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Autor: Gustav Karpeles
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Titel: Das Lottchen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 722–724
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Lottchen.

Von Gustav Karpeles.

Es war etwa um die neunte Stunde eines schönen Sommermorgens im Jahre 1887, als an der Parterrewohnung des stattlichen Patrizierhauses Esplanade 39 in Hamburg heftig geschellt wurde. Es dauerte ziemlich lange, bis eine scharfe Frauenstimme, ohne zu öffnen, von innen heraus die Frage erschallen ließ: „Die Milchfrau?“

„Nein!“

„Wer sonst?“

„Die Kaiserin von Oesterreich.“

Die Fragende war Frau Charlotte von Embden, die Schwester Heinrich Heines, die Antwortende die Kammerfrau der Fürstin auf Oesterreichs Herrscherthron, die das Andenken Heinrich Heines hoch in Ehren hält und an jenem Tage eigens nach Hamburg gefahren war, um von der einzigen noch lebenden Schwester des Dichters Auskünfte über sein Leben und seine Schöpfungen sich zu erbitten. Man kann wohl sagen, daß seit jenem Tage das Lottchen – so nannte Heine seine Schwester mit Vorliebe – wieder populär geworden ist, nachdem die geschäftige Fama sie jahrelang in Ruhe gelassen hatte. Nur von Autographenjägern und neugierigen Verehrern des Dichters wurde die alte Frau in den letzten Jahren mehr als billig heimgesucht, bis durch die Kaiserin von Oesterreich die Erinnerung an sie, die in stiller Muße ihr Alter genoß, in weiterer Oeffentlichkeit wieder wachgerufen wurde.

Am 18. Oktober d. J. feiert die Schwester Heinrich Heines ihren neunzigsten Geburtstag! Ich meine, das ist die würdigste Gelegenheit, um von ihr selbst und von ihren Beziehungen zu dem berühmten Bruder ausführlich zu sprechen.

Charlotte Heine wurde am 18. Oktober 1800 (nicht, wie alle Biographen und auch ich bisher geschrieben, 1803 oder 1805) als die erste Tochter von Samson und Betty Heine in Düsseldorf – zehn Monate nach ihrem Bruder Harry – geboren. Sie war des seltsamen Knaben frohe Spielgenossin; sie theilte seine Arbeiten, seine kindlichen Sorgen und Hoffnungen, und sie blieb auch seine einzige und beste Freundin, die Vertraute seiner Freuden und Leiden bis zu seinem Tode. Lottchen war ein aufgewecktes, ein kluges und munteres Mädchen. Von ihren Jugendspielen mit dem Dichter wissen die Biographen manches hübsche und anmuthige Bild zu entwerfen. Mit Vorliebe suchten die beiden Kinder Reime zu machen. In aller Frühe, wenn die anderen noch in tiefem Schlummer lagen, spielten sie schon miteinander auf dem Hofe. Eines Tages quälte sich Lottchen vergebens; sie konnte die gewünschten Verse nicht finden. Da wandte sie sich an den Bruder: „Dir ist es leicht, Reime zu finden, mir wird es sehr schwer. Wir wollen nun ein anderes Spiel spielen. Ich werde eine Fee vorstellen, wir bauen einen Thurm, und ich bewohne ihn; Du bleibst draußen stehen, singst und findest Reime.“

Und in der That bauten sie nun einen Thurm aus leeren Kisten, die sie beide eine auf die andere stellten. Dann kletterte die Kleine hinauf bis zu der letzten Kiste und sprang hinein. Die Fee war verschwunden; denn die Kiste war höher als das Kind.

Als Heine seine Schwester nicht mehr erblickte, wurde ihm bange und er lief ins Haus, um Hilfe rufend. Charlotte versuchte nun, sich selbst zu befreien, die Kisten fingen an zu schwanken, und furchterfüllt kauerte sie laut weinend in einer Ecke nieder. Als man ihr zu Hilfe eilte, blieb sie still und stumm in der Ecke sitzen. Sie fürchtete Strafe, weil sie ihr bestes Kleid angelegt und beim Hineinspringen zerrissen hatte; doch als sie das laute Weinen ihres Bruders hörte, rief sie ihm zu: „Harry, ich lebe, aber mein Kleid ist zerrissen!“ Nicht ohne Schwierigkeiten wurde sie von dem selbsterbauten Thurm heruntergeholt, und Harry umarmte sie stürmisch, überglücklich, sein Schwesterchen wieder am Leben zu finden. Noch am Abend seines Daseins, wenige Wochen vor seinem Tode, erzählte Heine, daß er nie den freudigen Eindruck vergessen, den er damals als achtjähriger Knabe empfunden habe.

Die Fürstin de la Rocca, die Tochter von Charlotte von Embden, erzählt in ihren „Erinnerungen“ noch manche liebenswürdige Geschichte aus der Kindheit Heines und seiner Schwester.

Ein schönes Denkmal hat Heine zur Erinnerung an jene Kinderzeit seiner Schwester in dem Gedicht „Heimkehr“ gewidmet, welches folgendermaßen lautet:

„Mein Kind, wir waren Kinder,
Zwei Kinder, klein und froh;
Wir krochen ins Hühnerhäuschen,
Versteckten uns unter das Stroh.

Wir krähten wie die Hähne,
Und kamen Leute vorbei –
‚Kikereküh!‘ sie glaubten,
Es wäre Hahnengeschrei.

Die Kisten auf unserem Hofe,
Die tapezieren wir aus
Und wohnten drin beisammen
Und machten ein vornehmes Haus.

Des Nachbars alte Katze
Kam öfters zum Besuch;
Wir machten ihr Bückling’ und Knixe
Und Komplimente genug.

Wir haben nach ihrem Befinden
Vorsorglich und freundlich gefragt;
Wir haben seitdem dasselbe
Mancher alten Katze gesagt.

Wir saßen auch oft und sprachen
Vernünftig wie alte Leut’
Und klagten, wie alles besser
Gewesen zu unserer Zeit;

Wie Lieb’ und Treu’ und Glauben
Verschwunden aus der Welt,
Und wie so theuer der Kaffee,
Und wie so rar das Geld! – – –

Vorbei sind die Kinderspiele,
Und alles rollt vorbei, –
Das Geld und die Welt und die Zeiten
Und Glauben und Lieb’ und Treu’.“

Da sie ins Leben eintrat, war Charlotte, die nicht nur ein geistreiches, sondern auch ein schönes Mädchen war, bald die gefeierte Heldin auf allen Festen und Bällen in Düsseldorf, die allen jungen Männern den Kopf verdrehte und das Herz schwer machte. Als die Eltern Düsseldorf verließen, war es ihre erste Sorge, Charlotte zu verheirathen. Wenn ich recht unterrichtet bin, war es Heinrich Heine selbst, der bei seinem Aufenthalt in Hamburg die Bekanntschaft von Moritz Embden machte und mit diesem fortwährend von seiner kleinen Schwester sprach. Embden war neugierig und wollte das schöne, merkwürdige Mädchen kennenlernen. Als er sie sah, hatte er auch bereits sein Herz verloren; sie wurde seine Gattin, und das Hochzeitsgedicht, welches Heine seiner Schwester bei der Vermählung am 22. Juni 1823 auf dem Zollenspieker zwischen Lüneburg und Hamburg machte, soll alle Festgenossen entzückt haben. Er selbst schrieb an Moses Moser: „Es war ein schöner Tag der Festlichkeit und Eintracht. Das Essen war gut, die Betten waren schlecht und mein Oheim Salomon war sehr vergnügt.“

Als Charlotte von ihrem Bruder Abschied nahm, rieth er ihr, die Verse ihres Gatten – denn Moritz Embden versuchte sich in den Mußestunden, die ihm sein kaufmännischer Beruf ließ, auch als Dichter – nur ja recht eifrig zu loben, denn sonst könnte das Unterlassen leicht eine Uneinigkeit in der Ehe hervorrufen. Im „Buch der Lieder“ findet sich auch ein hübsches Gedicht, welches diesen Rath an seine Schwester wiederholt:

„Und lobst du meine Verse nicht,
Laß ich mich von dir scheiden.“

Die geistige Entwicklung Heines und seinen wachsenden Dichterruhm verfolgte Charlotte mit der innigsten und lebhaftesten Theilnahme. War sie früher seine liebevolle Gespielin, so wurde sie nun auch die aufmerksame, theilnehmende und rathgebende Freundin ihres Bruders, an die er sich in allen seinen Lebensnöthen wenden durfte. Zwischen ihm und seiner Schwester gab es keine Entfremdung, wie oft er auch mit den Brüdern und manchmal sogar mit dem Schwager in Zank und Streit gerathen mochte. Stets war Charlotte die treue und liebenswürdige Vermittlerin, die entweder des reichen Oheims Zorn zu besänftigen oder des Dichters Launen zu beschwichtigen hatte.

Und kein schöneres Zeugniß für des Dichters gemüthstiefe Bruderliebe besitzen wir als das Blatt, welches er in das Album seiner Schwester eingeschrieben:

„Wir können die Menschen füglich in zwey Klassen eintheilen: 1stens diejenigen, die uns lieben, 2tens diejenigen, die uns oft und deutlich sagen, daß sie uns lieben.

Mich, liebes Lottchen, kannst Du dreist zur ersten Klasse rechnen. Ich bin Dir herzlich gut, wenn ich auch nicht viel Aufhebens davon mache.

Dein Bruder
Harry Heine.“

Wenn Frau Charlotte in ihrem stattlichen, in altpatrizischer Weise vornehm ausgestatteten Zimmer in ihrem Lehnstuhle sitzend den Erinnerungen ihrer Jugend nachgeht, dann ist es vor allem jener Triumphzug, den sie auf einer Badereise in den zwanziger Jahren nach dem Rhein und Süddeutschland gemacht [723] hat, von welchem sie mit besonderer Vorliebe und mit wahrem Eifer erzählt. Zunächst gab sie bei Immermann einen Empfehlungsbrief ihres Bruders ab. Immermann stellte sie seinen Gästen nur als Madame Embden aus Hamburg vor, aber im Verlaufe des Gespräches hielt er es nicht länger aus und sagte es allen, daß diese Frau die Schwester Heines sei, und nun war des Jubels kein Ende. In Frankfurt a. M. gab Rothschild ihr zu Ehren eine große Abendgesellschaft. Alle waren schon versammelt, als die mit Spannung Erwartete ankam. Der Diener riß die Thür auf und rief mit Stentorstimme, da er ihren Namen vergessen hatte, in den Saal hinein: „Madame, die Schwester Heines!“ Die interessanteste war aber unstreitig jene Bekanntschaft, welche Charlotte Embden in Göttingen machte. Dort lernte sie den Grafen August v. Platen kennen. Aber vorsichtig umging sie alle Fragen nach ihrer Familie, weil sie glaubte, der Name Heine*[1] würde bei dem Dichter keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Platen war von ihrer Liebenswürdigkeit entzückt und besuchte sie in ihrem Hause. Als er ihr aber beim Abschiede ehrerbietig die Hand küßte, sagte er: „Gnädige Frau, wollen Sie mir eine Frage beantworten? Haben Sie je die Bibel gelesen?“

Frau Charlotte sah ihn erstaunt an und wußte nicht, was sie antworten sollte.

„Kennen Sie, meine Gnädige,“ fuhr der Dichter fort, „die Stelle in der heiligen Schrift: ‚Bin ich der Hüter meines Bruders?‘ Seien Sie meiner höchsten Achtung versichert und genehmigen Sie die aufrichtigsten Wünsche für Ihr Wohl. Mögen die Bäder von Schwalbach Ihnen Genesung bringen.“

Charlotte blieb stumm. Als sie ihrem Bruder diese Scene erzählte, wurde Heine ernstlich böse und sagte zu ihr: „Aber, liebes Lottchen, Du hast doch sonst die Zunge am rechten Fleck, wie konntest Du nur schweigen und nicht die Gelegenheit benutzen, ihm sein Unrecht hernach vorzuhalten?“ Die Fürstin de la Rocca berichtet, daß Heine zum ersten Male damals seiner Schwester böse war, daß sie ihn aber mit liebenswürdiger Hingebung bald zu versöhnen und das schöne geschwisterliche Verhältniß wieder herzustellen wußte.

Auch in Paris bewahrte er der Schwester seine treue Anhänglichkeit. Man kann sich wirklich nichts Liebenswürdigeres denken als den Brief, den er am 13. Februar 1834, nachdem er aus Hamburg die Kunde von der Geburt eines Kindes empfangen hatte, nach Hause schrieb:

„Liebe Mutter, lieber Max und liebes Lottchen!

Vor anderthalb Minuten erhielt ich den lieben Brief, worin mir unsere glückliche Niederkunft gemeldet wird. Ihr hattet mich also getäuscht, indem Ihr mir sagtet, daß wir erst zum Frühjahr in die Wochen kämen.

Mit tiefem Weh sah ich dem Frühling entgegen. Mein Herz ist jetzt so erleichtert, daß ich vor Freuden tanzen möchte. – Ich umarme Dich, liebes Lottchen und ich sehne mich nach nichts in der Welt mehr, als daß ich die alte Gluck’ und Dich, die junge Gluck und Deine kleinen Küchelchen wohl wiedersehe. Schreibe nur gleich, wie Du Dich befindest. Lebt wohl und behaltet freundschaftlich im Andenken Euren ergebenen H. Heine.“

In späteren Briefen beklagt er bitter, daß er ohne Nachricht über das Befinden seiner Schwester sei: „Ein Wochenbett ist doch kein gewöhnlicher Zustand, und da gebührt es sich wohl, daß ich etwas von dem Wohlsein meiner Schwester erfahre. Wenn Ihr mich bei so wichtigen Umständen öfters ohne Brief laßt, kann ich wirklich krank werden. Ich habe mir fest und steif vorgenommen, recht wirklich krank zu werden, um mich an Dir wegen Deines langen Stillschweigens zu rächen.“

Die ganze Liebe zu seiner Schwester bekundet sich aber in den Briefen, welche Frau Charlotte als ein theures Andenken in ihrem Schreibtisch neben ihren eigenen Erinnerungen, die sie sorgfältig aufgezeichnet, mit treuer Fürsorge bewahrt. Es sind etwa 120 Briefe, die meisten an sie selbst gerichtet, voll froher Laune, voll von glücklichem Humor, aber auch voll von bitterem Sarkasmus, voll von tiefer Verstimmung und brennendem Schmerz, je nachdem die Verhältnisse und Lebenslagen waren, in welchen der Dichter sich an seine Schwester gewandt hat. Wie ein Heiligthum thronte die Liebe zu dieser Schwester in seinem Herzen, und keine Verstimmung vermochte sie daraus zu reißen.

Als sich die beiden Geschwister im Jahre 1843 wiedersahen, empfanden sie beide eine tiefe und innige Freude. Bei dieser Gelegenheit machte Charlotte die Bekanntschaft von des Bruders Gattin Mathilde und suchte auch mit dieser, so weit dies bei den verschiedenartigen Charakteren möglich war, ein liebevolles und freundliches Einvernehmen herzustellen. In den trüben Tagen, welche dieser Reise folgten, als der Dichter mit seiner Familie wegen der Pension sich entzweite, war Charlotte eine treue Vermittlerin. Aber es gelang ihr diesmal nicht wie früher so oft, den gewünschten Frieden wieder herzustellen.

Nur noch einmal sah sie ihren Bruder wieder; es war im Winter des Jahres 1855, zwei Monate vor seinem Tode. Der Dichter lag schwer leidend in seiner „Matratzengruft“, da trat Charlotte bei ihm ein. Sie litt wahre Qualen bei dieser Zusammenkunft, es war ihr herzzerbrechend, ihren Bruder, den einst so schönen und lebensfrohen Mann, so abgemagert und hilflos wiederzufinden. Und dennoch hatte die starkgeistige Frau die Kraft, ihm diesen Eindruck zu verbergen. „Sie that alles, um seine Leiden zu erleichtern, sie errieth seine Wünsche, ehe er sie äußerte, sie errieth seine Gedanken, und beide wahlverwandten Seelen verstanden sich, auch ohne zu sprechen. Er fühlte die Nähe seiner Schwester, wenn er auch regungslos und mit geschlossenen Augen dasaß.“ So erzählt Charlottes Tochter, die Fürstin Marie de la Rocca. Und als Charlotte abreisen wollte, bat sie der Bruder, noch einige Zeit zu bleiben. „Charlotte, wir werden uns nicht wieder sehen!“ wiederholte er beständig. Die Schwester versprach, im Frühjahr wieder zu kommen; die Trennung war eine tiefschmerzliche, und als das Frühjahr kam, da deckte die feuchte Erde des Bruders Grab.

Charlotte von Embden ist seit dem Jahre 1866 Witwe und lebt nur noch ausschließlich den Erinnerungen an ihren großen Bruder. Ein liebevoller, vortrefflicher Sohn, Ludwig Freiherr v. Embden, laut testamentarischer Verfügung der Herausgeber des litterarischen Nachlasses von Heine, widmet ihr die zärtlichste Sorge. Und drei glücklich verheiratete Töchter – in Neapel, London und Berlin – schmücken ihren Lebensabend. Noch heute in ihrem neunzigsten Lebensjahre hat sie etwas von der Anmuth ihrer Jugend. Schwebenden Schrittes, rascher als manches junge Mädchen, eilt sie durch die Zimmer. Wenn sie in ihre Erinnerungen sich vertieft, erglänzen ihre Augen in jugendlichem Feuer. Sie kann stundenlang sprechen, ohne sich zu erschöpfen, bis ihr treuer Sohn und wahrhaft hingebungsvoller Pfleger Ludwig sie daran erinnern muß, sich zu schonen. Auch etwas von dem Sarkasmus, von dem scharfen Witz des Bruders ist auf sie übergegangen. In ihren jungen Jahren war das Embdensche Haus ein Mittelpunkt edelster Geselligkeit, wo Karl Gutzkow, Franz Liszt, Ludwig Wihl, Feodor Wehl, K. Töpfer, die Familie Assing, Therese v. Bacharacht oft und gern verkehrten. Charlotte entzückte damals wie heute – an der Schwelle des neunzigsten Lebensjahres – alle Besucher durch ihren regen Geist, der sich für alle Fragen der Litteratur und Politik interessirt, durch ihren Witz und ihre Liebenswürdigkeit. Die Stunden, welche ich im Hause der liebenswürdigen Greisin verlebt habe, werden mir unvergeßlich bleiben. Ihre Erzählungen aus dem Leben Heines sind die beste Biographie des Dichters und charakerisiren sein Leben und Schaffen eindringlicher als die gelehrtesten ästhetischen Biographien, über die Frau Charlotte gelegentlich auch mit einem scharfen Witz sich lustig zu machen versteht. Für mich ist, da ich diese Zeilen schreibe, namentlich eine ihrer Erzählungen von besonderem Interesse, deren Eindruck mir niemals schwinden wird.

Auf meine Frage nach dem „Rabbi von Bacharach“ erzählte mir Frau Charlotte zum ersten Mal, daß das Werk keineswegs, wie die meisten Biographen annehmen, ein Torso gewesen, sondern daß Heine dasselbe wirklich vollendet habe! Der Hamburger Tempelprediger Dr. Gotthold Solomon, dessen Heine wiederholt in seinen Briefen gedenkt, habe den Roman gelesen und ihn als das beste Bild des altjüdischen Ghettolebens mit warmen Worten gepriesen. Bei dem großen Hamburger Brande im Jahre 1842 aber ging diese Novelle wie alle übrigen Schöpfungen aus des Dichters Jugendperiode leider in Flammen auf. Er selbst schrieb darüber an Ludwig von Embden: „– daß meine Manuskripte und Schriften ein Raub der Flammen geworden, ist mir ein unersetzlicher Verlust. Diese Manuskripte enthielten die Produke meiner ersten Jugendkraft, und nie werde ich wieder so [724] schreiben können. Ich wollte sie liegen lassen, um später, wenn meine Geistesfrische abnehmen sollte, was bei meiner geschwächten Gesundheit nicht unwahrscheinlich ist, von diesem Kapital in meinen alten Tagen zu zehren.“

Betty Heine, die Mutter des Dichters, wohnte damals auf dem Neuen Wall, weit von dem Herde des Feuers, das sich aber in den folgenden Tagen immer weiter ausdehnte. Sie siedelte nun zu ihrer Tochter Charlotte nach der Theaterstraße über. Dort lag sie eines Tages schlummernd auf dem Sofa, als plötzlich die Bonne der Kinder schreiend in das Zimmer trat: „Madame, das Feuer hat den Neuen Wall erreicht, wenn Sie noch etwas retten wollen, müssen Sie sich beeilen!“

„Harrys Papiere müssen in Sicherheit gebracht werden,“ erwiderte die alte Frau rasch. „Sie sind in eine Kiste verpackt, die in meinem Schlafzimmer unter einem Schrank steht. Ich muß selbst hin.“

Aber Charlotte wollte dies nicht zugeben. Ohne die Gefahr zu ahnen, der sie sich aussetzte, eilte sie sofort nach dem Neuen Wall, mit dem Versprechen, die Papiere bestimmt zu bringen.

In wahrhaft dramatischer Weise erzählte nun die greise Frau mir das folgende: wie sie glücklich an das Haus gelangt, da erst der untere Theil der Straße brennt, wie sie die Wohnung der Mutter betritt, dort alles erbrochen findet und zwei wild aussehende Menschen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein antrifft. Ohne sie zu beachten, eilt sie flüchtig dahin, wo die Kiste mit den Papieren steht. Aber einer der Arbeiter ist ihr mit einer Axt gefolgt. Unerschrocken wendet sie sich zu ihm: „Schlagen Sie mir die Kiste ein!“ In der Hoffnung, darin Kostbarkeiten zu finden, folgt er bereitwilligst ihrem Befehl, ist aber sehr enttäuscht, nichts als beschriebenes Papier in der Kiste zu finden. Charlotte nimmt nun das ganze Packet mit den Manuskripten, schnürt es zusammen und eilt nach dem Hausflur. Aber ehe sie die Straße erreicht, hat sich die Scene plötzlich in entsetzlicher Weise verändert. Das Feuer ist mit rasender Schnelligkeit näher gerückt, ein furchtbarer Sturm ist ihm vorausgeeilt und ein Funkenregen dringt auch in dieses Haus ein. Jeder Widerstandsversuch ist unmöglich. Ringsum das Geprassel der Flammen, das Krachen der zusammenstürzenden Häuser, das Schreien und Rufen von Frauen und Kindern, das Fluchen der Löschmannschaft, ein wildes Drängen und Stoßen, ein bewußtloses Durcheinander. Sie aber hält krampfhaft das Bündel mit den Manuskripten ihres Bruders fest. Da wirbelt plötzlich eine dichte Rauchwolke durch das Haus, die alles zu ersticken droht, ein funkensprühender Aschenregen versengt ihre Kleider; ihre Kräfte verlassen sie, sie fällt in Ohnmacht und wird von einem Spritzenmann auf seine starken Schultern geladen und fortgetragen. Da sie nach einiger Zeit wieder zur Besinnung gelangt, liegt sie auf einer Bank. Ihr Retter ist verschwunden, aber auch das Packet mit Manuskripten hat sie fallen gelassen und verloren. …

Einen reichen Schatz von großen und merkwürdigen Erinnerungen wie die oben erzählte birgt Charlotte von Embden in ihrem Geiste. Wohl geordnet liegen in ihrem Kopfe alle diese Erzählungen und Gedanken neben einander. Sie hat nichts vergessen in ihrem hohen Alter von ihrer schönen Jugend, sie hat alles treu bewahrt und, wie sie mir wiederholt versicherte, sorgsam aufgeschrieben. Aber sie wünscht nicht, daß diese Erinnerungen und jener Schatz der bereits erwähnten Briefe des Dichters bei ihren Lebzeiten veröffentlicht werden.

Nun denn, so wichtig ist uns keine Erinnerung aus dem Leben Heinrich Heines wie seine eigene Schwester, die ja die schönste Blüthe in seinem Lebenskranze war. Möge es der greisen Frau noch lange beschieden sein, in ungetrübter Heiterkeit und Geistesfrische an dem Göttergeschenk hohen Alters sich zu erfreuen!


  1. * Heine hatte im dritten Bande seiner „Reisebilder“ auf einige Angriffe Platens in überaus scharfer Weise geantwortet.