jener Zeit unbegreiflicher Weise vorenthalten habe; die Gegend bei Wachau, wo er es vor fünfzig Jahren verloren habe, wisse er allenfalls noch genau genug anzugeben.
Wahrhaft rührenden und ergreifenden Wiedererkennungsscenen konnte man an jenem Abende oft genug begegnen. So sah man unter Anderen einen vierfach decorirten, alten, aber noch rüstigen und äußerst lebhaften Mann durch die Säle gehen, von Tisch zu Tisch immer nur die Frage wiederholend: „Ist denn von den schlesischen Landwehrmännern, die bei Möckern fochten, Alles ausgestorben? Bin ich ganz allein übriggeblieben? Es waren damals doch noch kräftige Jungen genug, die mit halbwegs ganzer Haut in Leipzig einrückten!“ – Alle Nachforschungen des rüstigen Veteranen blieben lange Zeit ohne Erfolg, denn wohin er auch kam, nirgends war solch ein alter Schlesier aufzufinden. Umsonst luden andere alte Kriegscameraden den Suchenden ein, bei ihnen Platz zu nehmen und neue Cameradschaften anzuknüpfen; allein er schlug jeden ihm angebotenen Labetrunk aus und meinte immer dabei: das erste Glas in Leipzig wolle er nun einmal durchaus blos mit einem schlesischen Landwehrmanne trinken! Kopfschüttelnd sah man dem Eigensinnigen nach, und mancher Graubart rief wohl auch so etwas wie: alter Dickkopf! hinter ihm drein. Aber Alles dies kümmerte den Schlesier wenig und nichts konnte ihn davon abbringen, die Forschungen nach seinen Landsleuten fortzusetzen. Da endlich ertönte plötzlich auf seine immer gleiche Frage von einem Tische her ein militärisch meldendes: Hier! Bei diesem Tone malte sich auf den Zügen des Suchenden die höchste Freude, denn in der That erhob sich da drüben ein nicht weniger mit Ehrenzeichen geschmückter Veteran. Der Erstere wollte jedoch seiner Sache gewiß sein und schickte jetzt rasch die prüfende Frage nach: „Unter wem hast Du gefochten, Camerad?“ „Unter Steinmetz,“ lautete die Antwort, und mehr bedurfte es nicht, um den vorsichtigen Frager zu überzeugen. „Gott sei Dank! Also doch noch einer von den Braven am Leben,“ rief er und gleich darauf lagen sich die beiden Greise in den Armen. Jetzt wurde der Weihetrunk von dem durch langes Suchen ganz Erschöpften nicht mehr ausgeschlagen, und hierauf begann ein Fragen und Erzählen, das immer lebhafter wurde, als sich bald herausstellte, daß die beiden zu jener Zeit bei derselben Compagnie gestanden hatten. – „Erinnerst Du Dich noch des tollen Burschen, welchen alle Cameraden nur den tollen Jodelfritz nannten, weil er immer der Erste war, wenn es galt, ein Lied auf dem Marsche anzustimmen?“ fragte lächelnd im Anfange des Gespräches der andere Schlesier den über seine Entdeckung noch ganz glücklichen Cameraden. „Den Jodelfritz? Ob ich mich seiner noch erinnere!“ rief der Andere. „Im Quartier habe ich mich freilich manchmal über ihn geärgert, wenn die Anderen gern schlafen wollten und der Schreihals zu guter Letzt noch ein Lied zu singen anfing. Wenn ich nicht irre, so hat der arme Teufel seit der Schlacht bei Möckern nimmer wieder gesungen, denn dort sollen ihm die Franzosen erst den rechten Arm fast vom Rumpfe getrennt und zum Ueberflusse auch noch den Schädel gespalten haben. Was aus ihm geworden ist und wo er eingescharrt liegen mag, das weiß ich nicht.“
„Eingescharrt hat man den Schreihals, wie Du ihn ganz richtig nanntest, doch nicht, weil er noch nicht ganz todt war,“ lachte der Andere, „aber Mühe hat es genug gekostet, dies den Lazarethgehülfen glaubhaft zu machen. Mit der Schädelwunde hatte es nicht gar so viel auf sich, und den Arm hat man ihm auch wieder zusammengeflickt, aber steif ist er für immer geblieben.“ Bei diesen Worten schob der Erzähler lachend den Aermel zurück und zeigte dem erstaunten Kampfgenossen eine breite, furchtbare Narbe am rechten Unterarme.
„Wie? Was? Also Du – Du bist der Jodelfritz?“ fragte Jener, bald die breite Narbe, bald das frohe Gesicht seines Cameraden musternd, und im nächsten Augenblicke hielten sich die beiden Alten wieder umhalst und weinten und lachten vor Freude über dieses unverhoffte Zusammentreffen. Seit fünfzig Jahren hatte Keiner mehr vom Anderen etwas gehört, und hier erneuerten sie unter Freudenthränen einen Freundschaftsbund für die „letzten paar Lebensstunden“, wie sie wehmüthig hinzufügten. Die Trauer konnte sie aber bei dem Gedanken an den kleinen Lebensrast dennoch nicht übermannen, und die Erinnerung an jene glorreiche Zeit schien sie vielmehr nach und nach immer mehr zu verjüngen. Das erste Versprechen, das sie sich gaben, bestand darin, daß sie vor der Hand während des ganzen Festes sich nicht wieder trennen wollten, und redlich haben sie dies gehalten, denn unzertrennlich sah man Beide stets bei einander.
Solche Erkennungszeichen konnte man an jenem Abende in Menge beobachten. Ueberall begegnete man einzelnen Trupps früherer Waffengefährten, die sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählten und ihre Erinnerungen auffrischen halfen. Neugierige Zuhörer jüngerer Generationen umstanden aber jede dieser Gruppen und lauschten ehrerbietig den Berichten der Zeugen jener blutigen Tage. Ein alter böhmischer Veteran, dessen entschlossener Gesichtsausdruck so wie sein noch immer kühner und freier Blick wohl erkennen ließen, daß er dem Feinde gewiß furchtlos seine Brust gezeigt hatte, bediente sich bei seinen Erzählungen stets eines originellen Ausdruckes; er betrachtete nämlich die Gefechte und Kämpfe als eine Arbeit und meinte, daß er draußen bei Dölitz am 10. October unter Lichtenstein „halt brav mitgearbeit’ habe.“
Nicht nur alle Truppengattungen, sondern auch alle Rangstufen vom General bis herab zum Füsilier, Jäger oder Reiter, waren vertreten, doch wurde hier der Rangunterschied natürlich nicht mehr so streng eingehalten als im Dienste. So kam unter Anderem zu einem Hauptmann, der in Uniform erschienen war, [714] ein invalider Unterofficier, welcher während des Krieges unter Jenem, der damals nur noch Fähndrich war, gedient hatte. Der Unterofficter nahte sich seinem Oberen, nach welchem er sich bereits vorher erkundigt hatte, so viel als möglich im Paradeschritt, dann schulterte er mit dem ihn beim Gehen unterstützenden Krückenstock und rief, sich an den erstaunten Officier wendend. „Herr Hauptmann! Corporal Werner von der dritten Compagnie meldet sich nach fünfzigjährigem Urlaub als wieder eingetroffen!“ Der Hauptmann besann sich einen Augenblick, dann aber zog er den alten Unterofficier an seine Brust und rief gerührt: „Werner, habt Ihr Euren Fähndrich wieder erkannt?“ Und nun ging es an ein Erzählen wie bei allen den Anderen.
Solcher Züge und Begegnungen gäbe es wohl hunderte zu erzählen, denn wohin man nur immer schaute, überall fanden sich Freunde und Cameraden zusammen. Freilich aber fehlte auch so mancher Waffengefährte, dem man so gern im Leben noch einmal in das Auge geschaut oder dessen Hand man nochmals gedrückt hätte; aber der Tod hatte unter den Kriegern seit jenen Tagen der Schlacht viele abgerufen, und wie kurz ist vielleicht nur noch der Lebensfaden vieler der hier Erschienenen, von denen sehr wenige unter siebenzig, viele aber achtzig Jahre und darüber zählen.
In dem vorgerückten Alter der militärischen Festtheilnehmer lag auch der Grund, daß im Gegensatz zu anderen derartigen Versammlungen der größte Theil der Anwesenden um die zehnte Stunde das gastliche Nachtquartier aufsuchte. Fröhlichen Herzens schieden sie aber in dem Bewußtsein, mit den wiedergefundenen Kriegscameraden noch einige herrliche Festtage verleben zu können.
Klar und wonnig brach der Morgen des 18. Octobers an, begrüßt vom feierlichen Geläute aller Glocken und von Geschützsalven; zahlreiche Musikchöre ließen ihren fröhlichen Weckruf durch alle Straßen erschallen, und bald entwickelte sich in der Stadt ein ungemein reges Leben.
In allen Kirchen fand feierlicher Gottesdienst statt, und nicht vermochten sie die Beter zu fassen, welche an diesem so hochwichtigen Tage dem Himmel aus vollem Herzen ihren Dank darbringen wollten. Welch ein Jammerbild aber boten die der Verehrung Gottes geweihten Räume vor funfzig Jahren! Da war nur eine der Kirchen Leipzigs, die Nikolaikkrche, welche noch dem Gottesdienste vorbehalten blieb; alle anderen aber waren in schreckenerregender Weise zu Lazarethen umgewandelt und mit schwerverwundeten und sterbenden Kriegern überfüllt. Wohl auch manchem der heute zum Feste hier erschienenen Veteranen hatte man damals sein Schmerzenslager in einer der Kirchen angewiesen. Von Augenzeugen erfuhren wir, wie ein schwacher Greis in der Peterskirche mit Thränen in den Augen noch denselben Platz zu bezeichnen wußte, wo er in jenen Tagen schwerverwundet hier längst die Hoffnung verloren hatte, dem Leben und seiner armen Familie wiedergegeben zu werden, und heute – stand er noch lebend hier, um die Erinnerung an jene Tage mitzufeiern. Ehrfurchtsvoll geleitete man den würdigen Greis an denselben Platz, und wer wäre wohl im Stande, die Gefühle jenes Veteranen zu schildern, dem aus Rührung die Stimme gebrach, um in die zum Himmel dringenden, frommen Lieder des Dankes einzustimmen? Er selbst hat geäußert, daß ihm immer zu Muthe gewesen sei, als höre er noch die jammernden Klagelaute seiner verwundeten und sterbenden Cameraden, welche damals in so furchtbaren Massen in diesen Räumen einen nothdürftigen Zufluchtsort gefunden hatten.
Nach beendigtem Gottesdienste sah man die würdigen Veteranen gruppenweise oder einzeln durch die Straßen ziehen, um jene Häuser und Plätze aufzusuchen, wo sie in den Zeiten des Krieges einquartiert gewesen waren oder bivouakirt hatten. Auch da gab es wieder schmerzliche und erhebende Erinnerungen genug. Einer der Veteranen fand nach langem Suchen von derselben Familie, die ihn damals so freundlich aufgenommen und gepflegt hatte, nur noch das jüngste Kind seiner Wohlthäter am Leben, und dieses Kind war nun selbst zur würdigen Matrone geworden. Ein Anderer, der nach dem Einzuge der Verbündeten sein Quartier im Brühl erhalten hatte und gar nicht genug die liebevolle Verpflegung loben konnte, begab sich nach jener Straße, um nach seinen Wohlthätern oder deren Nachkommen zu forschen. Das Haus war wohl bald genug gefunden, aber der Name jener Familie, nach welcher der Greis so eifrig suchte, war sämmtlichen Bewohnern jenes Hauses unbekannt. Endlich drängte sich ein altes Mütterchen aus der Nachbarschaft herbei und gab die freilich traurige Auskunft, daß sie sich jener Familie noch recht gut entsinne, aber daß vor einigen Jahren auch der letzte Angehörige derselben begraben worden sei. Das Anerbieten der alten Frau, den sichtlich gerührten Veteran hinaus auf den Friedhof zu den Gräbern seiner Wohlthäter zu geleiten, ward von dem Greise dankbar angenommen, und der alte Mann erbat sich als Geschenk einen der Laubkränze, mit denen das Haus, in dem er vor funfzig Jahren Unterkommen fand, geschmückt war. Es sollte dieser Kranz ein Andenken sein, das er mit in die Heimath nehmen wollte, und gern erfüllte man seinen Wunsch. Als er, von dem Mütterchen geleitet, draußen auf dem Kirchhofe die Gräber seiner ehemaligen Wirthsleute gefunden hatte, konnte er sich der Thränen nicht erwehren. Er hätte ja so gerne Denen noch einmal auf Erden seinen Dank dargebracht, die ihn damals so herzlich aufgenommen hatten. Den Kranz, den er von jenem Hause mitnahm, legte er jetzt tiefgerührt auf eins der Gräber und pflückte dagegen von den letzteren einige herbstliche Blumen, die ihm, wie er meinte, doch ein noch wertheres Andenken wären, als jener Kranz, der nur als ein Zeichen der Dankbarkeit hier auf der Ruhestätte seiner Wohlthäter zurückbleiben sollte.
Der sogenannte „alte“ Friedhof war überhaupt das Ziel vieler Besucher, denn man hatte die Gräber der hier ruhenden Gefallenen aus den Freiheitskriegen an diesem Jubel- und Ehrentage festlich geschmückt. Ganz besonders war Motherby’s Grab unaufhörlich von Besuchern umringt. Manche der Veteranen erinnerten sich noch dieses kühnen Hauptmanns der Königsberger Landwehr, der hier unweit seines Grabes von einer Kugel getödtet ward, als er unmittelbar hinter Friccius, dem Erstürmer des Grimmaischen Thores, in die Stadt dringen wollte. Das Grab des tapfern, für die Befreiung seines Vaterlandes gefallenen Helden schmückt jetzt ein sinniges Denkmal.
Unmittelbar neben jenem Friedhof und an derselben Stelle, wo früher das äußere Grimmaische Thor stand, erhob sich eine mächtige Ehrenpforte, um den Ort zu verherrlichen, wo todesverachtend die tapfere Landwehr unter einem Hagel von Kartätschen ihren Nachfolgern Bahn brach in die von den Franzosen dort auf das Aeußerste vertheidigte Stadt. Dicht vor dieser Ehrenpforte aber war das einfache Steindenkmal bereits errichtet, welches jene Heldenthat auch künftigen Geschlechtern im frischen Andenken erhalten sollte. Die feierliche Einweihung dieses Denkmals war jedoch erst für den 19. October bestimmt, und wkir kommen später auf dieselbe ausführlicher zurück.
Ein anderes, nicht minder bedeutungsvolles Denkmal, zu welchem am Turnfeste bekanntlich der Grundstein gelegt ward, konnte jetzt zum Völkerschlachtsjubiläum ebenfalls bereits der Oeffentlichkeit übergeben werden. Noch ehe nämlich die Erstürmung des Grimmaischen Thores am 19. October 1813 stattfand, bemächtigte sich eine andere Abtheilung des Bülow’schen Corps, ebenfalls aus preußischen Freiwilligen bestehend, eines nördlich von jenem Thore gelegenen Vorwerkes, welches die Franzosen mit verzweifelter Wuth vertheidigten. Ganze Reihen der andringenden Preußen wurden durch das wohlgezielte Gewehr- und Geschützfeuer niedergestreckt; aber immer wieder stürmten neue Kämpfer löwenmuthig vor und gelangten endlich in den Besitz des mit Strömen von Blut erkauften Punktes. Schon früher stand als Denkzeichen an der Stelle des niedergerissenen Vorwerkes ein einfaches Monument, welches wegen der dabei befindlichen, auf den Schlachtfeldern gesammelten Kanonenkugeln das Kugeldenkmal genannt wurde. Der Besitzer des anstoßenden Grundstückes, Dr. Lampe, hatte jenes Denkmal errichten lassen, doch faßte man in neuerer Zeit den Beschluß, das baufällige Monument durch einen entsprechenden Denkstein zu ersetzen.
Als bemerkenswerth dürfte bei dieser Gelegenheit wohl angeführt werden, daß sich bei der Schlachtfeier auch zehn Veteranen derselben Truppenabtheilung befanden, welche damals das Vorwerk nach so furchtbaren Verlusten eroberten. Dr. Lampe hatte sich die zehn Tapferen als Ehrengäste ausgebeten, und so wohnten diese Veteranen jetzt auf demselben Grund und Boden, den sie damals so heldenmüthig erobern halfen. Wohlverdiente Ehre und Theilnahme wurden ihnen von allen Seiten zu Theil. Einer von ihnen, der um die Erzählung der Umstände des Kampfes gebeten wurde, erwiderte treuherzig: „Ja, lieber Herr, da werden Sie wohl meine Cameraden drum fragen müssen, denn ich müßte eine Lüge erfinden, wenn ich den Kampf so recht beschreiben sollte. Gehört und gesehen habe ich wenig, denn ich war blind vor Wuth, als meine [715] zwei besten Freunde neben mir fielen, und so laut ich auch mein Drauf! und Vorwärts! brüllte, der Kanonendonner brüllte doch noch viel lauter. Aber dreingeschlagen habe ich mit dem Flintenkolben ohne Barmherzigkeit, und erst als wir unter den saubern Franzosen ordentlich aufgeräumt hatten, kam ich wieder zur Besinnung. ’s hat Mancher unter meinem Kolben bluten müssen, aber – lieber Herr – meine beiden Freunde sind doch drum todt geblieben!“
Die öffentliche Festfeier begann am Sonntag Mittag um 12 Uhr, durch eine große Gesangsaufführung auf dem Marktplatze. Tausende von Zuhörern füllten den weiten Platz und die angrenzenden Straßen, doch hatte man unmittelbar vor der Sängertribüne für die Veteranen und für die Vertreter der Städte genügenden Raum vorbehalten. Ein für das Fest von dem Capellmeister E. Reinecke in Musik gesetztes Te Deum, von etwa 200 Sängern vorgetragen, machte den Anfang, und diesem folgte, nachdem die Damen sämmtlicher gemischten Gesangvereine die Tribüne betreten hatten, das Hallelujah aus Händel’s „Messias“. Einen wahrhaft erhebenden Eindruck machten diese mächtigen Chöre, ebenso wie der von Nägeli 1813 componirte Arndt’sche Lobgesang, woran sich unmittelbar der Choral „Nun danket alle Gott“ anschloß, der von dem gesammten Publicum mit angestimmt wurde.
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Ernst und würdig war diese Feier. Milder, heiterer Sonnenschein verklärte Alles umher, und nur zuweilen schwellte ein leichtes Lüftchen die zahllosen Fahnen und Flaggen, welche ohne Ausnahme wohl alle Häuser umher schmückten. Daß die Tribüne glänzend und ausschließlich mit den deutschen Farben und eben solchen Bannern geschmückt war, brauchen wir wohl kaum zu erwähnen. Ueberhaupt waren bei allen Decorationen die deutschen Farben vorherrschend. Auf den ausdrücklichen Befehl des Königs trugen sämmtliche Regierungsgebäude nur schwarz-roth-goldenen Fahnenschmuck, und diese Anerkennung der Wichtigkeit des Festes ist um so erfreulicher, wenn man dagegen den blinden Eifer annimmt, mit dem man in so vielen anderen Städten von Seiten der Regierungsbehörden diese äußeren Kundgebungen des nationalen Erwachens mit zopfiger Angst zu unterdrücken oder auszurotten versuchte.
Von der am selben Nachmittage auf dem Marktplatze abgehaltenen zweiten Musikaufführung mit den begeisternden Gesängen aus Körner’s „Leyer und Schwert“ haben sämmtliche deutsche Zeitungen bereits das Nähere berichtet. Es wäre daher mehr als überflüssig, hier unsern Lesern noch das Weitere davon zu erzählen. Auch die würdige Abendfeier des ersten Festtages, die rings um Leipzig auf den denkwürdigsten Punkten des Schlachtfeldes lodernden Feuer, den großartigen Fackelzug mit seinen nahe an 10,000 Theinehmern, seinen mehr als 4000 Windlichtern und über 5000 Pechfackeln und seinen ununterbrochen schmetternden Musikchören – das Alles brauchen wir nicht mehr zu schildern.
Ueberall trat das Bestreben, den alten Herren ihren Aufenthalt in Leipzig so angenehm als möglich zu machen, auf das Erfreulichste hervor. Wo sich an einem öffentlichen Vergnügungsorte oder in einem Wirthshause einer der alten Krieger zeigte, da drängten sich sogleich eine Menge Gäste herbei, um ihren Trunk mit dem würdigen Alten zu theilen. Dann aber ging es an ein Fragen und Erzählen, und die aufmerksamen Zuhörer wurden nicht müde, den Kriegsberichten zu lauschen; denn es lag doch ein ganz anderer Reiz darin, hier die noch lebenden Zeugen jener Tage erzählen zu hören, als die Beschreibung der Kämpfe aus Büchern zu lesen. Wie wunderbar waren die Schicksale Einzelner gewesen, und Mancher, der an den Tagen der Schlacht dem Tode unrettbar verfallen schien, konnte jetzt nach fünfzig Jahren den Schauplatz seiner unsäglichen Leiden wieder aufsuchen.
Aus dem Munde eines vollständig glaubwürdigen Greises, der jetzt Apotheker in einer deutschen Residenzstadt ist, erfuhren wir, daß derselbe in dem damaligen Kampfe schwer verwundet und unter unsäglichen Schmerzen zwei und dreiviertel Tag ohne Hülfe und ohne jede Nahrung unbeachtet auf dem Schlachtfelde gelegen hatte. Ein Bauer, der mit dem Verscharren der Gebliebenen beschäftigt war, kam endlich glücklicher Weise in die Nähe des schon an jeder Rettung Verzweifelnden und brachte denselben auf seinem Karren in die Stadt. Hier waren jedoch sämmtliche Lazarethe so überfüllt, daß der Verwundete überall abgewiesen wurde, und nun hatte auch das Mitleiden des Landmannes ein Ende, denn dieser lud den Unglücklichen mitten in einer Straße auf dem harten Pflaster ab und fuhr von dannen. In so furchtbarer Lage entsann sich der Verlassene eines ihm befreundeten Officiers, von dessen Regiment er Leute erblickte. Er rief mit schwacher Stimme einige mitleidige Vorübergehende an, und diese suchten den Freund auf, der vermöge seiner Stellung dem zum Tode Erschöpften ein Quartierbillet, ärztliche Hülfe und damit vollständige Rettung verschaffte.
Einen fast komischen Eindruck machte dagegen die Erzählung eines anderen Veteranen, welcher der Erstürmung Möckerns beigewohnt hatte. Nachdem die Franzosen endlich vollständig aus jenem Dorfe vertrieben waren, suchten preußische Krieger in den von den Einwohnern verlassenen und halb zerstörten Häusern nach Nahrungsmitteln. Der Erzähler machte hierbei einen herrlichen Fund, nämlich – einen Topf mit Salz, woran es den Soldaten immer fehlte. Der ganze Topf war freilich nicht wohl mitzunehmen, doch fand sich bald ein Auskunftsmittel, denn die fliehenden Bewohner hatten einige hinter dem Hause zum Trocknen aufgehängte Strümpfe vergessen, und in einen derselben füllte nun der erfreute Sieger seine Beute. Diesen Strumpf hatte der Mann fortan als ein Andenken des Krieges bewahrt; als jedoch jetzt die fünfzigjährige Jubelfeier herankam und jener Veteran mit anderen Kampfgenossen auch nach Leipzig zog, da nahm er wohlweislich den alten Kriegsstrumpf mit, um denselben womöglich seinen damaligen Eigenthümern oder deren Nachkommen wieder zu überliefern. Sein erster Weg am Sonntag Morgen war auch hinaus nach Möckern gewesen, doch vergebens suchte er dort das in der Erinnerung ihm noch so deutlich vorschwebende Häuschen. Mit dem Dorfe war es just wie mit der Stadt Leipzig gegangen: beide hatten sich vollständig umgestaltet und erneuert. Da nun alle Nachforschungen ohne Erfolg blieben, meinte der alte Veteran: „’s thut mir eigentlich leid, denn die armen Leute haben vielleicht später den Strumpf wer weiß wie eifrig gesucht. Aber es ist mir auch wieder lieb, daß ich ihn jetzt wohl mit mehr Recht behalten kann, denn ich hätte mich gar schwer von diesem Kriegsandenken getrennt.“
Viele der Veteranen sah man mit rührendem Eifer alle auf das Fest bezüglichen Bekanntmachungen, Programme, Texte u. s. w. sammeln, die sie als liebe Erinnerung mit heim nehmen und ihren Angehörigen oder Freunden zeigen wollten. Ein Greis, welchem vom Festausschuß eine Einlaßkarte zu der Festvorstellung zugetheilt worden war, zeigte diese Karte am nächsten Tage mit triumphirender Miene seinen Cameraden. Als diese ihn verwundert fragten, weshalb er nicht im Theater gewesen sei, antwortete Jener: „O, da wäre ich doch ein Thor gewesen, denn ich hätte ja dann müssen das Billet abgeben. Von dem Theaterstück konnte ich ja doch nichts behalten, dazu ist mein Gedächtniß zu schwach; dafür habe ich lieber hier das Billet behalten, und das soll mir, so lange ich noch lebe, ein werthes Andenken sein.“
Der zweite Festtag (Montag den 19. October) brach ebenso freundlich und wolkenlos an, als der vorhergegangene. Die frühe Morgensonne beleuchtete schon eine besondere Feierlichkeit, welche mit der Wichtigkeit dieses Tages im engeren Zusammenhange stand. Ein Verein Leipziger Bürger begeht schon seit vielen Jahren stets den 19. October festlich, weil an demselben Tage 1813 die Stadt einer gründlichen Zerstörung glücklich entging. Die wichtigsten Punkte der Umgegend wurden auf Kosten dieses Vereins bereits mit Denksteinen versehen, wie z. B. der Monarchenhügel, wo die drei verbündeten Herrscher die Nachricht des Sieges über die Franzosen empfingen; dann andere Erinnerungszeichen bei Wachau, Göhren, Liebertwolkwitz gesetzt etc. Am heutigen Tage sollte nun ein anderes einfaches Denkmal eingeweiht werden, dicht an der Stelle wo durch Sprengung der einzigen Brücke über den Elsterfluß am 19. October 1813 der Rückzug der Franzosen durch sie selbst so fürchterlich gehemmt wurde. Wie vielen Tausenden hätte damals das Leben erspart werden können, wenn nicht ein Mißverständniß oder rathlose Angst diese Brücke viel zu früh vernichten ließ!
Während jene Denkmalsweihe mehr die Form einer Separatfeierlichkeit hatte, entwickelte sich ein desto regeres Leben in der Stadt. Schon in den frühen Morgenstunden wogte es auf allen Plätzen, in allen Straßen unablässig auf und ab, denn Jedermann hatte eine Ehre dareingesetzt, den beabsichtigten großen Festzug so glänzend als möglich zu gestalten. Es sollte ein Triumphzug werden für die Braven, welche in den Zeiten blutiger Noth das Vaterland von Schmach und Knechtschaft befreit hatten.
Von allen Seiten sah man Gewerke und Genossenschaften mit Fahnen und Emblemen nach den Sammelplätzen ziehen. Wagen eilten nach allen Richtungen, um einen Theil der Veteranen aufzunehmen, während die große Mehrzahl derselben wiederum darauf bestand, sich dem Zuge zu Fuße anzuschließen. Ueberhaupt schien es, als ob in viele der würdigen Greise während dieser Festtage noch einmal die Kraft und Ausdauer der Jugend neu zurückgekehrt sei. In der That sah man unter den Veteranen auch Männer genug, deren Haltung und Lebhaftigkeit die Zahl ihrer Jahre Lügen strafte.
Die nur einigermaßen eingehende Beschreibung des Zuges [732] würde zu viel Raum beanspruchen, und außerdem war die Reichhaltigkeit desselben so groß, daß dem einzelnen Beobachter wohl auch Manches entgehen mußte.
Lange vorher ehe noch der Zug erschien, hörte man schon aus bedeutender Entfernung den brausenden Jubel, mit welchem er überall begrüßt wurde. Die Straßen, welche er berührte, waren gedrängt voll Menschen, so daß eben nur ein enger Raum übrig blieb, und alle Fenster, bis zu den Dächern hinauf, waren von Zuschauern besetzt.
Nach einer den Zug eröffnenden Reiterabtheilung schritten in prächtiger Haltung die Turner einher, als die Vertreter jugendlicher Kraft. Hieran schlossen sich, den Jubel der Zuschauer munter erwidernd, die oberen Classen der Schulen. Weißgekleidete Jungfrauen, mit Eichenkränzen geschmückt, bildeten die liebliche Ehrenbegleitung der nun folgenden Veteranen. Ein ergreifenderes Bild konnte man sich kaum vorstellen: hier die zarten Jungfrauen, an der Schwelle eines freudenreichen Lebens stehend, und dort diese würdigen Greise, denen vielleicht nur noch wenige und leider oft genug auch gar karge Tage zugezählt sind. Aber ein Lichtblick sollte dieses Ehrenfest gewiß für den Lebensabend der Veteranen sein, und der begeisterte Zuruf, der ihnen von allen Seiten zu Theil wurde, war ein vollgültiger Beweis, daß man heute dankbaren Herzens der Dienste gedachte, welche jene einst dem bedrückten Vaterlande geleistet hatten. Aus allen Fenstern wehten Tücher, und was in der vorgerückten Jahreszeit an Blumen noch aufzutreiben gewesen war, das hatte man herbeigebracht, um sie den greisen Helden zu weihen. Von allen Seiten flogen Bouquets und Kränze auf den Zug hernieder, und die alten Krieger wußten oft ihren Blumenreichthum gar nicht mehr unterzubringen. Eine lange Wagenreihe brachte zuerst zumeist die gebrechlicheren Veteranen, und da sah man denn oft die offenen Wagen fußhoch mit Blumen angefüllt. Die Gefeierten waren von dieser Theilnahme sichtbar ergriffen. Viele konnten ihre Thränen nicht zurückhalten, und den meisten versagte vor Rührung die Stimme, wenn sie den rings aufbrausenden Jubel durch dankenden Zuruf erwidern wollten.
Im Publicum hatte sich das Gerücht verbreitet, in einem der Veteranenwagen befinde sich auch die alte, achtzigjährige Wittwe Häusser, die Pflegerin Körner’s, als dieser sich nach dem unglücklichen Gefechte bei Kitzen im Dorfe Großzschocher bei Leipzig einige Tage von seinen Wunden erholte. Wie ein Lauffeuer war dies Gerücht durch die dichtgedrängten Zuschauerspaliere geflogen, und sowie ein neuer blumen- und kranzgeschmückter Wagen kam, war immer der erste Blick darauf gerichtet, ob nicht die wackere Alte in ihm sitzen würde. Allein Equipage auf Equipage rollte in langsamem Schritte vorüber, schon erschienen die Droschken und hinter ihnen gar mächtige Omnibus, alle voll theurer Festgäste – allein nirgends wollte sich die Erwartete zeigen, wenn auch ab und zu einmal ein freundliches bejahrtes Mütterchen, das die Veteranen in ihre Mitte genommen hatten, schon das Geflüster in den harrenden Reihen entlockte: „Das ist sie!“
Unmittelbar hinter den mit Veteranen besetzten Wagen erschien eine lange Reihe der alten Krieger, welche sich noch stark genug fühlten, das ziemlich entfernte Ziel des Festzuges zu Fuße zu erreichen. Wohl stützte sich dabei Einer und der Andere auf seinen Nebenmann, der als treuer Camerad so viel als möglich dem Schwächeren Hülfe leistete, allein Mancher war auch im Zuge, der noch heute wie vor fünfzig Jahren denselben Weg mit Flinte und Tornister zurückgelegt hätte. Trat übrigens einmal unter dieser Abtheilung hier und da ein Augenblick der Ermattung ein, so brauchten die ihnen beigegebenen Musikchöre nur den bekannten Pariser Einzugsmarsch wieder anzustimmen, bei dessen Klängen neues Feuer und neue Kraft in die Reihen der Greise zu kommen schien. Fester schloß man sich an einander an, und mit frischem Muthe wurde dann dem Commandowort: Vorwärts! Folge geleistet. Manche Veteranen hatten sich die ihnen zugeworfenen Kränze auf das Haupt gesetzt und glichen den mit dem Preise gekrönten Siegern. Die originellste Idee aber hatte ein alter Invalid, der überall, wohin er nur kam, durch seine wahrhaft jugendlich muntere Laune der Liebling des Publicums und seiner alten Kriegsgefährten wurde. Sein hölzernes Bein verhinderte ihn, den Festzug zu Fuße mitzumachen, und man hatte ihm deshalb in einem der festlich geschmückten Wagen, welche den Veteranenzug eröffneten, seinen Platz angewiesen. Die Kränzespenderinnen hatten nun aber den alten freundlichen Invaliden ganz besonders reichlich bedacht, und er kam sehr bald in Verlegenheit, wo er diese Blumengaben bergen sollte. Allein er wußte sich rasch zu helfen, denn plötzlich schnallte er sein Stelzbein ab, schmückte dasselbe mit den Kränzen und schwenke diese nun jubelnd in der Luft.
Auf die Mehrzahl der Veteranen machten die ihnen von allen Seiten gespendeten Ehrenbezeigungen jedoch einen tiefernsten Eindruck, und viele sah man, denen fortwährend helle Thränen über die gefurchten Wangen rollten. Wie Mancher gedachte der Cameraden, die vor fünfzig Jahren auf dem Schlachtfelde, welches jetzt das Ziel des Zuges war, ihr Leben aushauchten, um durch ihren Tod die Auferstehung des Vaterlandes zu besiegeln! Wie viele andere Cameraden, die jene Kämpfe glücklich überstanden, waren seither vom Leben geschieden, und wie mancher der Braven, die man hier mit Jubel begleitete, sagte sich in denselben Augenblicken mit Wehmuth, daß dieses Fest wohl die letzte Freude sei, welche ihm der Rest seines Lebens noch geboten habe!
Große Theilnahme wandte sich auch einer im Zuge befindlichen Matrone zu, welche die volle Anwartschaft hatte, das große Jubelfest mitzufeiern, wie die auf ihrer Brust erglänzenden beiden Ehrenzeichen zur Genüge bewiesen. Ein kleines an ihrer Seite hängendes Fäßchen trug die Aufschrift: neuntes Infanterieregiment Colberg – und klärte Jeden sofort über die ehemalige Stellung der Greisin auf. Wir hatten eine Marketenderin vor uns, welche den vielen sich herbeidrängenden Fragern berichtete, daß sie heute vor fünfzig Jahren auch ihren Einzug mit den Truppen in Leipzig gehalten habe. Einzelnheiten des Kampfes wußte sie jedoch nur wenig anzugeben, weil sie – so lautete ihr Bericht – den furchtbar ermatteten Soldaten nun auch habe fleißig einschenken müssen. Die bescheidene Matrone zählte jetzt 73 Jahre, doch setzte sie trotz ihres vor Altersschwäche unaufhörlich zitternden Hauptes eine Ehre darein, wenigstens eine lange Strecke, auf den Arm eines jüngeren Mannes gestützt, an der Seite der Veteranen im Zuge zu wandern, bis sie allzuermüdet von dem ihr angebotenen Platz in einem der Wagen Gebrauch machte. Louise Kowaschütz war der Name der Greisin, welche durch die ihr allseitig bewiesenen Aufmerksamkeiten innig gerührt versicherte, daß ihr dies Alles wie ein Traum vorkäme, umsomehr als sie an ihrem Wohnorte – Berlin – so ganz kümmerlich und unbeachtet lebe.
Außer Stande, alle die rührenden Einzelnheiten des Festzuges zu melden, um so weniger, als Zuschauer und Theilnehmer des Zuges fortwährend noch neue Thatsachen berichten, die von dem erhebenden Eindrucke des Ganzen Zeugniß geben, wollen wir nur noch erwähnen, daß unmittelbar hinter den Veteranen der Leipziger Schlacht Mitglieder der ehemaligen Freischaar des sächsischen Banners marschirten. Ihnen reihte sich der Leipziger Schützenbund an mit der prachtvollen mit einem Gemälde von Bleibtreu geschmückten Fahne, welche die Frauen und Jungfrauen Berlins gestiftet haben.
Der Festausschuß endlich ging den anwesenden Vertretern der deutschen Städte voraus, welche nicht minder begeisterter Jubelruf begrüßte.
In unabsehbarer Reihenfolge schlossen sich nun die Studirenden und Professoren der Leipziger, sowie Deputationen auswärtiger Universitäten, die Landgemeinden, die Sänger, Künstler, Buchhändler, Kaufleute, Gewerke und geselligen Vereine an, bis die Turner aus den benachbarten Ortschaften das Ende des Riesenzuges bildeten, dessen Theilnehmerzahl, wohl nicht zu hoch gegriffen, auf 20,000 geschätzt wurde.
Eine Anhöhe bei dem Dorfe Stötteritz, etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, war das Ziel der festlichen Wanderung. Man hatte diesen Platz nicht nur gewählt, weil hier vor fünfzig Jahren der Kampf furchtbar gewüthtet, sondern auch, weil man von diesem Punkte aus das ganze weite Schlachtfeld vollkommen übersehen kann.
Wohl mancher der Veteranen mag sich hier die furchtbaren Stunden des Kampfes vergegenwärtigt haben, welchen er damals auf dieser Stelle oder in nächster Umgebung beiwohnte. Sinnend schweiften jetzt die Blicke der alten Krieger umher, und die sie gleichsam als Ehrenwache umgebenden Jungfrauen erschienen in ihrer weißen Kleidung mit den Eichenkränzen wie Siegesgöttinnen, welche die Helden zu krönen gekommen waren.
Noch während der unendliche Festzug heranwallte, begann die Feier der Grundsteinlegung zu einem Denkmal, welches ein dauerndes und würdiges Erinnerungszeichen an den Sieg Deutschlands über schmachvolle Fremdherrschaft werden soll.
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Nach einem von sämmtlichen Männergesangvereinen ausgeführten Liede hielt der Bürgermeister von Leipzig. Dr. Koch, eine schwungreiche und würdevolle Festrede, welche wir gern vollständig wiedergeben möchten, weil sie ein Mahnruf an die ganze deutsche Nation ist. Wir müssen uns jedoch leider darauf beschränken, nur einige Stellen anzuführen.
„Tausende und abermals Tausende“ – so begann der Festredner – „bedecken heute wie vor funfzig Jahren diese Fluren. Aber welcher Unterschied zwischen dem Damals und dem Heute! Hier, wo vor einem halben Jahrhundert die Völker Europa’s rangen im vernichtenden Entscheidungskampfe, wie ihn die Welt kaum jemals vorher gesehen, hier versammeln sich heute die deutschen Volksstämme in friedlich-ernster Festesstimmung, um das Andenken an den glorreichen Sieg zu begehen, welchen unsere Väter im Dienste der Freiheit und Selbstständigkeit unsers gemeinsamen Vaterlandes auf dieser von ihrem und der Feinde Blute getränkten Wahlstatt erfochten. Und fragen wir, was uns zu dieser Feier drängt, so giebt es darauf nur die eine Antwort: Wir feiern heute an dieser Stätte die Selbstherrlichkeit deutscher Nation! Ja, die Selbstherrlichkeit, welche uns frei gemacht hat von den Banden fremden Joches, welche uns wieder einführen soll in die Reihe der Völker, die da mit zu entscheiden haben über die Geschicke der Welt.“
Hierauf schilderte er den trostlosen Zustand unsers Vaterlandes vor dem entscheidenden Kampfe und die Herrlichkeit des errungenen Sieges, der jedoch, wie sich nur zu bald erwies, die erwarteten Segnungen nicht bringen sollte. Eine freie Verfassung hatten die Fürsten Deutschlands verheißen und „statt Brodes boten sie Steine!“ Die Patrioten, welche für die Befreiung des Vaterlandes ihr Blut vergossen hatten, und an die gegebenen Versprechungen erinnerten, wurden verfolgt, eingekerkert oder verbannt. [734] Erst die Neuzeit offenbare wieder eine frischere Strömung, die sich nach allen Seiten Bahn zu brechen suche, und erst in jüngster Vergangenheit hätten ja sogar die Fürsten ihr eigenes Werk, die deutsche Bundesverfassung, als unhaltbar verurtheilt. Aber das Einverständniß zwischen den Fürsten und dem Volke sei nöthig, wenn ein glückverheißender Abschluß erzielt werden solle.
Nachdem der Redner den anwesenden Kämpfern aus dem Freiheitskriege den Dank des jetzigen Geschlechtes dargebracht und den Vertretern des deutschen Bürgerthums die Mahnung zugerufen, mit Mannesmuth und Manneswürde dahin zu trachten, daß das jüngere Geschlecht ähnlich werde jenem aufopfernden Heldengeschlechte, dessen letzte Zeugen diese Feier verherrlichen; sowie eine Verfassung zu erstreben, welche das Vaterland einig und frei mache – wurde der Grundstein eingesenkt und erfolgten von Seite des Festredners die üblichen drei Hammerschläge mit folgenden begeisternden Worten:
„Der erste Schlag gilt dem Erwachen des deutschen Volks in seinem nationalen Bewußtsein; gilt allen denen, welche dafür gekämpft, gelitten und geblutet haben!
Der zweite Schlag gilt dem treuen Ausharren in der begonnenen neuen Arbeit für die großen Endziele deutscher Nation!
Der dritte Schlag gilt dem endlichen Sieg des deutschen Volks im Ringen nach nationaler Macht und Größe, Einheit und Freiheit des heißgeliebten deutschen Vaterlandes!“
Jubelnder Beifall folgte diesen Worten, und hierauf führten noch die weihenden Hammerschläge General von Pfuel; ein österreichischer Officier; der erste preußische Freiwillige Heidemann, Baron Seidlitz und die Abgeordneten der Städte Wien, Berlin, Dresden, Hannover, Bremen, Mainz, Stuttgart und Augsburg.
Nach Absingung des Festliedes von Robert Prutz, in welches die ganze Versammlung einstimmte, brachte ein preußischer Veteran, Ingenieuroberst Mente, der Stadt Leipzig den Dank seiner Kampfgenossen dar, und hierauf setzte sich der ganze Zug wieder nach der Stadt zu in Bewegung.
Dort galt es jetzt, die Einweihung des schon von uns erwähnten Denkmales des Major Friccius zu vollziehen. Die Weihrede dabei hielt der Vorsteher des Leipziger Stadtverordneten-Collegiums, Dr. Joseph. Er feierte die Großthat der Königsberger Landwehr bei der Erstürmung des äußeren Grimmaischen Thores, das, sich einst an derselben Stelle erhebend, von diesem unsrem heutigen Bilde genau so gezeigt wird, wie es damals war. Durch diese Erstürmung war den nachrückenden Truppen der Weg in die von den Franzosen auf das Aeußerste vertheidigte Stadt gebahnt worden. Zum Schlusse drückte der Redner den Wunsch aus, es möge das gerade jetzt so ungerecht geschmähte Institut der Landwehr, welche im Befreiungskriege so Herrliches geleistet, als die kräftigste Stütze des Vaterlandes fortbestehen gegen dessen Feinde und zur Wahrung des Rechtes und der Freiheit.
Im Namen der Stadt Königsberg sprach deren Vertreter Bijork herzliche Worte des Dankes und berichtete zugleich, daß noch zwölf Veteranen vom Friccius’schen Bataillone hier beim Feste anwesend seien, die er angefordert habe, als Zeugen der ehrenden Auszeichnung ihres tapferen Anführers nach dessen Tode jetzt hier auf den Stufen dieses Denkmals zu erscheinen. Unbeschreiblich erhebend und zugleich rührend war der Auftritt, der sich nun den Anwesenden darbot. Von brausendem Jubel empfangen nahten sich die tief ergriffenen Veteranen und stellten sich bei dem Denkmal auf. Kränze und Blumen flogen ihnen von allen Seiten zu, und die greisen Veteranen vergossen Thränen der Rührung, die wohl nicht allein der ihnen bezeigten Huldigung, sondern auch dem Andenken ihres unvergeßlichen Führers galten. Von nicht geringerer Rührung zeugten die Worte des Dankes, welche am Schlusse einer der anwesenden Söhne des Major Friccius für die seinem unvergeßlichen Vater noch im Tode erwiesene Ehre aussprach.
Tief bewegt von dieser würdigen Feier trennte sich die Versammlung, und der Zug löste sich allmählich auf. Die vierte Nachmittagsstunde war bereits herangekommen, und nun versammelten sich die Ehrengäste und Festtheilnehmer in den hierzu bestimmten Sälen vier verschiedener Etablissements, weil ein einziges Local für die fast Viertausend erreichende Zahl der Theilnehmer an der Festtafel nicht wohl beschafft werden konnte. Die Veteranen wurden natürlich als Ehrengäste frei bewirthet, und an allen jenen Orten herrschte eine wahrhaft festliche Stimmung. Der Vorsitz in den vier Localen war den Bürgermeistern Berlins und Leipzigs, so wie den obersten Vertretern der Städte Wien und Stuttgart zugetheilt. Bei allen diesen festlichen Versammlungen galten die ausgebrachten Trinksprüche immer zunächst den anwesenden Zeugen jener glorreichen Zeit, den Veteranen; aber auch des Vaterlandes wurde mit treuer Liebe gedacht, und eine wahrhaft freie, glückverheißende Zukunft mit Herz und Mund gefeiert.
Eine wahrhaft glänzende Illumination der Stadt schloß das schöne Fest. Es war keine „befohlene“, wie sie Napoleon den sächsischen Städten mehr als einmal geboten hatte, wenn deutsche Bruderstämme von ihm besiegt worden waren; keine directe Aufforderung hatte dazu gemahnt, der Rath vielmehr blos angezeigt, daß er die Beleuchtung der öffentlichen Gebäude und Plätze beabsichtige. Dennoch aber erglänzte am zweiten Festabende ganz Leipzig in zauberischem Feuermeere, vor Allem aber die neuem Parkanlagen, die an die Feeenwelt alter Märchen erinnerten. Rings um die Promenaden aber brannten in strahlendem Lampenlichte die Namen von 26 der hervorragendsten Männer aus den Freiheitskriegen.
Mit diesen Flammenzeichen hatte das herrliche Fest seinen Abschluß gefunden, und gewiß haben dieselben viele Herzen zu immer größerer Liebe des Vaterlandes entzündet. Am folgenden Tage zogen die Ehrengäste der Stadt voll der schönsten Erinnerungen ihrer Heimath wieder zu. Wie manchen rührenden Auftritt gab es nun, als die Veteranen der gastlichen Stadt Lebewohl sagten! Viele von ihnen nahmen von den gestrigen Blumenspenden einen Kranz oder einen schon halbwelken Strauß als Andenken mit in die ferne Heimath, doch auch manche frische Blume wurde den braven Greisen bei ihrer Abreise noch gespendet. Fast allen aber versagte vor Wehmuth die Stimme, als sie ihren freundlichen Wirten Lebewohl sagten; Thränen erstickten den Dank, den sie darbringen wollten, und doch waren gerade diese Thränen der erhabenste Ausdruck des Dankes. Die bejahrten Helden nahmen Abschied von dem Schauplatz ihrer früheren Waffenthaten, von der Stadt, die einst Zeuge ihrer Tapferkeit war und die – das sagte sich wohl so Mancher mit Wehmuth – die sie jetzt zum letzten Male gesehen hatten. Derselbe Gedanke mochte auch das jüngere Geschlecht ergreifen, welches die Veteranen zu den Bahnhöfen geleitete, denn mit Thränen reichte man den gerührten Greisen die Hand zum Lebewohl. Wir waren Zeuge, wie noch im Augenblicke der Abfahrt ein silberhaariger Veteran sich zum Wagenfenster herausbog und weinend rief. „Lebe wohl, und Gottes Segen werde dir, du gute, liebe Stadt! Du hast uns reichlich vergolten, was wir vor fünfzig Jahren gethan!“
Diesen Dank aber, so rührend er auch war, müssen wir zurückweisen und dafür an die ganze deutsche Nation die gewichtige, ernste Frage stellen: Was hast du für jene heldenmüthigen Kämpfer gethan, welche dich vom Joche fremder Unterdrückung befreiten? – Eine leider höchst traurige Antwort hat das Bild so vieler Veteranen gegeben, die der Aufforderung, sich an dem Jubelfeste des glorreichen Sieges zu betheiligen, gefolgt waren. Nur durch Unterstützungen einiger Städte oder Gemeinden war es ihnen möglich geworden, die Reise zu unternehmen, und hier erschienen sie, ein Bild der Entbehrung und Armuth. Unter den etwa 1400 Veteranen, welche nach Leipzig gekommen waren, bestand die „weit größere Hälfte“ aus Männern, die daheim den Rest ihrer Lebenstage in Kummer und Elend fristen! „Ordenszeichen“ hat ihnen wohl das dankbare Vaterland nach Recht und Gebühr verliehen, aber man hat leider vergessen, diesen ehrenden Auszeichnungen auch noch – „Brod“ hinzuzufügen. Um wie viel drückender aber muß jenen Armen ihre Noth erscheinen, wenn sie jetzt daheim wieder bei ihrem Mangel des Jubels und Ueberflusses der erhebenden Festtage gedenken! Muß sich ihnen nicht ganz von selbst die Frage aufdrängen: wenn unsere Thaten noch jetzt nach fünfzig Jahren einer solchen Verherrlichung werth maren, warum läßt man uns im Alter noch darben? Und wie viele Kämpfer jenes Freiheitskrieges giebt es nicht noch, welche an dem Siegesjubelfeste nicht Theil nehmen konnten, weil gar zu bittere Armuth sie drückte, weil sie vielleicht keinen Rock hatten, um auf demselben ihre „Ehrenzeichen“ zu befestigen, oder weil Elend und Siechtum sie daheim auf das kümmerliche Schmerzenslager fesselt?
Deutsche Männer und Frauen aller Stämme! Ihr habt ein langverjährtes Unrecht gut zu machen, indem Ihr mit allen Euch zu Gebote stehenden Kräften dahin wirkt, daß die altehrwürdigen Blutzeugen der Befreiung Deutschlands nicht hungernd und darbend in das ihnen vielleicht schon so nahe Grab sinken! Sammelt und [735] sendet Gaben, so viel Ihr könnt! Oder soll man Euch als Beispiel erst noch jene Nation vorhalten, gegen deren Herrscher jene Kriege geführt wurden? Soll Deutschland gegen seine Braven, welche der Befreiung des Vaterlandes Blut und Leben weihten, nicht auch dankbar sein? Nein – nein! Wohl werden auch von anderen Seiten gleiche Mahnungen ergehen, und gewiß wird Niemand denselben sein Herz verschließen. Das Bewußtsein, jenen Greisen noch den kurzen Abend ihres Lebens verschönt zu haben, ist eine Belohnung, welche die Liebesgaben hundertfach aufwiegen wird.[1]
Das walte Gott!
- ↑ Ich habe den herzlichen Worten meines Mitarbeiters nur noch die Versicherung hinzuzufügen, daß ich etwaige Geldsendungen gern in Empfang nehmen und an die betreffenden Comité’s befördern werde.
Ernst Keil.