Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Das Kind der Barmherzigkeit
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 203–204
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
Kurzbeschreibung:
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[203]
Das Kind der Barmherzigkeit.


Als der Allmächtige den Menschen erschaffen wollte, versammlete er rathschlagend die Engel seiner Eigenschaften, die höchsten Wächter seines Reiches um seinen verborgenen Thron.

„Erschaffe ihn nicht! sprach der Engel der Gerechtigkeit; er wird unbillig gegen seine Brüder, hart und grausam gegen den Schwächeren handeln.“

„Erschaffe ihn nicht! sprach der Engel des Friedens. Er wird die Erde düngen mit Menschenblut; der Erstgebohrne seines Geschlechts wird seinen Bruder erwürgen.“

„Dein Heiligthum wird er mit Lügen entweihen, so fuhr der Engel der Wahrheit fort, und ob du ihm dein Bildniß selbst, der Treue Siegel, auf sein Antlitz prägtest.“

So sprachen die Engel aller Eigenschaften Jehovahs, als die Barmherzigkeit, des ewigen Vaters jüngstes und liebstes Kind zu seinem Throne trat und seine Kniee umfaßte. „Bilde ihn, [204] sprach sie, Vater, zu Deinem Bilde, ein Liebling Deiner Barmherzigkeit und Güte. Wenn alle Deine Boten ihn verlassen, will ich ihn suchen und ihm beistehn und seine Fehler selbst zum Guten lenken. Eben weil er schwach ist, will ich sein Herz mitleidig machen und zum Erbarmen gegen Schwächere neigen. Wenn er vom Frieden und von der Wahrheit irret, wenn er die Billigkeit und Gerechtigkeit beleidigt: so sollen die Folgen seines Irrthums selbst ihn sanft zurückführen und liebreich bessern.“

Der Vater der Menschen erhörte sie und bildete den Menschen. Ein fehlbar-schwaches Geschöpf; aber in seinen Fehlern selbst ein Zögling der Barmherzigkeit, der Sohn einer ihn nie verlassenden bessernden Liebe.

Erinnere dich deines Ursprunges o Mensch, wenn du gegen andre hart und unbillig bist. Nur Barmherzigkeit hat dich erwählt; nur Liebe und Erbarmung hat dir die mütterliche Brust gereichet.