Das Leiden eines Buches
[515] Die Leiden eines Buches. Bücher haben ihre Schicksale und gerade die guten nicht die freundlichsten – davon wäre manche Geschichte zu erzählen, aber kaum eine, die durch schlichte Geradheit, gehaltene tiefe Stimmung unmittelbarer zu Herzen ginge als „Phaläna“, eine neue Novelle von Karl Weitbrecht (Schröter, Zürich), für welche eben die Leiden eines Buches, die unverdienten eines guten natürlich, den Mittelpunkt abgeben – oder eigentlich nicht die Leiden des Buches selbst, sondern der ganzen idealen Anschauung, die darin lebt, des Dichters, der sich diese durch ein Dasein der Noth und Enttäuschung, der bitteren Einsamkeit hindurch nicht hat nehmen lassen und ihr, ein Sechzigjähriger, in seiner letzten Gedichtsammlung „Phaläna“ noch einmal ergreifenden Ausdruck gegeben hat. Die Schicksale eines Exemplars dieser Gedichtsammlung sind es nun, die uns erzählt werden, seine Wanderungen von der Buchhandlung der Stadt aus, in welcher der Dichter Paulus Wikram lebt. Ueberallhin wird es gesandt, wo ein Liebhaber dafür vermuthet wird, von überallher kommt es zurück, um endlich von Wikram selbst gekauft zu werden, der ein Geschenk damit machen will. Aber – das Buch ist von seiner Odysseusfahrt nicht unbeschädigt zurückgekehrt; als Wikram es daheim aus dem Futteral zieht und aufschlägt, blicken ihm schmutzige Flecken entgegen und ein Zettel, auf dem eine freundliche Schwester in Apoll „den Poeten bedauert, der es geschrieben. Verse bringen nichts.“ Da schleudert er erst den Band hinter den Ofen und läßt ihn dann säuberlich verbrennen: die Leiden des Buches sind zu Ende – nicht seine eigenen.
In diesen einfachen Rahmen, der nur Platz zu haben scheint für eine Anzahl getrennter, einzeln nebeneinanderstehender Skizzen, hat Weitbrecht ein einheitliches Bild voll wahrer dichterischer Kraft gestellt, auf dem eine Reihe der prächtigsten Gestalten sich abhebt, vor allem die des einsamen Doktor Wikram, des Telegraphisten Böhringer mit seiner ruhigen Pflichttreue, seiner verborgenen Gefühlswelt, des genialen Pferdezeichners Jakob Kleinknecht, dem es darauf ankommt, daß „einer ein Kerl ist“, und der sich als „Beduine zwischen seinen Pferden“ sehr auf seine eigene Weise mit Welt und Litteratur abfindet. Dabei wechselt Ernst des Gedankens und der Stimmung mit jenem echten Humor, der die schneidenden Gegensätze und Widersprüche des Lebens in stilles Lächeln aufzulösen weiß; nur auf handwerksmäßiges Streberthum und sinnloses, anmaßendes Wortgeklingel in der Litteratur der Gegenwart fällt ein scharf satirisches Licht, das in einem poetischen Anhang „Seefahrt“ in gesteigertem Maße funkelt. Die Erzählung selbst klingt mit dem Tode Paul Wikrams wehmüthig aus: Weib und Kind hat ihm der Tod schon vor einem Jahrzehnt geraubt, aber in Maja, der Tochter der Frau, welcher er einst seine erste große Liebe dargebracht hat, wird ihm am Abend seines Lebens noch einmal ein Gemüth, das ihm in treuer Freundschaft anhängt und ihn versteht, in dem sein hoher Sinn eine Heimath findet. Allein nur Monate dauert dieses Aufleben – Wikram wird von tödlicher Seuche ergriffen und stirbt in dem Spital, in das Maja als Krankenpflegerin eingetreten ist. Sie drückt „die erloschenen Dichteraugen zu, die sich satt getrunken hatten an Leid und Schönheit, an Gram und Liebe“, und wie sie nun die einsame Totenwacht hält, da ruht ihr Schmerz aus in dem ergreifenden Verse des Geschiedenen:
„Wenn ich Abschied nehme, will ich leise geh’n,
Keine Hand mehr drücken, nimmer rückwärts seh’n.
In dem lauten Saale denkt mir keiner nach,
Dankt mir keine Seele, was die meine sprach.
Morgendämmrung weht mir draußen um das Haupt,
Und sie kommt, die Sonne, der ich doch geglaubt.
Lärmt bei euren Lampen und vergeßt mich schnell!
Lösche meine Lampe! Bald ist alles hell.“
Damit schließt die Erzählung. Auch sie bringt da und dort etwas, was man gern ein bißchen anders haben möchte, aber nichts, was den Eindruck des Ganzen stören könnte, den Eindruck, der sich in den Wunsch kleidet: möchten diesem Buche, frisch und ehrlich und erquickend, wie es ist, die Leiden erspart sein!