Das Erkennungszeichen
In einer ziemlich entlegenen Straße Bambergs erhebt sich ein Gebäude von bedeutender Ausdehnung, das städtische Spital. Früher ein gräfliches Besitzthum, das aus zwei einzelnen Häusern bestand, ward es vor Jahren zu dem gegenwärtigen Zwecke durch einen Mittelbau vereinigt, dessen Front hart an der Landstraße liegt, während die Rückseite von großen, schattigen Gärten begrenzt wird, die sich bis an die Ufer der Regnitz hin erstrecken.
Die untergehende Sonne eines Apriltages warf ihre letzten Strahlen in ein Parterrezimmer dieses Krankenhauses und erhellte die Physiognomie des hohen, etwas düsteren Gemaches. Es war ein Zimmer von ungewöhnlicher Tiefe; zwei Fenster desselben gingen nach der Straße, zwei andere, correspondirende, nach dem Garten, dessen alte, beschattende Bäume wohl immer eine gewisse Dämmerung in jenem Theile des Raumes erhalten mochten.
An einem der Gartenfenster war offenbar das Lieblingsplätzchen des Bewohners etablirt. Ein viel gebrauchter, aber trefflich gepolsterter Lehnstuhl stand vor einem soliden kleinen Tische mit geschweiften Füßen, der mit Büchern, Rauchapparat und, gerade jetzt, mit einer ziemlichen Anzahl uneröffneter Briefe bedeckt war. Weit ernsthafter blickte ein großes, mit grünem Tuch bezogenes, neben eines der hellen Fenster nach der Straße zu gerücktes Schreibpult drein, neben dem sich ein Bücher-Repositorium erhob, das fast bis zur Decke reichte. Im Contrast mit der übrigen einfachen Einrichtung stand an der langen Wand, der Thür gegenüber, ein großer, noch neuer Flügel, dessen besonders schöne und sorgfältige Holzarbeit auf ein werthvolles Instrument schließen ließ. Das Zimmer war leer. Es war ganz still darin, nur die Münchner Schnitzuhr an der Wand tickte in regelmäßigem Gange, sonst regte sich nichts.
Nun aber klirrte das Schloß der Zimmerthür; von rascher Hand ward der Schlüssel gedreht, und der Besitzer des Raumes trat ein. Er mußte nicht weit gewesen sein, denn er war in Hauskleidung, ohne Handschuhe und Kopfbedeckung, doch flog sein Blick durch das Zimmer, als prüfe er die vorhandenen Gegenstände, dann ließ er sich mit einer leichten Geberde von Ermüdung im Lehnstuhl nieder. Mit Behagen streckte er die Glieder und öffnete das Fenster, zu dem der eigenthümlich schwache Duft von jungem Laub und Baumblüthen hereinströmte, der in dieser Jahreszeit, nach Sonnenuntergang, noch wie ein Abschiedshauch des schaffenden, drängenden Tages, durch die ruhenden Gärten zieht. Dann wurde eine Cigarre in Brand gesteckt, und mit ihren leichten Wölkchen zugleich schienen mancherlei Gedanken in die kühle Abendluft hinaus zu wirbeln.
Während der junge Mann sich so dem Genuß eines Ruhestündchens überläßt, haben wir Muße, seiner Erscheinung einen Blick zu gönnen. Er mochte etwa fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahre zählen und gehörte zu jenen Gestalten, welche mehr noch die Gedanken fesseln, als das Auge. Mittelgroß, schlank, fast schmächtig, dabei aber von jener Elasticität der Bewegung, die auf eine kräftige, oft eiserne Constitution schließen läßt, lag selbst in der Ruhe, der er sich eben hingab, etwas von Energie. Der feingezeichnete, von schlicht geordnetem dunkelblondem Haar umrahmte Kopf war der eines Denkers. Die helle, frei und schön entwickelte Stirn wölbte sich über Augen von unbestimmter, sich oft verdunkelnder Färbung, deren Feuer das blasse Gesicht eigenthümlich belebte und einen stets beschäftigten, intensiven Geist verrieth. Hätte nicht um die zartgeschnittenen Lippen ein Zug von Jugendlichkeit und Lebensfrische gespielt, so wäre dies Gesicht fast zu ausdrucksvoll für einen Mann seines Alters erschienen.
„Guten Abend, Schaumberg!“ klang eine tiefe Stimme zum Fenster herein.
Der junge Mann sprang auf und grüßte achtungsvoll. „Schon zurück, Herr Director? Die Operation gut von Statten gegangen?“
„Ganz nach Erwartung,“ erwiderte der Befragte; „nichts Neues im Hause?“
„Nichts von Belang, ich komme eben aus den Sälen zurück; viele Anmeldungen nur, wie es scheint. Sehen Sie die reichhaltige Correspondenz, die mit der letzten Post eingegangen ist! Ich will mich jetzt daran machen.“
„Viel Vergnügen!“ winkte der Director, „hier haben Sie auch die Zeitung. Nichts drin heute, als lauter Projecte zu Festivitäten. Die Königin kommt wirklich nächste Woche her und soll zwei Tage bleiben. Verdammte Langweilerei! Meine Weiber denken an nichts, als an Spitzen und Bänder, und als ich heute heimkam, war das erste Wort, das die Mädels mir zum Willkommen sagten: Ball! Heirathen Sie nur nicht, Schaumberg!“
Der Assistenzarzt lachte und sah mit freundlichem Auge seinem Director nach, der durch den Garten nach seiner neben dem Spital gelegenen Privatwohnung schritt. Inzwischen war es tief dämmerig geworden, die Cigarre war ausgeraucht, und der junge [706] Mann erhob sich, um die Lampe anzustecken, die auf dem Schreibpult bereit stand. Er ergriff das Packet Briefe und setzte sich damit an den Arbeitstisch, um die letzte Berufsarbeit für den heutigen Tag vorzunehmen. Er las aufmerksam, mitunter flog ein ernster Schatten über die feinen Züge. Und doch war er daran gewöhnt, viele Briefe dieser Art zu lesen, Briefe, die fast immer eine Fülle von Leid und Sorge in ihrem engen Rahmen schließen – Briefe, die oft genug in ungeschulten, halb unleserlichen Hieroglyphen ihr schmerzliches Anliegen berichten, – Briefe, die in zitternden Charakteren den Nothschrei eines beängstigten Gemüthes zwischen den Zeilen errathen lassen, – Briefe, die, wenn sie geschäftsmäßig und gleichgültig um Aufnahme für einen Todtkranken werben, eben darum die Seele bewegen müssen – Anmeldebriefe für ein Spital!
Mit leisem Knistern fiel Schaumberg, als er ein großes, amtliches Schreiben aufnahm, ein dünnes Briefchen entgegen, dessen Ecke sich in den Spalt des stattlichen Briefcollegen ein, geschoben hatte. Er betrachtete das kleine Schriftstück einen Augenblick, ehe er es öffnete, denn allerdings trug es ein anderes Aeußere, als die übrige Correspondenz; nicht oft verirrte sich solch ein rosenfarbiges, von zartem Parfüm angehauchtes Exemplar in das Studirzimmer des jungen Klausners. Als er beim ersten Blicke sah, daß der Brief nicht die Adresse der Direction, sondern seine eigene trug, blitzte es in dem hellen Auge auf, und rasch war die Oblate gelöst. Während er las, stieg eine lebhafte Röthe ihm bis an die Stirn, er griff nach dem Couvert, um die Adresse nochmals zu untersuchen. Es trug den Stempel: „Stadtpost-Briefkasten“ und war mit derselben schrägen, offenbar verstellten Schrift bedeckt, wie das Blatt, welches es umschloß. Er las zum zweiten Male, ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen.
Der Inhalt des rosigen Briefchens war folgender:
„Eine Dame, welche Sie seit längerer Zeit beobachtet und von Ihrem Charakter die höchste Meinung gewonnen hat, wünscht lebhaft, Sie persönlich kennen zu lernen. In einigen Tagen wird die Stadt der Königin einen Ball geben. Wenn Sie denselben besuchen, so werden Sie die Schreiberin dieser Zeilen an einem Schmuck erkennen, der nicht wohl zu verwechseln ist. Derselbe hat die Form eines Malteserkreuzes und ist von alterthümlicher Filigranarbeit, mit Brillanten besetzt. Den Mittelpunkt bildet der Buchstabe E.
Erweckt die Dame, an deren Halse Sie dies Geschmeide erblicken, in Ihnen den Wunsch, sich ihr zu nähern, so schonen Sie die Beschämung, mit der nach langem Kampf diese Zeilen niedergeschrieben wurden.“
Ein paar Augenblicke nach dem zweiten Lesen dieser eigenthümlichen Zuschrift war das feine Blatt zu einem Ballen zusammengedrückt und flog in den Papierkorb.
„Dumme Mystification!“ murmelte der junge Stoiker. „Natürlich wieder einmal einer von des Assessors schlechten Witzen. Das wäre so etwas für den Patron, wenn ich, der ich nie den Fuß in einen Ballsaal setze, ihm das Vergnügen machte, auf diesen Zopf anzubeißen und mich dann hundert Jahre lang auslachen zu lassen!“
Etwas verdrießlich nahm Schaumberg die unterbrochene Arbeit wieder auf, machte auf jedem der Briefe ein flüchtiges Memorandum und vertiefte sich, nachdem dies Geschäft beendigt war, für die nächsten Stunden in das Manuscript einer wissenschaftlichen Arbeit, die ihn so fesselte, daß es bereits zehn Uhr geschlagen hatte, ehe der Schluß des Abschnittes ihn die Feder niederlegen ließ. Ueberrascht sah er nach der Uhr, griff, da er nicht Lust hatte, so spät noch auszugehen, nach den Beständen seiner Junggesellenwirthschaft, die im Wandschranke solcher Fälle harrten, klingelte nach einem Glase Bier und ließ sich das frugale Abendbrod mit jugendlichem Appetit munden.
Dann schraubte er die Lampe herunter und setzte sich an den Flügel. Nach kurzem Präludium füllten bald die vollen Accorde der Appassionata den Raum und drangen mit mächtigen Tönen durch die geschlossenen Fenster in die Nacht hinaus. Schaumberg spielte ohne Noten, ein bedeutend entwickeltes Talent entlockte dem Instrumente die reichsten Klänge. Nach dem Schlußaccord des Tonstückes verweilte die Hand des Spielers noch ruhend auf den Tasten, und erst einzelne Töne anschlagend, dann der augenblicklichen Stimmung immer mehr nachgebend, entwickelte sich in freier Phantasie ein schöner musikalischer Gedanke. Das Auge des jungen Mannes blickte träumerisch in’s Weite und schweifte durch das Fenster über die Straße.
In dem Hause gegenüber war ein Balconzimmer der Beletage erhellt, zwar nur schwach, als ob auch dort das Licht gedämpft wäre, aber doch hinreichend, um die Umrisse einer schlanken weiblichen Gestalt erkennen zu lassen, die, in einen hellen Burnus gehüllt, auf dem Balcon lehnte. Ein plötzlicher Gedanke zuckte, wie ein Blitz, durch Schaumberg’s Kopf und färbte sein Gesicht mit heller Röthe. Mitten im Accord brach er ab, zuckte ärgerlich die Achseln und schloß den Flügel. Ehe er zu Bett ging, nahm er aber aus dem Papierkorb den mißhandelten rosenfarbigen Brief hervor, glättete ihn und schloß ihn in ein Fach seines Schreibtisches.
Otto Schaumberg war, was die Masse der Menschen einen eigenthümlichen Charakter zu nennen pflegt, ein Ausdruck, der im Grunde nichts Anderes bedeutet, als ein selbstständiges Naturell.
Von Wenigen näher gekannt, galt er diesen als eine bedeutende Persönlichkeit. Er selbst war ein strenger Beurtheiler der einzelnen Personen, schwer zu befriedigen in der Wahl seines Umgangs. Unter den jungen Männern, mit denen er hier und da verkehrte, hatte er sich nur an einen früheren Universitätsgenossen, der gegenwärtig als Regierungsassessor in Bamberg angestellt war, näher angeschlossen. Wären Gleichheit der Neigungen, der Lebensweise eine Bedingung der Freundschaft, so würden nicht leicht zwei weniger passende Gefährten zu finden gewesen sein, als diese Beiden. Der Assessor von Marbach war ein Lebemann, ein Freund des geselligen Treibens, ein Satiriker, der von Allem den Schaum abschöpfte, ohne sich Zeit zu nehmen, den Becher zu leeren; dennoch war sein Umgang dem ernsten Freunde zum Bedürfniß geworden. Die frische Lebendigkeit des Assessors, der Allem, woran er vorüberstreifte, etwas abzugewinnen verstand, fiel wie heiteres Sonnenlicht in Schaumberg’s begrenzte Welt und erfrischte ihn.
So begab sich denn auch heute der junge Arzt mit einem Gefühl des Behagens nach dem Bahnhofe, um den Freund, der von einer commissarischen Reise zurückkehren sollte, dort in Empfang zu nehmen. Es war bereits spät und recht kühl. Schaumberg wickelte sich fest in seinen Mantel und warf ab und zu einen Blick auf die wenigen Gruppen, die, gleich ihm, auf dem Perron hin und her wanderten und, vom scharfen Ostwinde unbehaglich angeweht, der Ankunft des Zuges ungeduldig entgegenharrten. Nun pfiff das Signal durch die Luft, der Bahnwärter stellte die Weichen, bald erschienen, wie zwei Feueraugen, die rothen Laternen der Locomotive am Horizont, und wenige Secunden später hielt der nur aus wenigen Waggons bestehende Zug. Schaumberg’s scharfes Auge erspähte bald den erwarteten, seinem Zuruf folgte eine kräftige Gestalt mit elastischem Sprung, die leichte Reisetasche ward einem Gepäckträger übergeben, und die Freunde schüttelten sich die Hände.
„Laß Dir sagen, mein Junge,“ rief der Assessor, indem er den Schritt des heimwärts wandernden Gefährten mit leichtem Druck auf dessen Arm anhielt, „vorerst wäre ein Glas heißer Punsch nicht übel. Ich bin durchfroren vom Wirbel bis zur Zehe und möchte erst ein bischen aufthauen, ehe ich die Reise bis an’s andere Ende der Stadt mache.“
„Immer, wie Du willst, Goliath!“ nickte Schaumberg. „Nach der Restauration also, und dort, wenn Dir nicht auch die Stimme eingefroren ist, zum Reisebericht.“
„Was giebt es da viel zu berichten,“ sagte der Assessor, indem er den Mantel zurückwarf und sich’s im warmen Zimmer bequem machte. „Du kennst ja das alte Programm! Morgens Acten, Nachmittags Besichtigung von Löchern in der Chaussee und ähnlichen interessanten Gegenständen, Abends beim Landrath die unvermeidlichen Feldhühner, die noch unvermeidlicheren drei Töchter und ihre musikalischen Leistungen – dort heißt es ja in jedem Sinne stets: toujours perdrix! Ich gehöre nun einmal nicht zu den Glücklichen dieser Welt, die nach einer Abwesenheit von acht Tagen Bände voll Begebenheiten erlebt haben. Und hier im alten Neste steht sicherlich auch Alles auf dem alten, langweiligen Fleck – á propos aber, ich habe ja draußen gar nichts gesehen!“
„Ich auch nicht,“ lachte Otto, „denn es ist stark finster.“
„Nonsens! Keine Anstalten, meine ich, keine Triumphbogen [707] und Kränze, keine Fahnen und was sonst noch Alles zu dem Schwindel gehört. Heute sollte ja die Königin kommen, wie geht das zu?“
„Sie ist eben nicht gekommen. Prinzeß Mathilde hat die Masern, und so brachte schon gestern Abend ein Telegramm die Absage. Ist Dir denn heut keine Zeitung zu Gesicht gekommen?“
„Nicht hineingeguckt. Das ist ja eine verfluchte Geschichte! Was wird denn aus dem Balle morgen?“
„Einfach nichts. Die Stadt ist froh genug, ihr Geld zu sparen, sämmtliche junge Damen packen ihre Kränze händeringend wieder ein und gewisse Herren haben umsonst correspondirt.“
„Correspondirt? Und das sagst Du mit dem bekannten pfiffigen Zug um die Nase, der nur bei großen Gelegenheiten zum Vorschein kommt. Wer hat correspondirt?“
„Keine überflüssige Heuchelei, mein sehr verehrter Freund und Briefsteller auf rosa Seidenpapier! Zum ersten Male in meinem Leben habe ich den Ausfall eines Balles bedauert, auf dem der schlechteste Witz, den Eure Ehren jemals ausgeheckt, Bankerott gemacht haben würde.“
„Will ich doch jede Tochter des Landraths heirathen, sogar die, welche Verse macht, wenn ich eine Silbe von Deinen Anzüglichkeiten verstehe! Du machst mich so neugierig, wie eine Elster! Wenn es sich um rosenfarbene Briefe handelt, ist das Thema an sich schon interessant, werden aber dabei Sokrates dem Jüngeren, der über solche Allotria weit erhaben ist, die Backen so roth, wie ich dies eben vor Augen sehe, so prickelt es mich in allen Gliedern! Auf Ehre, Schaumberg, ich weiß nichts von einem Briefe, der sich auf den projectirten Ball bezieht. Und jetzt beichte!“
„Sonderbar,“ murmelte Otto, indem er die Cigarre fortwarf und den Arm aufstützte. „Ich war überzeugt, die Sache ginge von Dir aus – pah! was ist es weiter – hat wirklich eine Dame den Brief geschrieben, so ist diese Species jedenfalls nicht nach meinem Geschmack! Du kannst das lächerliche Schriftstück lesen, wenn wir nach Hause kommen.“
„Und das soll gleich geschehen,“ rief Marbach, lebhaft aufspringend. „Allons, aufgebrochen! Seh’ mir einer den Duckmäuser an! Damenbriefe! Laß mich das corpus delicti nur untersuchen, als ein Mann von Praxis find’ ich Dir schon die Fährte heraus!“
Plaudernd und einander neckend durchwanderten die jungen Männer die Stadt nach ihrer ganzen Länge, Schaumberg’s Behausung zu. Als sie noch etwa hundert Schritte vom Spital entfernt waren, prallte, bei der mangelhaften Beleuchtung jener Stadtgegend, ein Mann gegen sie an. Es war der Briefträger. Um Entschuldigung bittend, sagte er: „Da Sie es sind, Herr Doctor, so darf ich vielleicht einen Brief, den ich noch hinaufbringen müßte, gleich hier abgeben, und spare den Weg.“
Schaumberg nahm den Brief und hielt ihn noch nachlässig in der Hand, als der in den Localitäten des Studierzimmers unseres jungen Gelehrten völlig heimische Assessor bereits Licht angesteckt hatte.
„Halloh! abermals rosa, bei meinem Wort!“ rief Marbach jubelnd. „Die Sache wird interessant – rasch, gieb mir das erste Capitel des Romans und untersuche Deinerseits das zweite.“
Schaumberg sagte kein Wort; mit dem ersten Blick hatte er erkannt, daß der eben erhaltene Brief allerdings aus derselben Hand zu stammen schien, wie jener erste, vor acht Tagen empfangene, und ein gewisses Gefühl des Verdrusses, von demselben gesprochen zu haben, überkam ihn mit plötzlicher Verstimmung. „Ich wollte, Du dispensirtest mich,“ murmelte er, ohne aufzublicken.
„Warum nicht gar!“ lachte der Assessor. „Versprechen macht Schulden – überdies hast Du mich in falschem Verdacht gehabt, und ich verlange dafür Genugthuung. Nimm nur nicht Alles so schwerfällig, alter Junge! Beruhigt es Dein zartes Gemüth, so gelobe ich Dir mit deutschem Handschlag Discretion und Schweigen in allen Sprachen. Und nun rücke heraus mit dem ‚lächerlichen Schriftstück‘, wie Du es draußen titulirtest.“
„Laß mich wenigstens erst lesen, was ich eben erhielt,“ sagte Schaumberg, schob dem Freunde eine Zeitung hin und löste dann, in die Sophaecke zurückgelehnt, die Oblate des dünnen Blättchens. Ein eigenthümlicher Zug ging über sein ausdrucksvolles Gesicht, als er nach einigen Minuten das Blatt zusammenfaltete, einsteckte und schweigend ein paar Mal auf und ab ging.
Maibach unterbrach das Stillschweigen nicht und sah mit lächelnder Spannung dem Wechsel, ja dem stillen Kampfe zu, der in den Zügen des Freundes arbeitete. „Nun ja,“ sagte Letzterer endlich, indem er den Schreibtisch aufschloß und das darin verwahrte Blättchen herausnahm, „ich will Dir die beiden Briefe mittheilen, dann kannst Du mir sagen, ob sie nur meinem Einsiedlerauge so befremdend vorkommen, oder ob dergleichen in Eurer bunten Welt vielleicht zu den Alltäglichkeiten gehört. Doch mußt Du mich entschuldigen, wenn ich Dir den ersten Brief nicht ganz mittheile.“
Mit kaum unterdrückter Aufregung las Otto nun denselben vor, indem er die Bezeichnung und Beschreibung des Erkennungszeichens überschlug. Der zweite Brief, den er darauf dem Freunde gab, lautete so:
„Ein wohlwollendes Geschick hat mir die Strafe für den Leichtsinn erspart, der meinen früheren Brief an Sie dictirte. Seit ich ihn in Ihren Händen weiß, habe ich mir schon unzählige Male gesagt, daß Ihre Geringschätzung Alles sein dürfte, was dieser unweibliche Schritt mir eintragen würde, und doch hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt, dem Ihnen vorgeschlagenen Zusammentreffen selbst auszuweichen. So danke ich denn dem Himmel, daß es sich ohne mein Zuthun anders fügte, und schreibe diese Zeilen nur, um Ihnen zu sagen, daß ich es für immer aufgegeben habe, dem Geschick abtrotzen zu wollen, was es nicht freiwillig gewährt. Sie werden nie wieder von mir hören; fühlen Sie sich aber im Laufe der Tage oder Jahre jemals einsam, dann sei es für Sie ein freundlicher Gedanke, daß ein Herz warm für Sie schlägt und bis zu seinem letzten Athemzuge Ihr Bild festhalten wird.“
Marbach’s Gesicht hatte, während er las, den spöttischen Ausdruck verloren, mit dem er begonnen. „Und Du hast keine Ahnung?“ sagte er aufblickend.
„Nein,“ entgegnete Otto, während doch eine verrätherische Gluth bis zu seinen Schläfen aufstieg.
„Hm!“ meinte der Assessor, indem er ein Lächeln unterdrückte, „was haben wir denn für Anhaltspunkte? Man hat Dich seit längerer Zeit beobachtet – das könnte also nur eine Spitalpatientin oder eine Nachbarin sein, denn in unserem Club wird die liebenswürdige Schriftstellerin Dich schwerlich beobachtet haben, und sonst sieht man Dich ja nur wie eine Figur der camera obscura, auf Deinen Spaziergängen. Daß sie den gebildeten Classen angehört, sagt uns der zweite Brief mehr als der erste, dessen Romantik allenfalls noch einer durch Leihbibliotheken gebildeten Putzmacherin entsprechen würde. Dieses Genre reicht aber doch nicht in die Scala des Ausdrucks hinauf, den wir hier vor uns haben. – Als echter Ritter bist Du wohl entschlossen, das rosa Band oder die blaue Blume des Erkennungszeichens um keinen Preis zu verrathen?“
„Nein,“ sagte Schaumberg schroff.
„Nur piano, mein Sohn, ich setze Dir keine Pistole auf die Brust, aber ganz entrinnen sollst Du mir nicht, ein Examen mußt Du aushalten. Wie ist es mit der Spitalpatientin?“
Otto lachte. Die Gestalten all’ der alten und jungen Gesichter, die ihn täglich aus großen Hauben anblickten und ihre Leiden klagten, im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Gesprächsstoff zu bringen, erschien ihm doch allzu grotesk. „Warte, mein Schatz,“ sagte er mit gutmüthigem Spott. „Nächster Tage nehme ich Dich einmal mit in meinen ‚Damenkrankensaal‘, da kannst Du Dir unter den vorhandenen Figuren den Typus einer Romanheldin heraussuchen. Du wirst vortreffliche Modelle finden, nur schade, orthographisch schreiben können sie gewöhnlich nicht.“
„Eine Nachbarin also,“ entgegnete Marbach, ohne eine Miene zu verziehen, und schritt dem Fenster zu. Ein unwilliger, fast zürnender Ausdruck glitt hinter seinem Rücken über die Stirn des Freundes und glättete sich nicht, als der Assessor, der mit einem Scherzwort den Fensterflügel geöffnet hatte, plötzlich abbrach und lauschend stehen blieb. Aus dem Hause drüben klang der Gesang einer vollen Altstimme herüber. Deutlich erkannten die Freunde die mächtige Melodie des Liedes: Am Meer, von Schubert.
Als die Sängerin geendet, schloß Marbach leise das Fenster und sah Otto mit eigenthümlichem Blick in die Augen. „Duckmäuser,“ sagte er halb ernst, „Deine nächste Nachbarin wäre denn ohne Zweifel die schöne Wittwe.“
„Welche Albernheit!“ fuhr Schaumberg auf. – „Eine schöne [708] Wittwe,“ sprach der Freund unbeirrt, „fünfundzwanzig Jahre, reich, interessant, Freier so viel wie Penelope selig, wählerisch wie jede verwöhnte Göttin, und gerade darin ganz dazu geschaffen, das vollauf Gebotene bei Seite zu schieben, um die Hand nach dem Monde auszustrecken. Du bist ein Glückspilz, dem der goldene Apfel direct aus dem Lande der Hesperiden in den Schoß fällt!“
„Wenn Du ausgefabelt hast, dann nimm Dir eine frische Cigarre und rede Vernunft,“ warf Otto in trockenem Tone ein. „Gehen wir noch in den Club, oder willst Du meine frugale kalte Küche mit mir theilen?“
„Du wünschest einen andern Discours, wie ich merke! Aber mir gefällt mein Stoff, mir gefällt die schöne Wittwe, es ist ein Thema, bei dem man gern bleibt.“
„Dann würde ich an Deiner Stelle versuchen, für immer dabei zu bleiben! Man mag seit einiger Zeit mit Dir vom Großmogul sprechen, oder von gut Wetter und Regen, immer findest Du Mittel, wieder bei Deiner schönen Wittwe anzukommen. Schlage ihr in Gottes Namen vor, Frau von Marbach zu werden, und damit gut!“
„Geht nicht an, geht leider nicht an,“ sagte der Assessor klagend. „Sie ist zu anstrengend für mich. Wenn sie so reizend aussieht, wie ein blonder Dämon es nur irgend fertig bringen kann, dann flattere ich mit ausgebreiteten Flügeln auf sie los, so wie sie aber anfängt über Himmel und Erde zu schweifen und mich armen Kerl in wirbelnder Geschwindigkeit mit sich irrlichteriren zu lassen, dann merke ich, es geht nicht an, ich würde mit einer so anstrengenden Frau nach acht Tagen schon in Atome zerstieben.“
„Eine Phantastin also, oder gar eine Art von Blaustrumpf? Das hätte ich der hübschen Frau nicht zugetraut, sie hat eher etwas Kindliches im Ausdruck.“
„Sie hat ein ganzes Repertoire von Ausdrücken, mein Junge. Ich werde Dich bei nächster Gelegenheit einmal vorstellen, dann kannst Du bessere physiognomische Studien machen, als von Deinem Fenster aus.“
„Das laß bleiben,“ entgegnete Schaumberg kalt. „Du weißt, ich verlange überhaupt nicht nach Damenbekanntschaften, und was sollte ich mit einer excentrischen Frau anfangen, oder sie mit mir!“
„Excentrisch ist Helene Dalen nun gerade nicht, nur ungewöhnlich. Die kleine Frau hat ja auch schon manchen Scenenwechsel durchgemacht, da färbt immer etwas ab, hier oder dort. Du hast sicher gehört, daß sie ein Jahr über die vergötterte Prima-Donna des Mannheimer Theaters war, noch blutjung damals, ein Mädchen aus gutem Hause, unter den Flügeln der Mutter die Theatercarriere verfolgend. Sie verließ von dort aus die Bühne, um sich an einen reichen Mann zu verheirathen, eine Art von Allerweltsgelehrten, der aus dem Kinde seine Puppe machte und sie mit Literatur, Astronomie und allem Teufelszeug vollpfropfte, bis sie aus einem liebenswürdigen Weibchen zu dem zurecht gemacht war, was man, horribile dictu! eine geistreiche Frau nennt. Der Mann starb, und die schöne Wittwe ließ sich, mit einer komischen alten Cousine als Ehrenwächterin, hier nieder, weil ihr die Gegend gefiel, meine ich. Sie hat jedenfalls das Verdienst um die Stadt, die Zungen zu beschäftigen, die ihr beim besten Willen zwar nichts Schlimmes nachsagen können, aber ihren ganzen exotischen Habitus als pikantes Futter fleißig verarbeiten. Ich bin nur begierig, ob sie ihre Freiheit noch ferner so standhaft vertheidigen wird, wie bisher.“
„So gilt keiner ihrer Bewerber als bevorzugt?“ fragte Schaumberg flüchtig.
„Doch. Da ist ein Major von Feldheim, dem sie wenigstens mehr Rechte einräumt, als den Anderen. Man sagt, er sei schon früher, als ihr Mann noch lebte, mit der Familie befreundet gewesen. Er wird viel mit ihr gesehen; hätte er aber wirklich die Chancen auf Erfolg, die man ihm zuspricht, so sehe ich nicht ein, warum die Verbindung verzögert werden sollte, und deshalb glaube ich nicht daran. Der Major könnte übrigens ihr Vater sein, gilt für einen Flattergeist in Beziehung auf das schöne Geschlecht, und denkt vielleicht gar nicht an die Heirathspläne, die ihm zugeschrieben werden.“
„Und nun ist Dein interessantes Thema doch wohl erschöpft, wenigstens für heute,“ lächelte Otto, als Marbach schwieg; „vielleicht ist’s jetzt erlaubt, die brennende Frage unseres Abendbrods noch einmal in Anregung zu bringen. Ich denke, wir gehen doch nach dem Club, die Andern erwarten Dich heute.“
Marbach nickte einverstanden, Beide brachen auf, und Schaumberg gab sich an diesem Abend mit ungewohnter Lebhaftigkeit dem allgemeinen Gespräche hin.
Als er spät in der Nacht den einsamen Weg nach Hause zurückgelegt und die Eingangspforte aufgeschlossen hatte, stand er noch einen Augenblick unter dem sternhellen Himmel und blickte zu den dunkeln Fenstern des Hauses gegenüber auf.
„Sie heißt also Helene,“ flog, mehr gedacht als ausgesprochen, über seine Lippen. „Ob ich je erfahren werde –“ der Gedanke ward nicht zum leisen Wort des Selbstgespräches. Mit rascher, fast heftiger Bewegung trat der junge Arzt ein, zog die Thür hinter sich zu und verschwand in seinem Zimmer.
[721]
Es ist der erste Sonntag im Mai. Die Sonne lacht strahlend vom wolkenlosen Himmel hernieder, als wolle sie das Frühlingsfest, das alljährlich an diesem Tage in Bamberg gefeiert wird, begrüßen. Wie Pilger zu einem Wallfahrtsort wandern von des Morgens an Schaaren von Spaziergängern den Pfad entlang, der zur Höhe der Altenburg führt; die dienenden Classen, wo es ihnen nicht gelungen war, sich den Nachmittag frei zu bitten, schon um vier Uhr früh, um sich von dem Pächter, der die Gartenanlagen pflegt, ein gutes Frühmahl bereiten zu lassen und dem fröhlichen ersten Morgenconcerte beizuwohnen. Gegen acht Uhr nimmt die herbeiströmende Menge schon einen gewählteren Charakter an. Selbst die beau monde, deren jüngerer Theil namentlich, dem Tage zu Ehren, heut ungewöhnlich zeitig das Lager verlassen hat, mischt sich jetzt, im frischesten Frühlingsputze, unter die Bürgersleute, denn um neun Uhr sollte dort oben der Gottesdienst im Freien beginnen, eine Frühlingsfeier, wie ein andächtiges und für die Poesie der Natur empfängliches Herz sie nicht schöner wünschen kann.
Bald nach acht Uhr trommelte der Finger des Assessors an die Scheiben des Freundes, der die erste Morgenrunde bereits beendigt und sich für ein paar Stunden frei gemacht hatte. Mit Genuß wanderten die beiden jungen Männer in den himmelblauen, sonnengoldenen Morgen hinein, durch die alte, charaktervolle Stadt den engen Schluchten zu, die sie, langsam aufsteigend, durchschritten, oft genug vom Reize des Landschaftsbildes gefesselt, das sie bei mancher Wendung plötzlich anlachte, wie die vereinzelte Strophe eines schönen Gedichtes, dessen vollen Genuß freudig ahnen lassend.
Nachdem der letzte ziemlich steile Theil des Berges überwunden und ein von Bäumen besetztes Plateau erreicht war, fesselte die volle Pracht der Aussicht in der That Fuß und Auge Beider, so oft sie den Ausblick auch schon genossen hatten. Eine weite, lachende Thalebene dehnt sich dort in aller Mannigfaltigkeit eines reich angebauten Landes aus und bildet in ihrer sanften Färbung eine Folie für die Stadt, deren Anblick um so malerischer erscheint, als ihre schönsten Kirchen, ihre bedeutendsten Gebäude hochgelegen sind. Die reiche Ebene, von sanft ansteigenden Bergen amphitheatralisch begrenzt, von dem lebendigen Flusse erhellt, wird durch einen dichten Föhrenwald um so effectvoller schattirt, als ein dem Forste nahegelegener klarer See wie ein Thautropfen auf einem Blatte funkelt und mitten aus dem Walde die weißen Mauern des hübschen, mit vier Thürmen geschmückten Schlößchens Seehof hervorleuchten. Manche Bergcapelle giebt, von den Höhen herabgrüßend, der Landschaft die locale katholische Färbung, während die Thürme der zahlreichen Kirchen, besonders des schönen byzantinischen Doms, ein hochgelegenes Klostergebäude, ein weitläufiges Residenzschloß, dem kundigen Blick leicht verrathen, daß er in der Stadt selbst einen Bischofssitz vor sich liegen sieht. Wohl fünfzig Ortschaften sind rings umher ausgestreut, manche Burg beschirmte oder bedrohte das flache Land, als ihre jetzt zerbröckelten Mauern noch stolz emporragten. Die großartigen Trümmer der Feste Giech scheinen das Pendant zu dem stattlichen Bergschlosse Banz zu bilden, das, ein ehemaliges Kloster, jetzt hell von der Morgensonne beschienen wird; dieselbe Sonne tanzt spülend und hüpfend auf der muntern Regnitz und scheint ihr zu ihrer Vermählung mit dem Main, der blau herüber schimmert, den Segen zu geben.
Die Freunde schritten weiter, der Altenburg entgegen, wo sich an der mit jungem Rasen bekleideten Brustwehr, welche den Schloßgraben abgrenzt, eine wogende Menge in lebensvollen Gruppen bewegte. Denn hier war der Punkt, von wo aus sich der bevorstehende Hauptmoment der heutigen Feier am besten genießen ließ. Bot der Anblick von Hunderten festlich geschmückter und gestimmter Menschen ein Allegro frischen Lebens, so glich der Schauplatz, dem sie entgegenblickten, dem Adagio einer lieblichen Idylle. Auf der Wiesenfläche jenseits des Grabens steht ein schmuckloser, in weißem Sandstein ausgehauener Altar; drei Crucifixe, welche Christus und die beiden Schächer in mehr als Lebensgröße tragen, erheben sich hinter demselben und treten einfach, aber wirkungsvoll aus dem Hintergrund einer Gruppe alter Buchen hervor. Wiesen und Bäume füllen in allen Schattirungen von Frühlingsgrün die Schlucht aus, die sich von dort bis zur Ebene hinzieht, und, wie ein Ei im Neste, liegt tief unten im Grunde ganz lauschig und einsam das Dörfchen Wildensorge.
Immer neue Gruppen strömen, da es in wenigen Minuten neun Uhr war, über die hölzerne Brücke, die aus dem Burgthor über den Graben führt, der unmittelbaren Nähe des Altares zu, und sowohl diesseits als jenseits des Grabens, bis tief in den grünen Thalgrund hinab, war bald jedes Plätzchen besetzt. Das Glöckchen des Meßners erklang, und aus dem Schatten der Bäume hervor trat der Priester mit seinen Chorknaben an den heute mit Teppichen und Blumen reich ausgestatteten Altar. Mit allen Ceremonien des katholischen Cultus ward nun, mitten im Grün, [722] Angesichts der herrlichen Gotteswelt, ein feierliches Hochamt abgehalten. Beim Schalle des Glöckchens, welches das Sanctus verkündigt, werfen sich Hunderte von bunten Gestalten auf die Kniee, und mit brausendem Klange vereinen sich nun alle Stimmen der Andächtigen zu der herrlichen Melodie: „Großer Gott, Dich loben wir etc.“
Sich dem Eindruck dieses lebensvollen Vorganges zu entziehen, dürfte dem gleichgültigsten Naturell kaum möglich sein. Die ganze Menge scheint in diesem Augenblick nur dem Gedanken an einen freundlichen Gott der Güte hingegeben, und der heilige Friede der von Schönheit verklärten Natur rings umher muß selbst ein kaltes Gemüth mit sanftem Hauch berühren.
Kaum aber ist das letzte Wort des Priesters verklungen, als auch, ohne allen Uebergang, den Freuden dieser Welt gehuldigt wird. Die leichtbewegten Massen strömen auseinander, wie eine Procession geht es zurück über die kleine Brücke, und eilfertig sucht Jeder ein Plätzchen in den Gartenanlagen oder auf der Terrasse zu erbeuten. Am Eingange zu der engen Küche, die in den erhaltenen Räumen der Burg etablirt ist, wird ein Sturm nach dem andern auf die Hunderte von kleinen Bratwürsten gewagt, die, als officielles Gericht des Tages, vom hartbedrängten Restaurateur in immer neuen Auflagen herausgereicht werden. Das braune Bier schäumt in den Gläsern, zwei Musikchöre lassen ihre Klänge abwechselnd erschallen und ein volksthümliches Leben und Treiben entfaltet sich in allen Schattirungen. Allerwärts ertönt Plaudern und Lachen, die Gläser klingen, selbst die Dissonanz einer schreienden Kinderstimme, die mitunter erschallt, scheint zum Ensemble zu gehören; während die mit staunenswerther Ausdauer fortgesetzten Mahlzeiten entschieden einen Theil der Lustbarkeit ausmachen, wird auch der Tanz im Saale, trotz der Frühlingssonne, die hereinblitzt, von den jungen Bürgermädchen nicht verschmäht.
Den Freunden war es gelungen, ein gutes Plätzchen zu erobern und mit Ergötzen und manch launiger Bemerkung musterten sie das Treiben rings umher. In der Mauerecke, nahe der Brüstung, saß eine kleine Gesellschaft, die sichtlich den höheren Ständen angehörte und für die Blicke der beiden jungen Männer ein Magnet war, der sie unbewußt immer von Neuem anzog.
Die Gruppe bestand aus zwei Damen und einem Herrn. Letzterer, ein Stabsofficier von hohem Wuchse und einnehmenden Zügen, mochte ein Vierziger sein; sein dunkles Haar war an den Schläfen bereits ergraut, auf dem noch frischen, scharf markirten Gesicht zeigten sich Linien, die mehr das Leben als das Alter in manche Physiognomie zeichnet. Die eine der Damen war alt und hatte eines jener gutmüthigen Gesichter, die stets zugleich Erstaunen und Besorgniß auszudrücken pflegen; um so mehr diente sie ihrer Nachbarin zur Folie, einer Erscheinung von solch zarter Frische, daß kein erster Blick sie treffen konnte, ohne daß ein zweiter folgte und gefesselt verweilte. Das moderne Hütchen versteckte nichts von dem Reichthum der prachtvollen, aschblonden Flechten, die den kleinen Kopf belasteten, blaue Augen, die taubensanft blicken und doch Blitze sprühen konnten, drückten mit seltener Beredsamkeit jede Regung aus, und eine zarte, leicht aufgebaute Gestalt von libellenhafter Beweglichkeit trug diesen zierlichen Kopf mit großer Anmuth. Wie absichtslos trafen manche ihrer raschen Blicke im Fluge einen oder den Andern unserer Freunde, deren Conversation nach und nach in’s Stocken kam.
„Nun,“ sagte Schaumberg nach einer Pause, während welcher das Auge des Assessors wieder einmal nach jener Gegend gewandert und von diesem Ausflug ziemlich lange nicht zurückgekehrt war, „warum schmachtest Du hier aus der Ferne, und überschreitest nicht den gewaltigen Rubikon dieses nur zehn Schritt breiten Rasens?“
„Soll ich Dich heute vorstellen?“
„Nein!“ erwiderte Otto. „Geh nur, mir wird die Zeit nicht lang.“
Marbach erhob sich und trat an den benachbarten Tisch.
„Wie gerufen!“ nickte Helene Dalen ihm lebhaft entgegen, als er sie begrüßte. „Sie sollen mir gegen den Major beistehen! Wir sprachen von sommerlichen Reiseplänen, und da behauptet dieser Kriegsheld, das Reisen sei heut zu Tage seiner ganzen Romantik beraubt!“
„Was die Romantik des Reisens betrifft,“ lächelte der Assessor, „so liegt sie vor Allem im Reisenden selbst, und ich will gern zugeben, gnädige Frau, daß Sie aller Romantik, deren Sie bedürfen, auf Tritt und Schritt begegnen werden.“
„Mit Ihren Spötteleien ist mir hier nicht gedient,“ schmollte die schöne Frau, das Köpfchen schüttelnd. „Was aber hat die gegenwärtige Zeit und all ihre Prosa damit zu thun, daß Einem schon bei dem bloßen Gedanken das Herz schlägt, nun in die blaue Welt hineinzufahren, um Neues zu sehen und Neues zu hören? Wer könnte auch nur den Dampfwagen dahin sausen sehen, wenn er, etwas Lebendigem gleich, brausend und zischend, als der verkörperte, feurige Menschengeist das Land durchschneidet, ohne sich – ja, ich wage das Wort! ohne sich poetisch angeregt zu fühlen? Und der Sonnenschein, der auf grünen Blättern funkelt, die wir nicht knospen und werden sahen, die gute Stimmung, die jeder schöne Tag dem Reisenden als Mitgift bringt, die Wärme und Natürlichkeit, die uns aus wildfremden Gesichtern entgegen grüßt – das Alles sollte nichts mit Romantik zu thun haben?“
„Aber, Kind,“ warf die Cousine bekümmert dazwischen, „es hat mit dem Reisen doch auch seine zwei Seiten! Wenn man den Zug verpaßt, und wenn man den ganzen Tag mit aufgerecktem Kopfe in den Museen herumsteigen muß, um Bilder zu sehen, von denen man nicht weiß, was sie vorstellen, und wenn man nie dazu kommt, in Ruhe sein Strickzeug herauszunehmen –“
„Ja, und wenn man Morgens seinen Sonnenschirm und Nachmittags seinen Haubenbeutel im Gasthof liegen läßt etc. etc.,“ unterbrach Helene neckend die alte Dame. „Und doch läßt mich, trotz all dieser Noth, mein Cousinchen nicht im Stich, wenn ich’s, als ächter Zugvogel, im Lande nicht mehr aushalten kann.“
„Die Sonntagsstimmung freier Reisezeit fühlt Ihnen wohl Jeder nach,“ sagte der Assessor, dessen Blick die lebhaft Plaudernde nicht einen Augenblick verlassen hatte. „Es ist hoch anzuschlagen, daß dieser Genuß heut zu Tage nicht mehr das Monopol weniger Begüterten, sondern ein Gemeingut geworden ist, das Jedem einmal erreichbar bleibt.“
„Wir Soldaten haben triftige Ursachen, dem vielen Reisen, das jetzt Sitte geworden ist, nicht das Wort zu reden,“ fiel der Major ein, „denn zuletzt wird es jeden Krieg der Völker gegeneinander unmöglich machen. Sicher gewinnt das Bedürfniß weltbürgerlicher Gemeinschaft, das jetzt so allgemein durch die Völker geht, durch die eigene Anschauung fremder Gauen. Die jedem Lande eigenthümlichen Sitten werden vom Gedächtniß Dessen, der sich in freiester Stimmung ihnen anschloß, von Süd nach Nord, von Nord nach Süd getragen, manche Anschauung wird gemildert, manches Vorurtheil aufgeklärt. Das Interesse an Orten und Dingen, das früher mehr ein locales war, gewinnt allgemeinere liebevolle Bedeutung, und gern kommt Jeder in späterer Zeit der Erinnerung zu Hülfe und erzählt sich und Anderen das Geschaute wieder.“
„So wird es auch heute wohl nicht an Fremden fehlen, die unser liebes Frühlingsfest wie Brieftauben in die weite Welt hinaustragen,“ sagte Helene, heiter um sich blickend. „Welch ein Feiertag! Warum sitzen wir eigentlich hier so fest? wollen wir nicht lieber ein Weilchen umherwandern? Ich muß mir ansehen, wie sich die gefüllte Terrasse von drüben her ausnimmt!“ – Schon war sie aufgesprungen, die beiden Herren schickten sich an, sie zu begleiten.
„Mich dispensirst Du, ich werde den Platz hüten, nicht wahr, Kindchen?“ bat die alte Dame, und, fröhlich nach ihr zurückwinkend, wanderte Helene mit ihren Begleitern durch die Halle der Altenburg, dem Platze zu, wo der Altar stand. Auch dort war es noch sehr belebt, und jeden Augenblick streiften Vorübergehende aneinander.
„Wollen Sie mir nicht lieber den Arm geben, Helene?“ fragte der Major, als eben wieder ein kleiner Stoß ihn gegen sie gedrängt hatte.
„Mich führen lassen, heut’, wo ich fliegen möchte!“ rief die junge Frau. „Nein, daraus wird nichts!“ Mit geflügelten Schritten eilte sie bei diesen Worten ihren Begleitern voraus und lief wie ein Kind den grünen Wiesenabhang hinunter. Plötzlich aber sahen die Herren sie schwanken und mit einem unterdrückten Schrei in die Kniee sinken. Augenblicklich waren Beide an ihrer Seite, sie erhob sich lachend, erblaßte aber gleich darauf und biß die Lippen zusammen.
„Ich glaube wirklich, ich habe mir den Fuß verstaucht,“ [723] sagte sie zögernd „es ist mir nicht möglich ohne heftige Schmerzen damit aufzutreten.“
Jetzt nahm sie den vorhin verschmähten Arm und stützte sich fest darauf, hielt aber schon nach wenigen Schritten wieder an und setzte sich mit der Miene eines verzogenen Kindes in’s Gras. „Ich kann nicht weiter,“ sagte sie aufblickend.
„Nur einen Augenblick bleiben Sie so!“ rief der Assessor „Ich rufe den Freund, der mit mir heraufgekommen ist; er ist Arzt und wird hier den besten Rath geben.“
Schon forteilend, sah er die fliegende Röthe nicht, die plötzlich das Gesicht der schönen Leidenden bedeckte, die jedoch dem Auge des Majors nicht entging und ihn mit eigenthümlicher Aufmerksamkeit dem bevorstehenden Zusammentreffen entgegenblicken ließ.
Nach ein paar Minuten war Schaumberg zur Stelle, und vier Augen, die sich seit den letzten Monaten häufig genug über die Straße hinüber gesucht und gefunden hatten, trafen in einem flüchtigen, leuchtenden Blitz zusammen. Nach ein paar rasch beantworteten Fragen forderte der Arzt die Patientin auf, sich zu dem kurzen Gange bis in die Burg zu überwinden, wo er den Fuß untersuchen und das Nöthige anordnen wolle. Von ihm und Feldheim gestützt, erhob sich Helene, nahm dann des Majors Arm und bewegte sich mühsam vorwärts, während der junge Arzt vorauseilte, um für ihre Bequemlichkeit in einem geeigneten Locale der Wirthschaft zu sorgen.
Marbach holte inzwischen Frau von Klinger herbei, die, zugleich mit Helene das Zimmer betretend, sie mit wortreichen Lamentationen überschüttete und ungeduldig machte. Der Major und der Assessor zogen sich zurück, und Schaumberg untersuchte nun den durch die Tante rasch von seinen Hüllen befreiten rosigen Kinderfuß, der bereits bedeutend angeschwollen war.
„Nun?“ sagte die junge Frau, mit kindlichem Ausdruck zu ihm aufblickend.
„Sobald ein Wagen bereit ist, werde ich mir erlauben, Sie, gnädige Frau, in Ihre Wohnung zurückzubringen. Bis dahin, und unterwegs, sind kalte Umschläge das Einzige, was wir vornehmen können. Später wird dann Ihr Arzt das Weitere anordnen – leider müssen Sie sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf eine lange Geduldsprobe gefaßt machen.“
„Ich habe keinen Hausarzt,“ sagte Helene leicht erröthend; „seit dem Jahre meines Hierseins bedurfte ich keines Beistandes dieser Art. Würden Sie wohl so freundlich sein, mir ferner beizustehen?“
Otto’s Augen blitzten auf, doch entgegnete er nur ein paar gelassene Worte der Zusage. Als er hinaustrat, fand er die anderen Herren wartend vor der Thür.
„Nun, wie steht es?“ fragte Feldheim ungeduldig.
„Es ist eine starke Verstauchung; ein Bruch wäre mir lieber. Dergleichen ist leider sehr langwierig, auf fünf bis sechs Wochen Clausur muß Frau von Dalen sich gefaßt machen. Willst Du Dich nach einem Wagen umsehen, Marbach? Ich werde einstweilen für die nöthigen Umschläge sorgen.“
„Dazu würde auch wohl die alte Klinger zu brauchen sein,“ murmelte Feldheim, nicht in bester Laune. „Für den Wagen werde ich sorgen, meine Herren, es fehlt nicht an wartenden Droschken.“
Eine Viertelstunde später fuhr ein bequemer Wagen langsam den Abhang hinab; Helene lag behaglich[WS 1] im Fonds, das kranke Füßchen ruhte im Schooß der gegenübersitzenden Tante, neben welcher Otto Schaumberg, der ernste Jünger der Wissenschaft, zu den bescheidensten Anfängen ihrer Wirksamkeit herabgestiegen war und mit lobenswerthem Eifer aus einem am Wagenschlag befestigten Gefäß mit kaltem Wasser die von ihm angeordneten Umschläge persönlich erneuerte.
Es war ein Regentag; einer von denen, wie sie im Sommer so wohlthuend sind, wo man der Abwechselung halber auch gern einmal im Zimmer bleibt und das regelmäßige Fallen der Tropfen, das zu anderer Zeit melancholisch wirken kann, als Behagen und Erfrischung empfindet. Wenigstens empfand Helene Dalen heute so. Wir wollen in ihr Wohnzimmer eintreten, von dem wir bis jetzt nur die Fenster kennen lernten; es ist der wohnlichste und zugleich anmuthigste Raum, den Reichthum und Geschmack zu erschaffen vermochten.
Die junge Frau ruhte auf einer Chaise-longue, ihr noch bandagirtes Füßchen auf ein Kissen gestützt, die zierlichen Finger mit einer Stickerei beschäftigt, von der sie nicht aufschaute. Vor ihr saß Major von Feldheim, ein Buch in der Hand, aus dem er eben vorgelesen.
„Warum hören Sie auf?“ fragte Helene, plötzlich aufblickend.
„Weil Sie nicht zuhören,“ sagte Feldheim, und sah sie fest an. „Sie sind zerstreut, Sie sind –“
„Und was bin ich, daß man’s gar nicht aussprechen kann?“
„Was ich an Ihnen noch nicht erlebt habe, Helene – träumerisch!“
Ein Lächeln spielte auf den Lippen der jungen Frau. „Und ist das ein solches Staatsverbrechen, daß mein strenger Mentor mich darob mit so dunkeln Blicken anschaut? Ist’s nicht erlaubt, auch einmal zu träumen? Ich bin ja hier im Zimmer festgebannt wie ein gefangener Vogel, zwitschern kann ich doch nicht den lieben langen Tag, da läßt man denn mitunter die Gedanken wandern, und bei dem Klang Ihres melodischen Lesens träumt sich’s hübsch.“
Feldheim’s Stirn faltete sich. Er schloß mit einer raschen Bewegung das noch aufgeschlagene Buch. „Dafür ist Shakespeare zu gut,“ entgegnete er kurz.
Helene lachte. „Lassen Sie uns lieber plaudern,“ sagte sie mit kosendem Ton, „Sie haben Recht, ich bin heute wirklich keine brave Zuhörerin gewesen. Erzählen Sie mir von dem gestrigen“ – sie brach ab, ein gespannter Zug glitt über ihr Gesicht hin. Feldheim’s Blick trübte sich, mit ihr zugleich hatte er die Hausthür öffnen hören; er stand hastig auf und stellte das Buch in den Bücherschrank zurück. Schon hatte aber Helene den schleppenden Tritt der Cousine auf der Treppe unterschieden und wiederholte nun in leichtem Ton ihre Aufforderung: „Erzählen Sie mir doch von dem gestrigen Concert!“
„Ich war nicht dort, Sie wissen, ich bin kein Musikkenner,“ erwiderte der Major trocken; „Sie werden darüber von anderer Seite bessere Auskunft erhalten.“
Helene sah lebhaft zu ihm auf; die Entgegnung, die ihr auf der Zunge schwebte, ward aber durch den Eintritt der Cousine abgeschnitten, die hastig auf sie zueilte, das gutmüthige Gesicht vom tiefsten Verdruß hochgeröthet. „Die Menschen sind doch zu schlecht, Helene!“ rief sie erbittert.
„Was ist denn geschehen?“
„Meine Uhr ist fort! Meine Uhr mit dem emaillirten Deckel, die ich noch von der Großmutter habe, die über hundert Jahre in der Familie ist! Dein Mädchen hat freilich immer gesagt, ich solle sie nicht in das Uhrtäschchen thun, das neben der Thür hängt, weil mein Zimmer so dicht an der Treppe liegt, wo die Handwerksburschen immer vorbeigehen, wenn sie betteln. Aber wer hätte gedacht, daß ein Handwerksbursche so schlecht sein könnte! Nicht eine halbe Stunde war ich in der Kirche, und wie ich nun heim komme, ist die Uhr fort. Was fängt man nur an!“
„Beruhigen Sie sich, Frau von Klinger, Ihre Uhr ist sehr kenntlich und wird zu ermitteln sein,“ sagte Feldheim. „Ich werde Ihnen das besorgen und bei den Uhrmachern, vor Allem aber bei der Polizei und in der Leihanstalt Anzeige machen.“
„In der Leihanstalt!“ wiederholte die alte Dame, und ihr Auge leuchtete auf. „Dahin wird sie gewiß gebracht! Das werde ich aber selbst besorgen – nein, nein, schweigen Sie ganz still, das lasse ich mir nicht nehmen, ich bin ohnedies neugierig, wie es in einer Leihanstalt zugeht! Adieu, Kinderchen!“
„Aber bei diesem strömenden Regen“ – wandte Helene ein.
„Was soll mir der Regen schaden!“ rief die gute Frau eifrig; „Du hast mir ja erst neulich den schönen neuen Regenschirm geschenkt! Es sind ja auch nur ein paar Schritte bis zur nächsten Straße“ – und damit huschte sie hinaus.
„Lassen wir sie ruhig gehen,“ lächelte Feldheim, „sie ist schon halb über ihren Verlust durch die Aussicht getröstet, zu erfahren, wie es in einem Leihhause zugeht. Das freundliche, ewig zufriedene Gemüth!“
„Von der Mancher lernen könnte!“ sagte die junge Frau mit Beziehung.“ Ja, ja, Feldheim! Sie haben nicht nöthig mich so fragend anzusehen; wäre die Cousine nicht dazwischen gekommen, so hätten Sie schon einige Minuten früher die Gardinenpredigt [724] erhalten, die jetzt nicht ausbleiben soll. Was ist seit einiger Zeit mit Ihnen vorgegangen? Ich kenne Sie gar nicht wieder! Von Ihnen zuweilen ausgescholten zu werden, bin ich seit Jahren gewöhnt, aber nicht, Sie unfreundlich und launisch zu sehen! Sie sprechen jetzt mitunter in einem Tone mit mir, so kühl und fremd, daß ich mich auf mich selbst besinnen muß; Sie bleiben Tage lang aus, und frägt man nach dem Grunde, so hat keiner existirt.“
„Werde ich denn vermißt, Helene?“ fragte er, und eine eigenthümliche Weichheit milderte den meist etwas schroffen Ausdruck der männlich schönen Züge, während er vergebens ihr Auge suchte.
„Welche Frage!“ sagte die junge Frau empfindlich, doch mit einiger Befangenheit zu ihm aufsehend. Plötzlich lief ein lichtes Roth über ihr Gesicht hin, wie der Abendschein über eine schneeige Bergspitze. Feldheim’s Auge, das noch fest an ihr haftete, leuchtete auf, einen Moment nur, denn schon wußte er, daß dies mädchenhafte Erröthen nicht ihm gegolten hatte. Der elastische Schritt, der sich der Thür näherte, war diesmal nicht zu verkennen, und das helle „Herein!“ Helenens klang mit dem Klopfen des Nahenden fast zusammen.
Feldheim blieb in strammer, hoch aufgerichteter Haltung neben dem Sopha stehen, während Otto Schaumberg sich der jungen Frau näherte und die leichte Hand, die sie ihm entgegenbot, ein paar Augenblicke in der seinen hielt.
„Sie haben doch meine Botschaft erhalten, weshalb es mir nicht möglich war, Sie gestern zu sehen?“ fragte der junge Arzt, sich neben ihr niederlassend.
„Heute aber haben Sie Zeit für mich, nicht wahr?“ sagte Helene herzlich. „Die ganze Woche über mußte ich mich ja mit Viertelstunden begnügen, wir haben seit hundert Jahren weder zusammen botanisirt noch musicirt!“
„Dafür bringe ich Ihnen heute auch etwas Hübsches mit,“ erwiderte Otto heiter, indem er ihr eine zierliche Mappe vorlegte. „Mein Freund und Ihr Verehrer Marbach ist gestern von seiner Schweizerreise heimgekehrt und war so liebenswürdig, mich mit diesem Album der dortigen Flora zu beschenken.“
Lebhaft griff Helene nach der Mappe. Es war eine Sammlung der mannigfaltigsten Alpenblumen, in der kunstreichen Weise getrocknet, die den Blüthen weder ihre Farbe, noch ihre Zartheit abstreift und sie mit aller Frische eines Gemäldes und allem Schmelz der Natur dem Auge bewahrt. Erklärend und manche interessante Schilderung jener von ihm früher selbst durchstreiften Landschaften der Schweiz daran knüpfend, schlug Schaumberg die Blätter für sie um, und ein interessantes Gespräch, an dem sich auch der Major betheiligte, war bald im Gange. Schon begann es zu dämmern, als Frau von Klinger, von ihrer Excursion zurückkehrend, plötzlich wie eine Bombe in’s Zimmer fuhr.
„Mein Himmel, Cousine, wie siehst Du aus?“ rief Helene bestürzt. „Du triefst ja wie eine Wassernixe!“
„Ja, Kind,“ sagte die alte Dame kläglich, „naß bin ich, aber das wollte ich gern ertragen, wären nur die Menschen nicht gar so schlecht! Nun denke Dir, da komme ich in’s Leihhaus, und wie ich vor dem Eingang zum Bureau bin, lasse ich natürlich meinen nassen Regenschirm draußen auf dem Flur. Drin im Zimmer habe ich lange warten müssen, bis ich dazu kam, endlich meine Anzeige wegen der Uhr zu machen, denn es waren eine Menge Leute da, und ich sah und hörte auch gar Vielerlei, was mir die Zeit nicht lang werden ließ. Nun denke Dir, wie ich nach einer Weile hinauskomme, ist mein neuer seidener Regenschirm auch fort! Natürlich habe ich im Bureau Lärm geschlagen, aber der Beamte war ganz unhöflich, und die Weiber, die drinnen herumstanden, haben mich noch dazu ausgelacht.“
Helene brach bei diesem bekümmerten Bericht in lautes Gelächter aus.
„Ja, Du hast es wohl nöthig, auch zu lachen,“ sagte Frau von Klinger ganz böse. „Das ist wohl der Dank dafür, daß ich eine Erkältung riskire und mit meinen nassen Kleidern hereinkomme, nur um Dir zu sagen, daß Du selbst bestohlen bist! Sieh doch einmal nach Deinen Schmucksachen! Dort hat ein altes Bettelweib ein paar Schmuckstücke versetzt, die, wenn ich nicht sehr irre, zu Deinem Filigranschmuck aus der Großmutter Erbschaft gehören. Ich habe freilich nicht die besten Augen, aber sieh nur gleich einmal nach.“
„Warum nicht gar!“ sagte Helene, immer noch lachend, ohne sich von der Stelle zu bewegen; „mein Schmuck ist wohl verwahrt, der macht keine Reisen in’s Leihhaus.“
Otto Schaumberg wandte sich lebhaft zu ihr. „Warum sich nicht überzeugen, gnädige Frau, und wäre es auch nur, um bei dieser Gelegenheit unseren profanen Männeraugen Einsicht in Ihre Schätze zu gewähren? Ich schwärme für alterthümlichen Schmuck von Filigranarbeit!“ Er hatte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und erhöhter Farbe gesprochen. Helene erröthete unter seinem ausdrucksvollen Blick bis in die Schläfe, schüttelte aber verneinend das schöne Köpfchen, und sagte in etwas capriciösem Ton: „Wenn ich mich überhaupt entschließe, meine bequeme Lage aufzugeben, so wäre es nur, um Musik zu machen. Ich habe die vierhändigen Symphonien, die Sie mir schickten, schon durchgesehen; wollen wir daran gehen?“
Statt der Antwort sprang Otto rasch auf, öffnete den Flügel und schob ein Fußkissen darunter, worauf er seine Patientin während der paar Schritte, die zwischen ihrem Sopha und dem Instrumente lagen, sorglich unterstützte.
Die alte Dame war murmelnd verschwunden. Feldheim zog sich stillschweigend in eine Fensternische zurück und betrachtete mit ernstem Gesicht und gekreuzten Armen die beiden Spielenden, die, bereits in ihr Vorhaben vertieft, seine Anwesenheit nicht mehr beachteten. Während er am Fensterkreuz lehnte, ohne sich zu rühren, brauste und tobte es in ihm, wie in einem Vulcan. Er blickte unverwandt auf Helene, deren feines Profil ihm zugekehrt war. Wie lange schon kannte er dies süße Gesicht! und doch schien es ihm, als hätte er es nie vorher gekannt – nie mit diesem Ausdruck gekannt, der es jetzt durchleuchtete!
[737] War es denn ein Traum, ein leerer Wahn gewesen, als Feldheim noch vor wenigen Wochen mit so ruhiger Sicherheit sich dies reizende Weib als die Seine dachte? Und nun! Er dachte zurück an vergangene Tage, – wie ein Schattenspiel glitten sie an seinem inneren Auge vorüber. Als er Helene vor sechs Jahren zuerst kennen lernte, war ihm das Herz vom Verlust einer geliebten Braut todesschwer gewesen; das liebliche Naturell, das gute Herz der jungen Frau hatte ihm zuerst wieder einen schwachen Antheil am Leben abgewonnen.
Das Haus, in dem sie waltete wie Sonnenschein, war ihm das einzige Asyl gewesen, wo er sich nicht ganz heimathlos und trostlos fühlte.
Als ein Altersgenosse, Freund und naher Verwandter ihres Gatten, war er in diesem Hause immer heimischer geworden, und als Ernst Dalen vor einigen Jahren starb, hatte er Feldheim zum Testamentsvollstrecker und Berather seiner Wittwe bestimmt, was allen Theilen als selbstverständlich erschien. So herzlich hatte sich das gegenseitige Verhältniß zwischen Beiden gestaltet, daß Feldheim’s Versetzung von München nach Bamberg Helene bestimmt hatte, später auch dahin überzusiedeln.
Er selbst hätte wohl kaum zu sagen gewußt, wann das jahrelang so brüderliche Gefühl sich zuerst in ihm wandelte – genug, es war ihm seit einiger Zeit nur allzuklar geworden, daß er Helene mit jedem Herzschlag zu der Seinen begehre!
Die wiederholte Zurückweisung jüngerer glänzenderer Bewerber, die Art, wie Helene sich von Allen ihm mit Innigkeit zuwandte, gab ihm Zuversicht, und schon schwebte die entscheidende Frage auf seinen Lippen, als die erste Begegnung der jungen Frau mit Schaumberg stattfand. Mit jenem seltsamen Instinct, der jedes in seinem Glück bedrohte Gefühl eine Gefahr sofort erkennen läßt, empfand Feldheim vom ersten Augenblicke an, daß es mit seinen erträumten Hoffnungen aus sei.
Zum ersten Mal in seinem Leben rang er mit der brennenden Qual einer Eifersucht, deren Stachel sich um so tiefer in seine Seele bohrte, als er es scharf empfand, wie nothwendig Beherrschung sei, wenn er nicht mit seinen mächtigsten Empfindungen an der Klippe der Lächerlichkeit scheitern sollte.
So lange er ohne wirklichen Nebenbuhler Helenen gegenüber stand, hatte er den Unterschied der Jahre, die sie von ihm trennten, kaum empfunden. Er liebte mit aller Gluth seiner Seele und Sinne, mit aller Kraft eines reichen, nie vergeudeten Gefühls. Von den Frauen bis zur Stunde bevorzugt, ja verwöhnt, hatte nichts ihn daran erinnert, daß auch ihm das Leben verrann, er fühlte sich innerlich noch jung und reich genug, um eine zweite Seele in den vollen Strom der Empfindung mit sich untertauchen zu lassen. Nun aber, den jugendlichen Gestalten gegenüber, die vor seinen Augen so plötzlich sich suchten und fanden, erschien er sich selbst wie ein Bettler, wie ein Thor!
Er auf der Neige des Lebens, er mit dem ergrauenden Haar, er sollte rivalisiren wollen mit dem Manne dort, der ihn an Jugend, an lebensvoller Frische so weit übertraf! Sein Stolz, mehr als das, ein tiefes, innerstes Schamgefühl bäumte sich in ihm bei dem Gedanken, daß irgend ein Auge entdecken könne, was in ihm vorging – vor Allem das Auge Helenens! Und doch vermochte er es nicht immer, ihr gegenüber die ruhige Haltung zu bewahren, um die er rang. Die wenigen Wochen, die den jungen Arzt täglich zu Helenen geführt, hatten hingereicht, eine Intimität zwischen Beiden zu erzeugen, die in den gemeinschaftlichen Musikstudien ihren Vorwand, in täglich wachsender Vertraulichkeit ihren Ausdruck fand. Eine unerträgliche Qual durchschnitt Feldheim’s Seele, wenn er, wie eben jetzt, zusehen mußte, wie der junge Mann sich zu Helene beugte, wie ihr Blick mit dem seinen so leuchtend zusammentraf, wie ein neues, seelenvolles Leben ihre Züge in seiner Gegenwart verschönerte.
Noch rauschten die vollen Klänge der Eroica dahin, als, von den begeistert Spielenden ungehört, der Major lautlos das Zimmer verließ.
Der Sommer war bereits weit vorgeschritten. Bei Helene Dalen, der sonst so Reiselustigen, wurden aber, zur geheimen Befriedigung der alten Cousine, in diesem Jahre keine Anstalten zu irgend einem Ausfluge gemacht. Längst schon wanderte der leichte Fuß der jungen Frau wieder ohne Hinderniß durch Flur und Wald, sie sah lebensfrischer aus, als je, und doch war sie, zum Verdruß ihrer zahlreichen Bewunderer, an den Sammelplätzen der eleganten Welt nur selten zu treffen. Geschah es einmal, so fehlten ihr zwar die frische Heiterkeit, das mädchenhafte Lachen, das ihr so wohl stand, auch jetzt nicht, dennoch fand man sie allgemein verändert. Die Verwandlung mochte vor Allem darin liegen, daß die frühere Koketterie völlig aus ihrem Wesen verschwunden schien, wie ein Parfüm, das nicht mehr benutzt wird. Ein anderer, süßerer Duft umgab jetzt wie ein durchsichtiger Schleier die ganze Erscheinung der jungen Frau.
[738] Helene liebte, und war sich dessen voll bewußt. Mit tiefen Zügen trank sie aus dem perlenden Becher des unbekannten Glückes, dessen Inhalt ihr so süß, und doch schon jetzt so fremdartig erschien. Was war es, das so oft einen Schatten über ihre Stirn, einen verschleierten Blick in ihr Auge warf? Sie konnte nicht daran zweifeln, daß ihr Gefühl lebhaft erwidert ward, und doch lebte in ihrer Seele neben Otto’s Bilde eine seltsame Ahnung von Sorge. Was konnte sie zu fürchten haben? Kein Hinderniß lag zwischen ihr und ihrem Glück – nur das entscheidende Wort durfte von seinen Lippen fallen, und das Leben, die Zukunft strahlten ihr licht entgegen.
Dies Wort aber blieb aus, noch immer aus, so oft es auch schon auf dem Rande der Lippen zu wiegen schien, die ihre Hand so lebhaft zu küssen verstanden. Es war etwas da, was sich nur allzu oft wie eine unsichtbare Schranke zwischen Beide stahl, etwas, was man nicht sah, nur fühlte, das mit ihm bei ihr eintrat und, wenn es in ihrer siegenden Gegenwart auch wich, doch immer wiederkam und sie wie mit dunklem Flügelschlag umschattete.
Helene hätte lange sinnen und suchen können, nimmer würde sie herausgefunden haben, daß die Schranke, die sie ahnungsvoll empfand, in ihrem eigenen Wesen lag.
Otto Schaumberg gehörte zu den Naturen, die der Anziehungskraft leicht nachgeben, der Beherrschung aber entschlüpfen. Das originelle und fesselnde Wesen der jungen Frau hatte eine feurige Empfindung für sie rasch geweckt, und in kürzerer Zeit, als er für möglich gehalten, drängten sich die Consequenzen dieses Gefühls in seine gewohnte, mit Ueberzeugung adoptirte Lebenssphäre. Trotz allem Genuß, der in dem in jeder Weise interessanten Verkehr mit Helene für ihn lag, fühlte doch Schaumberg bei all den fremdartigen Beschäftigungen, in die sie ihn hineinzog, bei der zuversichtlichen Weise, wie sie seine Zeit in Anspruch nahm, ein wachsendes Unbehagen. Ihm, dessen Charakter intensiv war, bis zur Pedanterie sogar, war jede Zersplitterung von Zeit und Kräften störend und verstimmend. Er empfand es scharf und deutlich, daß Helenens Weltanschauung von der seinigen gänzlich verschieden sei, daß er, mit dieser Frau als Gefährtin auf seinem Lebenswege, entweder ihr eigenthümliches Wesen umschmelzen, oder die festgeschlossenen Bahnen verlassen mußte, die er sich vorgezeichnet. Was ihn trotz dieser Ueberzeugung fester an sie band als all ihr Reiz, war die Gewißheit, ihre Liebe zu besitzen.
Man muß es empfunden haben, wie die Liebe eines Andern uns überrascht und erwärmt, wie sie uns gefangen nimmt und zuletzt mit uns fortzieht, um der ganzen Macht eines solchen Bewußtseins gerecht zu werden! Otto’s Ahnung, daß Helene jene Briefe an ihn gerichtet habe, ward ihm bei öfterem Zusammensein mit ihr zwar durch keinen sichtbaren Beweis, aber durch manche Zufälligkeit bestätigt und hatte sich als feste Ueberzeugung in der Tiefe seines Herzens eingenistet. Eine eigenthümliche Rührung ergriff ihn bei dem Gedanken, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf ihn aus der Fülle des eigenen Gemüthes heraus erfaßt hatte. Oft, wenn ihr allzu selbstständiges, kühnes Verschmähen der öffentlichen Meinung ihn verletzte, stieg versöhnend der Gedanke an jenen zweiten Brief in ihm auf, der eine so echt weibliche, ja mädchenhafte Gesinnung verrieth. Dann sagte er sich gern, daß ein Weib, die ihn so selbstlos und innig liebe, sich seiner Denkweise, seinen Lebensgewohnheiten anpassen würde, sei ihr Wesen auch noch so ausgeprägt.
Wochen und Monate vergingen ihm so in wachsender Aufregung und Spannung, die sich oft bis zum Unerträglichen steigerte. Ein unwiderstehlicher Zug führte ihn immer von Neuem zu der Geliebten, aber oft und öfter kehrte er mit einem Gefühl der Müdigkeit und Abspannung von ihr heim in sein stilles Studirzimmer, unfähig, nach seiner einstigen Gewohnheit dort zu schaffen und zu leisten, wozu er sich berufen und verpflichtet fühlte. Helene war eine Künstlernatur, sie gab unaufhörlich, gab, ohne es zu ahnen, oft allzu viel – solche Frauen haben nur eine Weise etwas zu lieben oder zu thun, und das ist, von ganzer Seele! Weil ihnen selbst die Verschwendung so natürlich, so leicht ist, erwarten und fordern sie beständig mehr, als der Mann zu gewähren vermag, will er nicht Alles von sich werfen, was seine Wesenheit ausmacht.
Auch das Verhältniß der jungen Frau zu Feldheim störte und verstimmte Schaumberg immer von Neuem. Er empfand zu lebhaft für Helene, um, trotz aller Selbstbeherrschung ihres älteren Freundes, dessen heißes Gefühl nicht bald errathen zu haben. Es schien ihm unzweifelhaft, daß auch Helene hierüber klar sehen müsse, und darum verletzte und erbitterte es ihn, wenn er sah, wie die Geliebte mit Feldheim schmollte, so oft er ausblieb, wie sie ihn mit Jubel empfing, wenn er wiederkam, und durch hundert unwillkürliche Aeußerungen verrieth, daß der Umgang, die Freundschaft des Majors ihr unentbehrlich waren.
Vielleicht war es doch vor Allem diese stachelnde Empfindung, die unserem jungen Freunde endlich den Entschluß abrang, sich um jeden Preis von der Kette loszureißen, die ihn von Tag zu Tag fester umschlang und zu ersticken drohte.
Ein äußerer Anlaß brachte diesen Entschluß zur Reife. In Berneck, einem nahegelegenen Badeorte des Fichtelgebirges, ward durch einen plötzlichen Todesfall die Stelle des Bade- und Bezirksarztes erledigt, und von Seiten des Medicinal-Collegiums erging an Schaumberg ganz unerwartet die Anfrage, ob er geneigt sei, diese Stellung zu übernehmen.
Trotz aller vorhergegangenen Kämpfe warf dennoch die nun drängend vor ihm stehende Entscheidung einen Brand in die Seele des jungen Mannes, der von der Macht seines energischen Willens zwar gelöscht ward, dabei aber gar Vieles in ihm verheerte. Als er seine Zusage an die Behörde unterzeichnete, in welcher er sich bereit erklärt hatte, in den nächsten Tagen nach dem neuen Berufsorte abzugehen, ging es wie ein Riß durch seine Seele. Nur wenige Meilen waren es zwar, die ihn fortan von Helene trennen sollten, ihm aber bedeuteten sie ein Scheiden auf Nimmerwiedersehen. –
Es dämmerte. Helene saß, von den schweren Gardinen halb verhüllt, in der tiefen Fensternische ihres Wohnzimmers und sah unverwandt auf die menschenleere Straße hinaus.
Die junge Frau sah heute leidend aus, eine durchsichtige Blässe war über ihre feinen Züge ausgegossen, tiefe Schatten lagen um die fieberisch glänzenden Augen. Obgleich sie sich nicht rührte, würde doch ein Beobachter leicht erkannt haben, daß sie heftig erregt war; die kleine Hand, die auf dem Fensterkissen lag, erzitterte mitunter, und eine der blauen Adern, die ihre freien Schläfe durchzogen, pulsirte unaufhörlich. Seit vorgestern hatte sie von Schaumberg weder etwas gehört, noch gesehen, diesen Morgen aber seine Versetzung und Beförderung als amtliche Ankündigung im Tagblatt gelesen. Seitdem saß sie und wartete auf ihn.
Das Warten einer Frau, die liebt und leidet – was käme Dem wohl gleich! Man hat oft gesagt und geschrieben, die Liebe des Weibes sei deßhalb so viel tiefer und ausdauernder als die des Mannes, weil ihr so viel Zeit bleibt, mit dem eigenen Herzen zu verkehren – das aber ist es nicht, was ihr Gefühl so vertieft, es ist das stumme Warten auf ein Glück, das sie sich nicht selbst erobern darf. Sie kann nichts thun für ihre Liebe, sie kann nicht hinaus aus dem Zauberkreise, den Sitte und Zartgefühl um sie ziehen; will sie handeln für das Glück ihres Herzens, so handelt sie gerade dagegen – sie kann nichts thun, als warten! Oft allerdings mit lächelnder Zuversicht, die das Ersehnte sogar freiwillig verzögert, weil solches Warten so süß ist – oft aber auch mit stockendem Herzschlag, der jede Secunde zur tödtlichen Qual werden läßt! Und so wartete heut Helene.
Als die ihr unglaubliche Neuigkeit von Schaumberg’s bevorstehendem Wegzug so unerwartet ihr Auge getroffen hatte, war ihre erste Regung auflodernder Unwille. Er wollte fortgehen – er hatte diesen in sein Leben eingreifenden Entschluß gefaßt, ohne ihren Rath, ihre Wünsche zu befragen, der Entschluß war zur That geworden, und sie wußte nichts davon! Der Gedanke an Vergeltung, der in leidenschaftlichen Gemüthern so rasch aufwallt, färbte ihre Wangen mit dunkler Gluth – sie wollte ihn Das fühlen lassen, ihn dafür strafen, auch er sollte leiden, scharf und glühend leiden, wie sie in diesem Augenblick! Sie würde ihn kalt empfangen, wenn er heute käme, mit gleichgültiger Miene seine Mittheilung anhören, ihn nichts von dem Aufruhr ahnen lassen, der sie in diesem Augenblick durchwühlte! Mit fliegender Brust wanderte sie rastlos in ihrem Zimmer auf und nieder, dazwischen immer von Neuem athemlos aufhorchend. Bei dem leisesten Geräusch im Hause drohte ihr wilder Herzschlag sie zu ersticken – sie haßte Otto in diesen Stunden fast, um all der Qual willen, die sie um ihn litt.
[739] Wie nun aber Stunde um Stunde verrann, ohne ihn zu ihr zu führen, schmolz all das leidenschaftliche Zürnen in Schmerz und Angst dahin. Todtmüde setzte sie sich endlich an’s Fenster, ihr Warten wurde schwere Bangigkeit, sie begann der Stunde der Erklärung entgegenzuleben, wie einem Urtheilsspruch. Sollte sie den Geliebten durch irgend ein Wort, eine Miene verletzt haben?
Grübelnd sann sie über ihr letztes Zusammensein mit ihm nach – jeder seiner Blicke, jeder Laut ging an ihrer Seele vorüber. Er war nicht anders gewesen, als sonst, wenigstens nicht anders, als während der letzten Wochen – aber gerade diese ganze letzte Zeit lastete ja wie ein Alp auf ihrer Seele. All die geheime Sorge stieg gespenstergleich aus der Tiefe ihres Herzens auf, in die sie stets zurückgedrängt worden war; was sind die Sorgen der Liebe denn auch Anderes, als Vorgefühle ihrer Schmerzen!
Oft und öfter war Otto in diesen letzten Wochen tagelang ausgeblieben, sein Blick war manchmal so trübe, er hatte so oft zu Boden gesehen, statt in ihr Auge. – Plötzlich fuhr sie heftig zusammen, jeder Blutstropfen wich zurück bis zu ihrem Herzen und ließ es stocken. Schaumberg war aus der Thür gegenüber getreten. Er sah zu ihrem Fenster auf, grüßte ruhig und kam herüber.
Als er vor der jungen Frau stand, schwiegen Beide einige Augenblicke. Jedes suchte und fand in den blassen, erregten Zügen des Andern den Widerschein der eigenen Empfindung.
„Sie haben vielleicht schon erfahren, gnädige Frau,“ sagte Schaumberg endlich, „daß ich heute komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen?“
Helene bejahte durch ein Zeichen, ohne ihn anzublicken.
„Vielleicht haben Sie es seltsam, vielmehr unartig gefunden, daß ich Ihnen nicht vorher über diesen Wechsel meines Geschickes Mittheilung machte. Es kam rasch, unerwartet – die Entscheidung drängte – meine Zeit war in den letzten Tagen bis zur Athemlosigkeit in Anspruch genommen –“
„Mangel an Zeit also“ – sagte Helene, und ihre Lippen zuckten.
„Mangel an Muth vielmehr,“ sprach der junge Mann mit gepreßtem Ton. „Der Antrag eines größeren Wirkungskreises entsprach meiner Lebensaufgabe, meinem Bedürfniß. Ich fühle mich nur dann wohl, wenn ich angestrengt arbeite, und – nur arbeite. Dennoch ist der Entschluß mir nicht leicht geworden, ich wollte, ich müßte allein damit fertig werden.“
„Ich würde ihn nicht erschüttert haben,“ sagte Helene, indem sie ihn mit stolzem, leuchtendem Blicke fest ansah.
„Das weiß ich, gnädige Frau. Mir aber würde vielleicht die Kraft versagt haben, ihn auszuführen, wenn – – Ich komme, Ihnen Lebewohl zu sagen, Ihnen zu danken für all Ihre Güte, Sie um ein freundliches Andenken zu bitten!“
Er hatte Helenens Hand ergriffen; eiskalt lag sie in der seinen. „Wann reisen Sie ab?“ fragte die junge Frau tonlos.
„Morgen früh.“
Kein weiteres Wort fiel mehr zwischen Beiden. Die Regung von Stolz, die Helene einen Augenblick Kraft verliehen hatte, war dahin. Angstvoll zu Otto aufblickend, legte sie unwillkürlich noch ihre zweite Hand auf die seinige, und er erblaßte unter ihrem Blick bis in die Lippen hinein. Welche Sprache vermöchte die Beredsamkeit eines menschlichen Gesichtes zu erreichen, aus dem ein gequälter Geist anklagend zu einer Seele spricht, welche begreift!
Einige Augenblicke vergingen, in denen Keines von Beiden eine Bewegung machte, dann hob Schaumberg plötzlich die kleine, kalte Hand an seine Lippen, und hatte einen Moment nachher das Zimmer verlassen.
Helene stand regungslos, und blickte ihre Hand an. Ein Tropfen schimmerte darauf – war er aus ihrem – war er aus seinem Auge gefallen?
Zusammensinkend drückte sie die strömenden Augen in’s Kissen des Sopha’s, neben dem der Geliebte so oft gesessen, und dachte schauernd an Leben und Zukunft.
Noch war Helene jung genug, um an die ewige Dauer ihrer Schmerzen zu glauben.
An der Pforte des Fichtelgebirges liegt ein altes Städtchen, das sich seit einigen Jahren zum Curort aufgeschwungen hat. Neben seinen stärkenden Fichtennadelbädern, seiner gut organisirten Molkenanstalt, bietet es den Curgästen noch den Vorzug der ungezwungensten Lebensweise und pittoresker Naturschönheiten.
Sagenhaft und sagenreich ist das Fichtelgebirge, allerwärts ein Hort von Märchen und Geschichten, und noch heute scheinen die kleinen Unterirdischen, von denen jedes Kind des Landes zu erzählen weiß, dort zu hausen. Ringsum sind ihre Schätze geheimnißvoll ausgestreut. Im Grunde des Baches schlummert die echte Perle, im Grunde der Berge Gold und Erz; je höher der Fuß sich hinaufwagt, desto häufiger begegnet dem Auge der funkelnde Glimmerstein, der im Sonnenlichte blitzt, wie eine Neckerei der Gnomen, die ihre Schätze wohl zeigen, aber nicht hergeben mögen. Sieben hohe, eng zusammengeschobene Berge, theils in nackten, grotesk aufsteigenden Felsmassen, theils dicht bewaldet, aber überall scharfkantig, schließen sich um das tief in enger Thalschlucht gelegene Städtchen, das nur nach Süden hin einen ebenen Ausgang hat, den gleichfalls sieben rasche Gebirgswasser sich nach dieser Seite erzwangen. Wer von dorther durch die schöne nach Baireuth führende Allee sich Berneck nähert, muß von dessen Anblick überrascht werden; langsam aufsteigend, die hochgelegene Kirche als Mittelpunkt von drei Burgruinen terrassenförmig überragt, erscheint der Ort wie eine lebendige Illustration des oft mißbrauchten Wortes: romantisch. Gleich freundlichen Augen blicken die hellen Fensterscheiben der reinlichen Häuser, welche, an hinabdrohende Felsmassen angelehnt, von ihnen oft thurmhoch überragt, gar originelle Straßen bilden. Der durchsichtig klare Perlenbach, die Oelsnitz, von einer freiliegenden Brücke luftig überwölbt, durchrauscht eilfertig das Städtchen; nur einzelne Gasthöfe und Amtswohnungen machen einen gewissen Anspruch auf Stattlichkeit, sonst trägt es einen durchaus ländlichen Charakter. Auch die neuen Anlagen, die zu Curzwecken entstanden, sind der natürlichen Scenerie mit Verständniß angepaßt, und nichts stört die Gäste, die sich meist aus Norddeutschland hierher wenden, im Genuß der ländlichen Freiheit. Wer einmal in Berneck war, kehrt gern wieder, und von Jahr zu Jahr bringt eine größere Zahl von Sommergästen Leben und Bewegung in dies abgelegene Stückchen Welt.
Anders sieht es dort freilich im Winter aus. Da sind die Bewohner dieser engen Bergschlucht wie losgetrennt vom Verkehr mit der Welt draußen, oft genug werden die Straßen unfahrbar, und der festgetretene, fußhohe Schnee schmilzt nicht eher, bis „der Frühling kommt und von den Bergen schaut“.
Auch jetzt lag, obgleich erst Weihnachten vor der Thür war, eine weite, flimmernde Schneedecke über Stadt und Land ausgebreitet, und die Bernecker hatten sich in den Bann ergeben müssen, den der Winter um sie legte. Vielleicht war keinem unter ihnen diese Isolirung so wenig störend, als Schaumberg. Er lebte nun bereits vier Monate an seinem gegenwärtigen Berufsorte und wünschte sich immer von Neuem Glück, eine Stellung eingenommen zu haben, die seiner Neigung so ganz gemäß war. Sein Wirkungskreis umfaßte eine ziemlich bedeutende Landstrecke und war, besonders in dieser Jahreszeit, nicht wenig anstrengend, doch fühlte er sich ganz an seinem Platze. Zum ersten Mal war es ihm vergönnt, in völlig unabhängiger Berufsthätigkeit zu wirken.
Namentlich in den ersten Monaten empfand der junge Mann den Segen unablässiger Thätigkeit als eine große Wohlthat. Durch den Abschied, die Trennung von Helene, war sein Gefühl für sie so gesteigert worden, daß der kaum überwundene Widerspruch zwischen Neigung und Ueberzeugung von Neuem, und diesmal leidenschaftlicher als je, in ihm hervorbrach. Wie aber solcher Widerstreit der unleugbaren Doppelnatur im Menschen nicht unlösbar ist, erfahren wir jedesmal, wenn wir wirklich arbeiten müssen. Da ordnet sich Alles dem Beruf unter, alle Fähigkeiten fügen sich der Einen, die zur That wird. Wenn auch oft in den Stunden der Rast jener schöne blonde Kopf lebendig vor ihm erschien, wenn der letzte, schwere Blick ihn verfolgte, die geliebte Stimme hineintönte bis in seine Träume, so fühlte er doch, daß es möglich sei, sie zu entbehren. Er vergaß [740] nicht – Helene gehörte nicht zu den Frauen, die man überhaupt vergißt –, ihr Bild begann aber in jenen Raum seines Herzens zurückzuweichen, wo unsere überwundenen Schmerzen und unsere Todten schlafen.
In jener Gestalt trat das Leben Otto Schaumberg jetzt frischer und lebendiger entgegen. Sein jugendlich kräftiger Körper empfand die vermehrte Bewegung und Anstrengung wohlthuend, frisches Leben floß durch alle seine Glieder, so manche bis jetzt nicht geweckte Fähigkeit wagte sich, ihn selbst überraschend, hervor und befriedigte sein Selbstgefühl. Wer kennt nicht die Verhältnisse eines Landstädtchens, wo die wenigen Gebildeten zu sehr auf einander angewiesen sind, als daß der Einzelne sich häufigem Verkehr zu entziehen vermöchte! Sogar Besuche mußten gemacht werden, und wenn der junge Arzt auch mit den Familien dadurch in keine nähere Beziehung trat, so hatte ihn doch die kleine Zahl der Beamten in ihren täglichen Abendclub gezogen. Der Landrichter mit seinen beiden Assessoren, ein Notar, der Decan, dann ein alter Bürgermeister, der Apotheker und endlich der Revierförster, der zugleich Perleninspector war, bildeten den Honoratiorenkreis Bernecks. Mit dem Blick des Physiognomikers, der sich bei jedem Arzt, welcher mehr versteht, als Recepte zu schreiben, so scharf ausbildet, erfaßte Schaumberg die Eigenthümlichkeiten dieser verschiedenen Personen. Unter diesen interessirte ihn vor Allem der Revierförster Andlau durch seine scharf ausgeprägte Persönlichkeit.
Von stattlicher, ja hünenhafter Gestalt und tönender Stimme, hatte dieser Mann in seinem ganzen Auftreten etwas Despotisches, was sich auch im geselligen Verkehr nicht verleugnete. Er unterhielt sich fast nie, sondern hielt Reden. Ihn zu unterbrechen war eine physische Unmöglichkeit; erhaschte man einen Augenblick, um ihm etwas zu erwidern, so erhob er seine Stimme derart, daß es dem Andern unmöglich ward fortzufahren. Diese Eigenthümlichkeit machte ihn für Solche, die selbst Raum wünschten, sich in ihrem eigenen Wesen zu zeigen, lästig, ja selbst unerträglich; Schaumberg, der im Gespräch lieber nahm als gab, freute sich des mächtigen, kraftvollen Naturells Andlau’s, und gewann ihn lieb, ohne ihn zu überschätzen, denn es entging ihm nicht, daß in der Praxis des Lebens diese Kraft mehr geeignet war, Böses zu zerstören, als Gutes zu thun.
Bald verkehrte der junge Arzt häufig im Hause des Revierförsters. Es war in einiger Entfernung von der Stadt gelegen, und Schaumberg kehrte auf seinen Landgängen oft und gern dort ein, stets ein willkommener Gast. Andlau lebte mit seiner alten Haushälterin und seinen Hunden allein. Er war Wittwer; seine einzige Tochter Elisabeth, von der er nur selten sprach, war seit mehreren Jahren im Hause von Verwandten, „auf der hohen Schule“, wie er sich spottend auszudrücken pflegte.
Das junge Mädchen, dessen Ausbildung vollendet war, sollte nun zum Vater zurückkehren, der von dieser Aussicht nicht übermäßig entzückt zu sein schien. „Weiß der Herrgott, was für eine Puppe meine Frau Schwester mir zurechtgeschnitzt hat,“ äußerte er am Tage vor ihrer erwarteten Ankunft mürrisch gegen Schaumberg. „Ich hätte ihr das Mädel gar nicht geben sollen! Hab’s schon hundert Mal bereut! Die Kleine war brav, als ich sie zu Hause hatte, beim Bernecker Schullehrer hätte sie Alles lernen können, was ein Mädel braucht; für all’ den städtischen Krimskrams gebe ich keine taube Nuß. Jetzt wird sie Clavier klimpern und Romane lesen wollen! Seit mein Schwager nun gar vor einem halben Jahr nach München versetzt worden ist, führen sie das Kind dort in Theatern und Concerten herum, und gewiß hätte die Alte, dem Pathchen zu Liebe, ihre mürben Knochen auch auf ein Dutzend Bälle getragen. Wäre mir schon recht gewesen – verrückter Einfall das, von der Kleinen, jetzt, mitten im Winter heim kommen zu wollen! Nun, ganz nach ihrem Belieben, wenn sie’s hier nicht nach ihrem Geschmack findet, kann ich ihr nicht helfen.“
„Ihre Fräulein Tochter wünschte also selbst jetzt zu Ihnen zurückzukehren? Das muß Sie doch freuen?“ schob Schaumberg eilfertig dazwischen.
Der Revierförster lachte grimmig. „Da ist was zu freuen! Meinen Sie denn, das Püppchen käme mir zu Liebe? Irgend ein Weiber-Raptus ist’s, vielleicht hat sie in München einen Schatz, den sie nicht kriegen kann, oder sonst was – ein achtzehnjähriges Mädel, die nach Herzenslust in der Residenz tanzen und springen könnte, verlangt nicht auf’s Land zu einem brummigen Vater, wenn Alles richtig ist. Na, wir werden ja sehen! Meine alte Gretel ist vor Freude ganz confus und macht lauter Dummheiten, schon deshalb bin ich froh, daß die Elisabeth morgen anlangt: Elisabeth! Was das für ein ellenlanger Name ist – ich werd’ sie ruhig wieder Lisett’ rufen, wie früher. Man hat’s nur bis jetzt dabei lassen müssen, wie’s meine Schwester ausgeheckt hat; wissen Sie, es ist ihre Pathin und eine Erbtante dazu, da muß man mitunter ein Auge zudrücken. Die Schwester hat keine Kinder, und einen reichen Mann, der nach ihrer Pfeife tanzt. Da meint sie, das müßten alle Leute thun; an mir hat sie auch schon schnitzen wollen, ich bin ihr nicht fein genug – ho, ho, Frau Schwester, das war doch zu hartes Holz! Das Püppchen wird aber besser gerathen sein! Nun, das Haus soll sie mir nicht umkehren, dafür will ich gut stehen, Doctor!“
„Das wollen wir abwarten,“ sagte Schaumberg lachend, indem er sich empfahl.
[753]
Es war Christabend. Schaumberg, über Land gerufen, kehrte erst zurück, als schon die Dunkelheit einbrach. An dem klaren, sternenhellen Himmel begann der Mond aufzusteigen, und während der Wanderer voranschritt, fiel das weiße Licht immer breiter auf die schimmernde Schneelandschaft. In dem Dorfe, das Schaumberg eben erreicht, erhellten sich fast zu gleicher Zeit die meisten Fenster; es hatte eben zum Ave Maria geläutet, und um diese Stunde erglänzt den Kindern jener Gegenden Weihnachtsfreude selbst in der ärmsten Hütte.
Eine eigenthümlich weiche Stimmung überkam Otto. Seit Jahren war ihm die Weihnacht nicht mehr lebendig geworden; allein in seinem Zimmer, oder im Gasthof mit Bekannten, hatte er diesen Abend verlebt wie jeden andern. Heut wachte nun auf einmal der alte, süße Kindertraum in ihm auf! Er sah die ihm kaum noch deutliche Gestalt der früh verstorbenen Mutter zwischen geschmückten Tischen auf und ab gleiten, vom Glanz des strahlenden Christbaums beleuchtet – all’ seine Sinne erfüllten ihn mit Weihnachtsträumen! Der eigenthümliche Duft des Tannenbaumes hauchte ihn an, das nichts Anderem vergleichbare Prasseln der Zweige, die, von einem der Lichtchen ergriffen, mitunter anbrannten, streifte sein Ohr. Er hörte den Choral wieder, den die Schwestern mit ihren feinen Kinderstimmen sangen, und ein alter, lang vergessener Spruch, den er selbst hatte vortragen müssen, während sein ungeduldiges Kinderherz der Bescheerung entgegenpochte, klang heute Wort für Wort in seiner Seele wieder.
Wehmuth durchschauerte ihn, er fühlte sich so allein, so verlassen, er sehnte sich aus tiefstem Herzen nach einer Hand, die er drücken könnte, nach einem Auge, das ihn freundlich ansehen möchte. Immer langsamer schlenderte er dahin, tief in Gedanken. Das rasche, kurze Anschlagen eines Hundes störte ihn aus der Träumerei plötzlich auf; vor ihm lag das Forsthaus. Er blieb stehen und sah nach den Fenstern. Sie waren alle dunkel, nur aus dem Zimmer des Revierförsters schimmerte das bekannte Lampenlicht. Schaumberg zögerte einen Augenblick, dann trat er in’s Haus. Er war seit einer Woche nicht mehr dort gewesen, das Eintreffen der neuen Bewohnerin hatte seinen Besuchen den Reiz der Ungenirtheit genommen, so dachte er wenigstens. Heut’ freute er sich auf das Schelten des Revierförsters, es war doch eine bekannte Stimme, es war doch ein Mensch, den er gern hatte. In irgend ein Familienfest einzufallen, fürchtete er nicht, dafür war der Abend noch nicht vorgerückt genug. Mit ein paar Sprüngen war der junge Mann oben; auf sein Klopfen tönte keine Antwort, er schaute in’s Zimmer, es war erhellt, aber leer.
Um nach Andlau zu fragen, ging er hinunter in die Stube der Haushälterin, die nach dem Hofe zu lag; ohne Umstände öffnete er die Thüre, blieb aber sogleich halb verlegen stehen, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot.
Auf einem langen, mit weißen Tüchern bedeckten Tische stand ein grosser, hellbrennender Christbaum, an dessen Fuß eine kleine, aus vielen Figuren bestehende Krippe aufgebaut war. Geschenke aller Art, Kleidungsstücke, Schulhefte, Püppchen und Weihnachtskuchen, lagen in bunter Reihe den Tisch entlang. Acht oder zehn kleine Mädchen, Dorfkinder, wie es schien, drängten sich mit gespannten, etwas verblüfften Gesichtern um eine schlanke Mädchengestalt, die, dem Christbaum zugewendet und mit der Hand nach der Krippe zeigend, ihnen mit Lebhaftigkeit das Evangelium des Weihnachtsabends erzählte.
In einer Ecke des Zimmers saß Andlau, mit einer langen Pfeife bewaffnet, und einem schmunzelnden Ausdruck, der seinem Löwengesichte wunderlich genug stand. Er allein hatte das Eintreten seines jungen Freundes bemerkt und legte, ihm zunickend, sehr verständlich den Finger auf den Mund. Das Zeichen wäre nicht nöthig gewesen, denn Otto stand lautlos, den Blick unverwandt auf die hübsche, lebendige Gruppe vor ihm gerichtet, vor Allem auf die Hauptperson, die, von all’ den Weihnachtskerzen hell beleuchtet, aussah wie eine Fee im Märchen. Elisabeth war eine strahlende Schönheit, das etwas brünette Gesicht von edelster Form, die hohe Gestalt von plastischer Vollendung. Eben jetzt war das junge Gesicht von froher Erregung lebhaft gefärbt, die braunen Mandelaugen leuchteten vor Freude. Eine nach der Andern führte sie die kleinen Mädchen an den Tisch, beschenkte, erklärte und liebkoste sie dabei so innig und zutraulich, daß die Blödigkeit der Dorfkinder bald in lauten Jubel überging. Bei einer raschen Wendung gewahrte sie indeß plötzlich den jungen Mann, der, noch immer regungslos, wenige Schritte von ihr stand. Sie fuhr heftig zusammen und eine glühende Röthe übergoß ihr Gesicht.
Andlau, nachdem er den Gast in seiner gewöhnlichen lauten Weise begrüßt hatte, rief ihm mit dröhnendem Lachen zu: „Nun, Doctor, sehen Sie sich den Popanz einmal an, der Sie bis jetzt, wie’s scheint, aus meinem Hause verscheucht hat – sie ist nicht wie der Mann im Walde, der die kleinen Kinder frißt, sie giebt ihnen im Gegentheil was zu – essen!“
[754] Otto war zu dem jungen Mädchen getreten und sagte ihr ein paar artige Worte des Willkomms in der Heimath. Sie sah nicht auf, erröthete aber von Neuem und antwortete so undeutlich und befangen, daß der junge Mann, von ihrer Schüchternheit angesteckt, sich es zum Vorwurf machte, in die für Fremde gewiß nicht berechnete Scene hineingerathen zu sein.
In diesem unbehaglichen Gefühl wollte er sich nach ein paar Minuten empfehlen, Andlau erhob aber dagegen energischen Einspruch, und der Gast fand sich wider Willen in das Zimmer des Oberförsters entführt und dort etablirt, ehe er sich recht besonnen hatte.
„Lassen wir das Kind drunten mit ihren Rotznäschen wirthschaften,“ sagte er, die gewaltigen Glieder streckend, „und plaudern wir hier, bis der Rehziemer gar ist. Ich lasse Sie heut nicht fort, Doctor! Mein Mädel hat mir nun einmal weis gemacht, Weihnachtsabend sei etwas Absonderliches, da wollen wir Zwei ein paar Flaschen Würzburger Leisten mit einander ausstechen. Was sagen Sie zu der Kleinen? Ist wirklich ein Prachtmädel geworden in dem Jahr, seit ich sie nicht mehr gesehen. Und einen Trotzkopf hat sie, sag’ ich Ihnen! Mit der Lisett’ ist’s nichts, Elisabeth muß ich sie rufen, das hat sie schon durchgesetzt in den acht Tagen, und ihren Christbaum auch! Was denken Sie, Doctor – hat mir das Kind wirklich zugemuthet, ich solle mir heute von ihr bescheeren lassen, wie ein kleiner Junge in Pumphöschen, und wie ich mich auf solchen Schnickschnack nicht einlasse, beschwätzt sie den Gehülfen, daß er ihr den schönsten Tannenbaum im Revier schlägt, geht hin, liest sich ein halb Dutzend Bettelkinder zusammen, und richtet ihren ganzen Kram drunten so schmuck her, daß es mir selbst Spaß gemacht hat und ich mich jetzt ärgere, der Kleinen kein Präsent gemacht zu haben.
„Aber nun sagen Sie mir, Doctor, was Teufels sind Sie die ganze Zeit weggeblieben? Bscht – brauchen gar nichts zu antworten, ich weiß schon, daß Sie allen Unterröcken aus dem Wege gehen! Vor meinem Mädel brauchen Sie sich aber nicht zu scheuen, die ist kein solches Kräutchen Rührmichnichtan, wie ich mir vorstellte, lachen kann sie, daß Einem selber das Herz im Leibe lacht, in Wind und Wetter geht sie mit mir hinaus, und kann Einem den Stuhl und die Pantoffeln so gut zurechtrücken, daß es Einem ordentlich wohl dabei wird. Und ein Leben ist in dem Mädel, sag’ ich Ihnen! Das trillert den ganzen Tag wie eine Lerche, Trepp auf, Trepp ab, das springt wie ein Eichhorn und kann schmeicheln wie ein Kätzchen!“
Ergötzt hörte Schaumberg der Suada des alten Herrn zu, dessen herzinnige Freude an der Tochter, im Gegensatze zu dem Mißvergnügen, mit dem er sie erwartet hatte, im Stillen seine Heiterkeit hervorrief.
Als zum Essen gerufen ward, freute er sich darauf, das schöne Gesicht wiederzusehen, welches ihn wirklich von Neuem frappirte. Die lebhafte Färbung, die es vorhin gezeigt, war nun verschwunden, kaum ein Anflug von Röthe deckte die Wangen, nur die frischrothen Lippen erhöhten den warmen Ton ihres Teints. Elisabeth’s größter Reiz war ein eigenthümlich rascher Aufschlag der dunkeln, von langen, etwas gebogenen Wimpern beschatteten Augen. Unwillkürlich wandten Otto’s Blicke sich, magnetisch angezogen, ihr immer von Neuem zu, obgleich seine wiederholten Versuche, sie in ein Gespräch zu ziehen, wenig Erfolg hatten.
Elisabeth gab sich sehr schweigsam, von der heiteren Lebhaftigkeit, die ihr Vater so laut gerühmt, zeigte sich keine Spur, sie erschien dem Gast sogar auffallend befangen.
Dennoch, so wenig des Mädchens überaus melodisches Organ in das Ohr Schaumberg’s erklungen war, begleitete es ihn auf dem Heimwege wie das Echo des angenehmsten Eindrucks, und er gestand sich, selten eine wohlthuendere Gastlichkeit genossen zu haben. –
Von da ab kehrte Schaumberg oft und öfter im Forsthause ein, und er konnte und wollte sich nach einiger Zeit selbst nicht mehr verleugnen, welcher Magnet ihn dahin zog. Täglich ward ihm klarer, daß er in Elisabeth einer Natur begegnete, die zu der seinen stimmte, wie ein Doppel-Accord. Sie waren einander so sympathisch, daß Alles, was sie in der Unterhaltung berührten, ein Licht über die Dinge auszuströmen schien. In Elisabeth’s Nähe wurde jede Fähigkeit des jungen Mannes erhöht, gesteigerte Lebensfrische brachte er von ihr in sein Haus, zu seiner Berufsthätigkeit zurück; ihr strahlendes Bild begleitete ihn überall hin und war nirgend zu viel, nirgend störend. Ein lebhafter, ja feuriger Geist verrieth sich in jeder Aeußerung, jedem Thun des Mädchens, und während Otto sie von Herzen liebte, gefiel sie ihm auch in Allem, was sie sprach und vornahm. Der Einfluß, den sein Urtheil, seine Ansichten unverkennbar auf sie übten, that dabei seinem Selbstgefühl sehr wohl. Während Elisabeth im Verkehr mit den wenigen jungen Männern Bernecks, die sich eifrig um das schöne Mädchen bemühten, die harmloseste Heiterkeit zeigte, trat die Befangenheit, welche Schaumberg schon bei dem ersten Zusammentreffen an ihr aufgefallen, ihm gegenüber noch oft hervor und gab der glänzenden Erscheinung einen veilchensüßen Reiz. Wenn er in’s Forsthaus kam, war ihr Empfang stets freudig und zutraulich, im Gespräch kam es aber oft plötzlich über sie, wie ein Hauch von Verschüchterung; dann wechselte sie ohne sichtlichen Grund mit einem Mal die Farbe, stockte und verstummte, und jedesmal bedurfte es in solchen Augenblicken einiger Zeit, bis sie ihre Unbefangenheit und Munterkeit wieder gewann. Schaumberg sann oft über diese Eigenthümlichkeit nach, er konnte nicht herausfinden, was sie, offenbar im Zusammenhang mit einem von ihm gesprochenen, ihm gänzlich unwesentlichen Worte, wieder beunruhigt hatte.
Unmerklich war es Frühling geworden. Schon deckte sich der ganze Abhang des Schloßberges mit weiß und blauen Fliedersträußen, die ihre Düfte weithin in die junge Welt hinaus hauchten. Auch in den Bergen begann es sich zu regen; sind gleich die Stollen und Schachte, in denen man hier früher nach Gold, Alaun und Kupfer gegraben, nun zerfallen und unzugänglich, so werden doch heute noch Erze aus beutereichen Gruben an’s Licht gehoben. An Sonntagen fehlen die Bergknappen in ihrer originellen Tracht selten unter dem fröhlichen Völkchen, das sich im Tanze schwenkt, meist im Freien, und am liebsten vor der besuchten Schenke des Dorfes Goldmühl. Dies hübsche Dörfchen ist zugleich das Lieblingsziel der auswärtigen Gäste, die sich mit den ersten Primeln und Schneeglöckchen in Berneck einzufinden beginnen, und der Mittelpunkt für ein reges industrielles Leben und Treiben. In dem lieblichen Goldmühlthale sind zwischen üppigen Wiesen und Feldern, neben wohlhabenden Bauerngütern, zahlreiche Mühlen und Hammerwerke angelegt, die viel rührige Hände in Bewegung setzen.
Auch die Perlenmuscheln werden nun aus ihrer Winterruhe aufgestört und müssen Rechenschaft ablegen, was sie in der langen Ruhezeit gefördert. Schaumberg, der sich für diese in unseren deutschen Gauen immerhin seltene Industrie interessirte, hatte den Revierförster gebeten, ihn zu benachrichtigen, sobald der Perlenfischer den Bach zum ersten Mal begehen würde. Da auch Elisabeth wünschte, diese Erinnerung ihrer Kinderzeit aufzufrischen, so ward eine gemeinschaftliche Partie verabredet. An einem schönen schönen Maitage fanden sich die drei heiter gestimmten Menschen in Neidhard’s Mühle zusammen, um dort erst den Kaffee einzunehmen, dann den Perlenbach zu begehen und gegen Abend nach Amt Stein zu wandern, wohin ein Geschäft den Revierförster rief.
Während der Perlenfischer in das klare, schwach strömende Wasser des Baches hinabstieg, eine der rauhen unscheinbaren Muscheln nach der andern aus dem Kies grub und mit seiner kleinen Zange die Schale vorsichtig öffnete, um zu untersuchen, ob sie Perlen umschlossen, berichtete Andlau seinem jungen Freunde, in welcher Weise der Fiscus die Perlenfischerei organisirt hätte, und durch welchen Zufall im vorigen Jahrhundert von einem Dorfrichter dieser Hort des Baches entdeckt worden sei.
Elisabeth hörte lächelnd zu. „Glauben Sie kein Wort davon!“ sagte sie lebhaft zu Schaumberg. „Die Geschichte war ganz anders, der Perleninspector weiß auch nicht Alles! Das Muschelweibchen war dabei im Spiel, mir hat’s die alte Frau drüben in der Mühle erzählt, deren Urgroßmutter zu der ganzen Sache den Anlaß gab!“
Freundlich sah Otto in das leuchtende Gesicht des Mädchens. „Erzählen Sie mir Das!“ bat er. „Die Naturgeschichte der Perlen kenne ich jetzt zur Genüge; ich weiß, daß sie, wie wir Menschenkinder auch, in der Jugend rosig und im Alter grau aussehen. Da ist’s weit interessanter, zu erfahren, wer das Muschelweibchen war. Was meinen Sie, Herr Revierförster, dürfen wir langsam vorausgehen, nach Stein zu?“
„Meinetwegen,“ brummte Andlau, „ich brauch’ Euch nicht, und die dummen Ammenmärchen mit anzuhören, fehlte mir gerade noch. Uebrigens komm’ ich bald nach, es giebt heute nicht viel Rares zu inspiciren.“
[755] Schon wanderte das junge Paar den hübschen Fußpfad am Bache entlang. „Nun?“ sagte Otto und heftete einen warmen Blick auf seine Begleiterin.
Sie lächelte ihm zu: „Machen Sie sich aber auf eine ziemlich lange Geschichte gefaßt! Also, vor etwa hundert Jahren lebte einmal hier in Berneck ein blutarmer Knopfmacher, der besaß nichts auf der Welt, als seine zwei fleißigen Hände und einen braven Buben. Eines Abends gab er seinem Theobald die letzten Knöpfe, die er gedreht hatte, und weinte dabei, denn er hatte kein Horn mehr im Hause und auch keinen Kreuzer Geld. Bei’m Müller, der die Knöpfe bestellt hatte, mußte der Bube warten, weil gerade der Mühlgraben vom Schutt gereinigt wurde, und des Müllers kleines Gretchen forderte ihn auf, unterdessen mit ihr zu spielen. Sie lasen aus dem Schutthaufen eine Menge zerbrochener Muscheln auf und bauten damit.
Als Theobald endlich den Arbeitslohn bekommen hatte, ging er den Bach entlang nach Hause. Dabei dachte er an des Vaters trauriges Gesicht, und daß Der jetzt nichts mehr verdienen könnte. Das Herz wurde ihm ganz schwer, er setzte sich am Ufer nieder und fing an, so herzlich zu weinen, daß seine Thränen in den Bach fielen. Da sieht er auf einmal beim Zwielicht ein kleines Weibchen aus dem Wasser auftauchen – das hatte eine Rüstung an aus lauter glänzenden Muschelschalen; ihr schönes weißes Gesicht schimmerte, in der Hand hielt sie eine schwarze, häßliche Muschel, die zeigte sie dem Theobald, nickte und tauchte wieder unter.
Der Bube war erst ganz bestürzt. Auf einmal aber fiel ihm ein, daß die Muschel des Wasserweibchens gerade so ausgesehen, wie die Schalen, mit denen er vorhin gespielt hatte, und gleich darauf kam ihm der Gedanke, daß diese Schalen gewiß eben so hart wären, wie Horn, und man daraus wohl auch Knöpfe drehen könnte. Eiligst lief er zurück, suchte die größten Muschelstücke aus, stopfte seine Taschen damit voll und rannte nach Hause. Sein Vater machte gleich den Versuch, arbeitete die ganze Nacht und war glückselig, denn die Knöpfe mit den Muschelschalen bekamen den schönsten Perlmutterglanz und wurden so blank, wie er nie Aehnliches gesehen. Als sie am nächsten Tage hinter seinem kleinen Fenster zur Schau ausgestellt waren, kamen Käufer die Menge und noch mehr Bestellungen. Damit Niemand erfahren sollte, woraus die neuen Knöpfe gemacht würden, sahen Theobald und sein Vater sich nur bei Nacht nach neuem Vorrath um, und bald brachten sie heraus, daß die ganze Oelsnitz, bis zu der Bösenecker Brücke hin, mit solchen Muscheln wie gepflastert war. – Nun ward der Knopfdrechsler bald ein wohlhabender Mann, die Perlmutterknöpfe wurden weit und breit bekannt und verschrieben. Als Theobald heranwuchs, ließ der Vater ihn sogar damit wandern, und so kamen sie in der Welt herum. – Nach dem Theobald schauten jetzt die Bernecker Mädchen heimlich aus; er war ein gar netter junger Mann geworden und auch eine gute Partie. Ihm selbst gefiel aber nur Eine, und gerade diese konnte er leider nicht zur Frau bekommen. Sie selbst machte freilich keine Einwendungen, dagegen ihr Vater um so mehr. Es war Neidhard’s Gretchen, das reichste Mädchen und das schönste dazu. Der alte Müller wollte nichts von einer Heirath mit dem Knopfdrechsler hören, der zwar reichlichen Verdienst, aber weder Haus noch Hof zu eigen hatte. An einem Maiabend – vielleicht war es gerade heut vor hundert Jahren! – kam Theobald todttraurig aus der Mühle zurück. Der Müller hatte ihm rund heraus gesagt, er dürfte nicht mehr hinkommen, und Gretchen müßte den reichen Bäcker in Bischofsgrün heirathen. Theobald mochte gar nicht nach Hause gehen, sein Herz war ihm zu voll, er wollte Niemand sehen und ging weit hinaus, die Oelsnitz entlang, bis er sich endlich an’s Ufer setzte und in heiße Thränen ausbrach. Wie vor Jahren, fielen die Tropfen hinab in den Bach!
Da stieg abermals das längst vergessene Muschelweibchen auf! Sie lächelte ihm zu und zeigte ihm wieder eine Muschel – diesmal aber war die Schale geöffnet, und darin schimmerte eine große, schöne Perle. Das Muschelweibchen deutete abwärts in den Bach und tauchte dann unter.
Mit klopfendem Herzen grub Theobald einige Muscheln aus dem Kies; bis jetzt hatte er nur immer die leeren, ausgeworfenen Schalen genommen, die auf der Oberfläche lagen. Er öffnete sie und fand in jeder Muschel eine schimmernde Perle. Auf seinen Wanderfahrten hatte er genug von Perlen und ihrem Werth gehört, um zu ahnen, welchen Schatz er entdeckte. Voll Jubel eilte er am nächsten Tage nach Bamberg, ging dort zum Juwelier und löste für das Häufchen Perlen, welches er ihm gebracht, eine solche Menge Geld, daß er dafür das schönste Bauerngütchen kaufen konnte. Es versteht sich von selbst, daß er nun sein Gretchen zur Frau bekam, und diese war Niemand anders, als die leibhaftige Urgroßmutter der alten Frau drunten in der Mühle!“
Elisabeth schwieg und sah ihren Begleiter fröhlich an. „Die Geschichte ist entschieden glaubwürdig und der Einfall, einen guten Gedanken als Muschelweibchen auftreten zu lassen, ganz charmant,“ scherzte Otto. „Ist denn das Muschelweibchen seitdem noch öfter zum Vorschein gekommen? Und läßt es sich nur durch Thränen rühren?“
„Versuchen Sie’s – drunten rauscht der Perlenbach, wie damals,“ sagte Elisabeth, stehen bleibend.
Es war ein malerisch schöner Punkt, bei dem sie angelangt waren. Schon seit einigen Minuten hatten sie den Uferweg verlassen, um, langsam aufsteigend, dem Pfade zu folgen, der von Berneck durch den Wald nach Amt Stein führt und zu den schönsten Partien der Gegend gehört. Tief drunten, in der engen Schlucht, blitzte und rauschte der Bach, durch die dichten Gruppen des Laubwaldes drängten sich die Strahlen der schon sinkenden Sonne und woben ein Goldnetz um Zweige und Blätter. Durch eine Lichtung erblickte man von hier aus den schroffen Felsenvorsprung, der die Reste des alten Schlosses Stein trägt, theils in Ruinen, theils zu einer Kirche ausgebaut, die von der steilen Höhe winkt, ein Gruß des Friedens. Wohl diesem Ausblick zu Liebe war unter einer schattigen Eiche eine Moosbank angebracht.
„Wollen wir Ihren Vater hier erwarten, Fräulein Elisabeth?“ fragte Schaumberg, indem er auf die Bank zuschritt. Bereitwillig nahm das junge Mädchen an seiner Seite Platz. Sie nahm den Hut ab und lehnte den Kopf gegen den Stamm der Eiche. Es war wunderbar still ringsum; Beide saßen schweigend, dem Genuß des Waldfriedens hingegeben. Der junge Frühling und der sanfte Abend schwebten vereint über dem trauten Plätzchen. Das Leben des klaren Frühlingstages hatte sich noch nicht ausgeblüht – noch dufteten das dichte Moos und die wilden, so wunderbar eigenen Waldblumen aus den dunkeln Schatten hervor, noch klang hier und dort der Schlag einer Amsel, mit leisem Liebeston, der die Menschenbrust ergreift, wie eine Stimme vom Himmel; sanft ging ein schwaches Rauschen von Baum zu Baum, das geschwätzige Murmeln der Quelle, die wenige Schritte seitwärts aus dem Gestein drang, tönte unablässig – und doch hob all’ dies leise Klingen den Eindruck tiefster Stille nicht auf, es war gleichsam nur das Athemholen des schweigenden Waldes. Wie zur luftigen Kuppel eines Tempels wölbte sich das dichtverschlungene Laubdach der hohen Eichen und Buchen, dazwischen wallten die luftigen Zweige der Birke, schimmerte das zitternde Blatt der Silberpappel.
Nichts Lebendiges regte sich weit und breit. Otto’s Herz begann rascher zu schlagen. Ihm war, als ginge leise Liebeskunde durch den Wald, ein wunderbares Zukunftsträumen kam über ihn. Die thauigen, schwankenden Laubmassen ringsum schienen ihm ein leidenschaftliches, sehnsuchtsvolles Leben zu athmen. Er sah Elisabeth an. Noch lehnte ihr schöner Kopf an dem Baumstamm; ihr Auge, von den langen Wimpern halb bedeckt, sah träumend in die Schlucht hinab; dennoch mußte sie seinen Blick wohl fühlen, eine tiefe Gluth goß sich immer dunkler über ihr reizendes Gesicht.
„Ihre Sage hat einen tiefen Sinn!“ sagte Otto endlich, und seine Stimme klang weich.
„Ja,“ erwiderte das junge Mädchen, ohne aufzublicken, „das höchste Gut wird erst dem, der gezeigt hat, daß er es verdient.“
Schaumberg schüttelte das Haupt. „Nicht so – aber nur der Liebe gelingt es, echte Schätze zu heben! Das galt schon damals, das gilt noch heute. – Sie haben mir von einem Glücklichen erzählt, Elisabeth, wollen Sie einen Glücklichen machen? Darf ich, kann ich hoffen, daß Sie annehmen, was ich Ihnen biete – mein Herz, mein Leben?“
Elisabeth wandte sich und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke an, barg dann das glühende Gesicht in beide Hände und brach in Thränen aus.
[756] Betroffen sprang Schaumberg auf und stand vor ihr, keines Wortes mächtig. „Sie sind nicht mehr frei!“ rief er endlich mit leidenschaftlichem Ton.
Elisabeth ließ die Hände sinken und sah mit den feuchten, strömenden Augen zu ihm auf. „Ich bin zu glücklich!“ flüsterte sie kaum hörbar und ruhte in demselben Augenblick an Otto’s Brust, der sie an sich zog, als wollte er sie ewig halten.
Am 4. Juli war Elisabeth’s neunzehnter Geburtstag; er sollte ihr Hochzeitstag werden. Andlau hatte dem Drängen des willkommenen Schwiegersohnes nichts entgegengesetzt; für Elisabeth ward der alte Rechtssatz geltend gemacht: Wer schweigt, willigt ein, und so hatte sich nur eine Stimme dem Beschluß widersetzt, daß die Hochzeit der Verlobung so bald folgen sollte. Dies war Elisabeth’s Pathin und Tante, die es sich ausgebeten, für die Ausstattung ihres Lieblings sorgen zu dürfen, und die nun ein Wehgeschrei erhob, weil nicht die Hälfte des „Nothwendigsten“ in so kurzer Zeit fertig geliefert werden könnte. Da sie aber noch in München festgehalten war und erst zur Hochzeit kommen sollte, ging es ihr, wie meistens den Abwesenden, sie ward überstimmt und mußte sich fügen. Als sie ein paar Tage vor dem festgesetzten Termin in Berneck eintraf, folgten ihr dennoch ein Möbelwagen, unendliche Kisten und Körbe, zu deren Masse so ziemlich auch ihr Mann zu gehören schien.
Schaumberg war ein so glückseliger Bräutigam, daß ihn Alles amüsirte und Nichts ihm beschwerlich fiel, was sich auf sein nahes Glück bezog. Er selbst erwartete zur Hochzeit Niemand von den Seinen. Er besaß nur zwei Schwestern, die seit dem Tode des Vaters eine Mädchenschule gegründet hatten, und dadurch an ihren Wohnort gebunden waren. Dennoch fehlte es auch ihm nicht an einem Hochzeitsgast; er hatte den Assessor Marbach als Brautführer geworben, und derselbe traf am Vorabend der Trauung in bester Laune ein. Er konnte schon in der ersten Viertelstunde nicht Worte genug finden, die Veränderung anzustaunen, die er mit dem Freunde vorgegangen fand. „Alter Junge!“ rief er, ihn durch’s Zimmer wirbelnd, „ich war neugierig genug, Dich im Zustand eines Bräutigams zu sehen, und muß bekennen, meine Erwartung ist übertroffen! Du bist ja gar kein alter Mann mehr, Du bist ja förmlich übermüthig! Wer hätte gedacht, daß hier ‚hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen‘, ein Schneewittchen versteckt sein würde die Dir’s so hurtig anthun sollte!“
„Ein Schneewittchen nun gerade nicht,“ sagte Otto lächelnd, indem er an Elisabeth’s bräunliche Schönheit dachte, „eher eine Waldfrau, eine Fichtennadelfee, die menschliche Gestalt angenommen hat, um den Heilkünstler zu verzaubern dafür, daß er ihren Wald zu – Bädern mißbrauchen läßt! Du wirst ja sehen! Wir wandern nachher hinaus, um bei Andlau’s den Abend zuzubringen. Vorerst nimm eine kleine Erfrischung und laß uns plaudern.“
„Vor Allem erzählen!“ rief Marbach. „Du warst gewaltig lakonisch in dem ersten und letzten Sendschreiben, das Du von hier hast auslaufen lassen. Verlobt – in sechs Wochen Hochzeit – das kam wie ein Wolkenbruch über Einen. Ja, à propos! ich soll Dir Gruß und Glückwunsch von Frau von Dalen ausrichten, Deiner einstigen Nachbarin. Sie macht sich eben reisefertig, wohin, wußte sie selbst noch nicht, oder sagte es doch nicht.“
„Und wie geht es ihr?“ fragte Schaumberg, indem er sich am andern Ende des Zimmers zu schaffen machte.
„Ich habe sie selten gesehen. Die schöne Capriciöse hat diesen Winter einsiedlerische Launen gezeigt und sich wenig blicken lassen. Möglich, daß die Leute Recht haben, es mit dem Verschwinden ihres Chaperon’s in Verbindung zu bringen; der Major von Feldheim ist nämlich gegen Neujahr in’s Kriegsministerium versetzt worden. Die Wahrheit zu sagen, Schaumberg, war ich lange der Meinung, zwischen Dir und dem schönen Weibchen hätte sich etwas eingefädelt, während Du an ihr curirt hast. Wenn Dein Abzug mich aber nicht schon darüber belehrt hätte, so wäre es jedenfalls die Gleichgültigkeit gewesen, mit der unsere holde Freundin die Mittheilung über Deine Verlobung aufgenommen hat. Ich faßte sie scharf in’s Auge, als ich ihr zu diesem Zweck eine Visite machte; sie verzog keine Miene ‚und läßt Dir alles Gute wünschen‘.“
Otto holte tief Athem. Er kannte Helene genug, um zu wissen, daß sie sich, bei all’ ihrer Leidenschaftlichkeit, in einem solchen Moment völlig in ihrer Gewalt hatte. „Auch ich wünsche ihr das beste Glück,“ sagte er nach minutenlangem Schweigen, „sie ist und bleibt eine seltene Erscheinung. – – Nun aber, wenn es Dir recht ist, laß uns zu Andlau’s gehen.“
Als die Freunde im Forsthause anlangten, wies die Haushälterin sie nach dem Garten, wo die Herrschaft zu finden sei. In der geräumigen Fliederlaube war bereits der Tisch zum Abendbrod gedeckt; dahinter, in die bequemste Ecke gedrückt, saß der Onkel und dampfte seine Pfeife, die vielversprechenden Zurüstungen behaglich musternd, während der Revierförster und seine Schwester in eifrigster Unterhaltung mit einander auf und ab wandelten. Otto stellte seinen Freund vor, erfuhr, daß Elisabeth in ihrem Zimmer sei, und ging in’s Haus, um sie aufzusuchen. Als sein bescheidenes Klopfen nicht beantwortet wurde, drückte er die Klinke leise nieder, um die Geliebte zu überraschen. Sie stand vor ihrem Schreibtisch, beschäftigt, ein Päckchen zu versiegeln, das sie in der Linken hielt.
Mit leuchtendem Auge betrachtete Otto seine Braut. Ihr herrlicher Nacken war leicht gesenkt, das dunkle Haar fiel in schweren Massen darauf nieder; ihre schönen Züge erschienen ihm in diesem Augenblick besonders ausdrucksvoll, ein nachdenkliches Lächeln schwebte um den Mund. Sein volles Bräutigamsherz wallte ihr entgegen – er trat nicht näher, sagte aber mit jenem leisen, vibrirenden Ton, der nur Liebenden zu Gebote steht: „Elisabeth!“
Das Mädchen schrak zusammen, wandte heftig den Kopf und warf mit auffallend plötzlicher Geberde das Päckchen, das sie hielt, in eine halb aufgezogene Schublade des Schreibtisches, die sie hastig verschloß. Als sie Otto darauf die Hand reichte, war ihre Verwirrung noch so augenscheinlich, daß er, etwas betroffen, den Arm um sie legte und ihr tief in’s Auge blickte. „Hat meine Elisabeth Geheimnisse?“ fragte er zwischen Ernst und Scherz.
Elisabeth ward feuerroth. „Wie kommst Du auf diese Idee?“ sagte sie, befangen lächelnd.
„Hier ist Etwas versteckt worden!“ scherzte er. „Das lasse ich mir heute wohl noch gefallen, von morgen an aber nicht mehr! Sieh doch nicht so bestürzt aus, mein Liebling, ich weiß ja, daß es sich um kein Staatsgeheimniß handelt!“
„Nein,“ sagte Elisabeth schüchtern. „Ich habe nur alte Briefe weggepackt, alte Sachen! Später zeige ich sie Dir wohl einmal.“
„Das ist es, was ich so an Dir liebe,“ rief Otto, indem er sie an sich zog, „daß Du klar und durchsichtig bist, wie ein Thautropfen, daß Du keine Vergangenheit hast, keine Erinnerungen, als solche, die Du mir gern erzählen magst. Und nicht wahr, so bleibt es zwischen uns? Laß mich immer wissen, was in diesem reinen Herzen vorgeht, immer Theil nehmen an Allem, was Deine Gedanken beschäftigt!“
Elisabeth lehnte schweigend den Kopf an seine Schulter. „Und was Du von mir nicht schon weißt, das werde ich Dir morgen sagen,“ hauchte sie mit einem tiefen Athemzuge.
Als die Verlobten den breiten Gang vom Hause her in den Garten kamen, blickte Marbach wirklich überrascht auf die herrliche Gestalt der Braut, und der Glückwunsch, den er nach geschehener Vorstellung gegen sie aussprach, war von einem stillen Händedruck an den Freund begleitet. „Du hast Recht,“ flüsterte er diesem im ersten freien Augenblick zu; „es bedarf hier keiner ausführlichen Liebesgeschichte, das Bild ist ganz genügend, um sich den Text dazu selbst zu machen.“
Es war ein wundervoller Sommerabend, die Gluth des Tages vorüber, eine laue, wohlige Luft voll Blumengeruch erfüllte alle Sinne. Marbach begleitete das Brautpaar nach dem Abendessen auf einem Gange durch die an den Garten grenzende Allee und fühlte sich von Elisabeth’s Frische so angesprochen, daß er ihr gegenüber bald in die Stimmung vertraulicher Behaglichkeit kam.
„Noch habe ich nicht erfahren, wer meine Brautführerin sein wird, Fräulein Elisabeth,“ sagte er, als das Programm des folgenden Tages zur Sprache kam.
[757] „Ein sehr hübsches und liebes Mädchen, die Tochter unseres Landrichters. Kennen Sie das alte Sprüchwort, Herr Assessor: ‚Keine Hochzeit so klein‘ etc. Wer weiß, vielleicht verlieren auch Sie morgen Ihr Herz!“
„Und was würde mir das nützen?“ seufzte Marbach mit komischen Pathos. „Ich habe mein Herz schon oft verloren, leider hat sich aber noch Niemand als glückliche Finderin melden wollen. Ja, Fräulein Elisabeth, manche Leute sind vom Schicksal merkwürdig bevorzugt! Ich bemühe mich Jahr aus, Jahr ein, den Damen zu gefallen, und es gelingt mir nicht – dieser junge Aesculap dagegen, der sich niemals der Courtoisie befleißigt hat, wird vom Glück förmlich überschüttet. Nicht allein, daß er jetzt so unverhofft das große Loos gewann, nein, auch schon früher flogen ihm die zartesten Herzen zu, sogar in anonymen Briefen verpackt!“
„Schwätzer!“ rief Schaumberg lachend, aber mit geheimem Verdruß. Er fühlte dabei den Arm seiner Braut, der in dem seinen lag, erzittern. „Wenn Du uns nichts Besseres aufzutischen weißt, als verjährte Phantasien,“ sagte er, etwas gezwungen scherzend, zu Marbach, „so dürften wir Dich leicht in Gnaden entlassen und den älteren Herrschaften den Vorzug Deiner Gesellschaft gönnen!“
„Ein guter Vorwand, um mich an die Luft zu setzen,“ lachte Marbach. „Nun, ich weiß zu leben und Opfer zu bringen! Benützen Sie die Gelegenheit meines Rückzugs, mein Fräulein, und nehmen Sie diesen Verräther in’s Gebet! Heute beichtet er vielleicht noch, was ihm morgen keine Göttin mehr entreißt!“
Otto sagte kein Wort, den Freund zurückzuhalten, dessen Scherze heute wie eine Dissonanz in seine reine, schöne Stimmung hineinklangen. Schweigend führte er Elisabeth weiter hinaus in’s Freie, indem er ihren Arm fester in den seinen zog und liebevoll auf sie niederblickte; sie sah nicht auf, ihre Wimpern zuckten leise.
„Du hast anonyme Briefe erhalten?“ fragte sie nach einigen Augenblicken, kaum verständlich, indem sie seinen Schritt unmerklich anhielt. Er blieb stehen und sah ihr in’s Gesicht; sie war sehr blaß, er fühlte ihren Herzschlag laut pochend an seinem Arm.
„Ist es möglich, Elisabeth,“ sagte er, und suchte ihr Auge, – „ist es möglich, daß Du eifersüchtig bist?“
Sie antwortete nicht, doch lösten sich zwei große Tropfen langsam und schwer von den zitternden Wimpern.
„Kind!“ sprach Otto sanft, indem er mit der Hand über ihr Haar strich, „wie kannst Du Dich nur beunruhigen, so ganz ohne Grund! Was Marbach eben so indiscret erwähnte, ist an sich völlig unbedeutend. Ich erhielt allerdings im vorigen Jahre ein paar anonyme Briefe zarten Inhalts, die aber ohne jede Folge blieben. So unwesentlich die Sache ist, würde ich Dir doch vielleicht davon erzählt haben, wenn ich nicht wüßte, wer die Schreiberin dieser Briefe ist!“
„Du weißt es?“ rief Elisabeth lebhaft, indem sie ihre Augen mit dem eigenthümlich plötzlichen Aufschlag zu ihm erhob.
„Ja,“ sagte Schaumberg, „und Du wirst es begreiflich finden, daß ich selbst mit Dir nicht davon sprechen möchte – es wäre allzu unzart! Ich gebe Dir mein Wort, geliebtes Kind, daß Du die Einzige auf der Welt bist, die je ein Wort der Liebe von mir gehört hat, und daß jene Briefe, deren Erwähnung Dich so aufregte, am wenigsten dazu angethan waren, mein Herz zu gewinnen. Sie boten mir, was ich weder suchte, noch begehrte. Alles, was an Unweiblichkeit grenzt, ist mir in der Seele zuwieder – nenn’ es Vorurtheil, nenn’ es Härte, aber ich könnte auf den Besitz eines Herzens, das sich mir unverlangt bietet, niemals Werth legen – im Gegentheil!“ – Schaumberg fühlte, wie seine Braut bei diesen Worten heftig erzitterte. Er sah sie besorgt an. „Bist Du noch nicht beruhigt?“ fragte er sanft. „Was stets der Inbegriff meiner Wünsche gewesen, das, Elisabeth, ist mir nur von Dir geschenkt worden, ein frisches, unberührtes Herz! ein Herz, in dem noch kein fremdes Bild gewohnt hat, das keinen fremden Gedanken beherbergte, ein echtes Mädchenherz, das sich suchen und finden läßt, sich aber nimmermehr ausbieten würde wie ein herrenloses Gut! Erhalte mir’s Gott, mein Liebling, und helfe mir, daß ich der schönen Gabe werth bleibe!“
Fest schloß er die Geliebte an seine Brust. Elisabeth, heftig erschüttert, umschlang ihn mit beiden Armen. Er fühlte ihre Thränen auf seiner Wange, ihren heißen Kuß auf seinen Lippen, er hörte die halb erstickten Worte: „Ich bin Deiner Liebe nicht werth!“ – dann löste sie sich aus seinen Armen und flog wie ein Reh dem Hause zu.
[769]
Läßt sich wohl in diesem wechselvollen Leben etwas Glücklicheres finden, als ein junges Paar, im ersten gegenseitigen Besitz, der heitersten Gegenwart voll, mit frohem Vertrauen auf die Zukunft und jenem schönen Glauben an sich selbst und die Menschheit, wie er dem Glück und der Jugend eigen ist?
Otto Schaumberg empfand die ganze Fülle des neuen Daseins, das ihn umfangen hielt. Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er den Genuß einer schönen Häuslichkeit kennen, schon darum das edelste aller irdischen Güter, weil es das einzige ist, das ohne Unterbrechung genossen werden kann. Der Reiz des gemeinsamen Lebens mit einer geliebten Gefährtin mußte um so lebhafter auf ihn wirken, als Elisabeth für das häusliche Leben wie geschaffen war. Ihr echt weibliches Bedürfniß, Allen, mit denen sie in Berührung kam, wohl zu thun, kam ihm in hundert unbedeutenden, aber freudig empfundenen Kleinigkeiten zu Gute; sie verstand es, gleichsam mit Feenhänden zu walten, geräuschlos jedem Wunsche zuvorzukommen und neben dem Behagen auch das Schöne zu pflegen. So einfach das materielle Leben des Paares auch eingerichtet war, empfing doch stets ein Eindruck von Festlichkeit und Fülle den jungen Arzt, wenn er von seinen Berufsgängen in seine Wohnung heimkehrte. Alles war dort so zierlich geordnet, immer gab es frische Blumen in den Zimmern, auf dem bescheiden servirten Tische erschien keine Frucht ohne malerische Blätterhülle, – überall ward dem Alltäglichen ein Reiz abgewonnen. Wenn sich die schöne Gestalt seiner jungen Hausfrau um ihn her bewegte, einfach, aber stets geschmackvoll und in helle Farben gekleidet, ward ihm so sonntäglich zu Muth, daß es oft über ihn kam wie ein Schauer von Freude und er sich gestand, bis heute nicht gelebt zu haben!
Gar manches Mal erzählte er dann Elisabeth von seiner freudlosen Kindheit, die ihm keine Erinnerungen an häusliches Glück zurückgelassen. Die blasse, stille Gestalt seiner Mutter schwebte nur noch unbestimmt vor seinem Geiste, nach ihrem frühen Tode hatte seine älteste Schwester die Erbschaft ihres Wirkens und ihrer Sorgen angetreten. Vor Allem ihrer Sorgen! denn dem stärkeren Einfluß der Mutter war es noch zuweilen gelungen, den Vater an das Haus zu fesseln, was die Tochter nicht mehr erreichte. Sein Vater war damals in –berg als Steuer-Rath angestellt, ein von der Stadt besoldetes Amt, dessen bescheidene Einkünfte in keinem Verhältniß zu seiner Neigung standen, das Leben zu genießen; beständig derangirte Geldverhältnisse waren die Folgen steter Ausschreitungen, und das Losungswort des inneren Familienlebens hieß: Entbehrung.
Nach solchen Rückblicken verdoppelte sich die Innigkeit Elisabeth’s. Sie gab sich ihm voll und ganz, alle ihre Gedanken, jede ihrer Beschäftigungen hatten nur Bezug auf ihn; sie schien nie daran zu denken, glücklich sein zu wollen, nur glücklich zu machen, und empfing die lebhaften Aeußerungen seines Dankes, seiner Zärtlichkeit mit einer Demuth, die gleichsam einen Schleier über die sprühende Lebhaftigkeit ihres Naturells warf. Diese Mischung von Feuer und Zurückhaltung, die Otto vom Anfang ihrer Bekanntschaft an aufgefallen war, gab dem Zusammenleben mit ihr, auch nachdem sie die Seine geworden, einen eigenthümlichen, mitunter sogar aufregenden Reiz. Es gab Augenblicke, wo er sich von ihrem plötzlichen Zurückziehen, ihrer schüchternen Unterwürfigkeit nicht angenehm berührt fand; doch waren solche Eindrücke immer nur blitzartig und ließen keine Spuren in seinem Herzen zurück.
Elisabeth hatte keines jener Salontalente geübt, die bei jungen Mädchen so häufig angeregt und so selten ausgebildet werden. Sie sang und spielte nicht, sie machte weder heimlich noch öffentlich Gedichte und verstand nichts zu zeichnen als ihre Stickmuster, – dennoch besaß sie ein Talent, das, selten gepflegt und wenig gekannt, zu denen gehört, die am tiefsten die Seele berühren. Sie las vorzüglich vor. In ihr beim Sprechen schon melodisches Organ kam, sobald sie las, ein eigenthümliches Klingen, das dem Ohr schmeichelte wie Musik und bis in das Herz des Hörers vibrirte.
Diese Gabe war für Otto eine Fundgrube glücklicher Stunden. Wenn er des Abends, körperlich ermüdet, in der Sophaecke lehnte, die alte Freundin seiner Junggesellenzeit, die Cigarre, im Munde, und Elisabeth dann das Buch zur Hand nahm, ward ihm wohl bis in’s Herz hinein. Den Blick unverwandt auf ihr schönes Gesicht geheftet, lauschte er mit Entzücken ihrem seelenvollen Vortrage; wenn dann bei einer Stelle, die sie tiefer berührte, die dunkeln Mandelaugen sich so plötzlich zu ihm erhoben und in raschem feurigem Blick die seinigen trafen, wallte es heiß in ihm auf und oft kostete es ihm Ueberwindung, sie nicht zu unterbrechen, um ihr eines von all’ den Liebesworten zu sagen, die ihm die Seele erfüllten. Doch klangen diese Eindrücke später in den Tönen seines Flügels nach, die in vollen Accorden die Hymne seines Glücks anstimmten.
[770]
Es ging in den Herbst hinein. Schon kamen kühle Tage und lange Abende, die Zahl der Curgäste lichtete sich. Dennoch war Schaumberg gerade jetzt besonders in Anspruch genommen; eine epidemische Kinderkrankheit grassirte ziemlich bösartig in der Gegend und hielt ihn in steter Bewegung. Elisabeth war deßhalb überrascht, ihn eines Morgens zu ungewöhnlicher Stunde nach Hause kommen zu sehen; beim ersten Blick bemerkte sie, daß er unwohl oder ernstlich verstimmt sein müsse. Mit einiger Heftigkeit wies er ihre besorgten Fragen zurück, ging in sein Arbeitszimmer und schloß hinter sich ab.
Es war das erste Mal, daß er Elisabeth unfreundlich, ja abstoßend begegnete. Dies erste Mal! – Welch’ ein Sturz aus dem Himmel auf den Steinboden des Lebens ist es für das junge, liebende Weib, wenn das Auge, das bisher stets mit Entzücken auf ihm ruhte, es zum ersten Mal finster anblickt, wenn der Mund, der immer nur Liebesworte sprach, heute nichts findet, als ein rauhes Wort! – Das unschuldigste Herz wird sich dann fragen: bist Du schuld daran? und weder Rast noch Ruhe finden, bis dieser bange Zweifel gelöst ist. Wie aber ist dem Herzen zu Muthe, das sich dem Geliebten gegenüber nicht rein und frei fühlt, das etwas zu verbergen hat und in der Wolke auf seiner Stirn den Blitzstrahl ahnt, der alles Glück und Heil verzehren kann?
Elisabeth hatte etwas zu verbergen! Es gab in ihrer Vergangenheit einen wunden Punkt, den sie um keinen Preis dem Auge des Geliebten offenbart wissen wollte, der ihr die Liebe kosten konnte, die ihr Alles war! – Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, während sie athemlos auf den ruhelosen Schritt horchte, der im Nebenzimmer auf und nieder ging. Leise schlich sie wieder und wieder bis zur Thür, der geliebte Name bebte auf ihren Lippen, und doch wagte sie nicht zu rufen, wagte nicht Einlaß zu erbitten – wozu auch den Augenblick beschleunigen, dem sie mit Herzensangst entgegen sah?
Nach einer bangen halben Stunde kam ein Bote, der Schaumberg zu einem schwer Erkrankten nach Amt Stein rief – nun durfte die junge Frau anpochen, nun mußte er durch ihr Zimmer kommen, und sie konnte vielleicht auf seinen Zügen lesen, ob er wirklich erfahren hatte, was sie fürchtete! Nach einigen Augenblicken erschien Otto; er sah furchtbar verstört aus und durchschritt das Zimmer hastig, ohne nach Elisabeth umzublicken. Als er sich beim Hinausgehen unter der Thür wandte, sah er ihren angstvollen Blick auf sich geheftet und nickte ihr zu. Sie flog zu ihm, faßte seine Hand und fragte in flehendem Ton: „Was ist Dir?“
„Es ist nichts,“ sagte Otto kurz, indem er sich sanft von ihr losmachte – „eine geschäftliche Unannehmlichkeit. Warte nicht mit dem Essen auf mich, ich werde erst gegen Abend zurückkommen.“
Flüchtig strich er mit der Hand über ihr Haar, eine Liebkosung, die ihm eigen war. Elisabeth ergriff seine herabgleitende Hand und küßte sie. Ihr Herz schlug etwas ruhiger, sein Blick war ernst gewesen, aber kein Zürnen lag darin. Wie schwer lasteten dennoch die Stunden dieses Tages auf der Einsamen!
Es war schon tiefe Dämmerung, als Schaumberg nach Hause kam. Elisabeth, die am Fenster nach ihm ausgeschaut, hatte ihn erst nicht erkannt, so schwer und ermüdet war sein sonst so elastischer Gang, so tief gebeugt sein Haupt. Von Neuem zog eine Ahnung von Unglück in ihr Herz. Still ging sie ihm entgegen, nahm den Hut aus seiner Hand und schaute auf in sein blasses Gesicht, seine tief eingesunkenen Augen. Es beruhigte sie, daß er das Wohnzimmer nicht verließ, geräuschlos steckte sie die Lampe an, ließ die Vorhänge nieder und ordnete Alles zu seiner Bequemlichkeit. Er wechselte nur wenige Worte mit ihr, nahm aber seinen gewöhnlichen Platz im Sopha ein. Elisabeth griff zu ihrer Handarbeit; beklommen richtete sie von Zeit zu Zeit eine unbedeutende Frage oder Bemerkung an ihn, die ihn veranlaßte aufzublicken, auch wohl zu antworten, ihn aber seinem stummen Brüten nicht entriß. Endlich sagte er mit einer Geberde, als müßte er etwas von sich abschütteln: „Willst Du nicht lesen, Elisabeth?“
Sie nahm schweigend das Buch zur Hand und begann; zwischen jedem der Sätze hob sich aber ihr Auge angstvoll zu Otto. Er schien sie nicht zu hören und starrte unverwandt vor sich hin. Ihre Stimme wurde immer bebender, immer unsicherer, bis sie endlich die erstickende Beklemmung nicht länger trug, das Buch von sich warf und, neben ihm auf die Kniee niedergleitend, mit Thränen im Auge rief: „Otto, Dir ist Schweres geschehen!“
„Ja,“ sagte er, „mir ist viel geschehen! Sich in einer Menschenseele getäuscht sehen, die man geliebt, ist hart –“
„Höre mich, Otto, ehe Du urtheilst!“ rief die junge Frau leidenschaftlich, „höre erst, was mich zu der That geführt, die ich schon tausendmal bereute!“
„Dich?“ sagte Schaumberg mit namenlosem Erstaunen. „Wer dachte an Dich? Von welcher That sprichst Du, was hast Du zu bereuen? – Ist der Kelch noch nicht gefüllt?“ rief er aufspringend in heftigem Ton, „wartet noch mehr auf mich?“
Elisabeth stand regungslos, ihr Busen wogte. „Ja, Otto,“ sagte sie tonlos, „ich habe etwas zu bereuen! Nichts, was Du mir zum Vorwurf machen könntest, und doch etwas, das mich in Deinen Augen tiefer stellen würde. Verlangst Du’s, so sage ich es Dir jetzt, in diesem Augenblick – hast Du aber Vertrauen genug, Liebe genug, um mich zu schonen, so laß mir mein Geheimniß, bis ich selbst den Muth finde, es Dir zu bekennen!“
Otto sah sie schweigend an. „Ich habe manchmal gefühlt,“ sagte er nach einigen Augenblicken ernst, „daß Du mir etwas verhehlst, ich habe es nur nicht glauben mögen – erst neunzehn Jahre und doch schon eine Vergangenheit! – Aber sei ruhig, ich verlange, ich wünsche kein Vertrauen, das nur ein Zufall Dir abgerungen hätte – schweige, oder sprich, wie es Dir selbst Bedürfniß ist.“
„Ich würde Dir Alles sagen,“ rief sie schmerzlich, „wenn Deine Seele frei und ruhig wäre wie sonst! Heute, wo Dich Anderes, Schweres drückt, kann ich es nicht! Wenn Du mir nicht zürnst, wenn Du mich liebst, so laß mich jetzt an nichts denken als daran, Deine Sorgen zu theilen! Ich bin Deine Elisabeth, ich habe ein Recht darauf, meinen Antheil an Deinem Kummer zu fordern! Die Angst um Dich erstickt mich – Otto, was ist Dir geschehen?“
„Es ist allerdings genug,“ erwiderte er, indem er erschöpft auf seinen Sitz zurücksank, „um vorerst nicht nach Weiterem zu begehren – und ich will es Dir sagen. Was Du zu wissen verlangst, ist ernst – mein guter Name hängt daran, der Name, den Du seit drei Monaten trägst.“
Elisabeth legte ihre beiden gefalteten Hände auf seine Schulter und sah bang in sein blasses Gesicht; es trug einen Ausdruck, der sie zittern machte.
„Ich habe Dir manchmal von meiner Kindheit, von meinem Vater erzählt,“ begann Otto, „ich habe Dir nicht verschwiegen, daß er den Seinen nicht das war, was er sollte, daß ein unseliger Hang zur Genußsucht ihn seiner bescheidenen Häuslichkeit entfremdete. Dennoch habe ich ihn sehr geliebt, und die Erinnerung an seine Schwächen war weniger stark in mir als die an seine Liebenswürdigkeit. Sein Andenken war mir theuer! Damit ist es aus, seit heute – mein Vater – mein Vater war ein Ehrloser!“
Otto schlug beide Hände vor das Gesicht, sein Körper bebte vor Aufregung. Bald aber nahm er sich zusammen und fuhr mit gewaltsamer Ruhe fort: „Ich erhielt diesen Morgen einen Brief des Oberbürgermeisters in –berg. Er schreibt mir, daß sich bei einer Revision der Bücher des dortigen Steueramtes ein Cassendefect herausgestellt und die nähere Untersuchung ergeben hat, daß derselbe sich auf die Zeit zurückführen läßt, wo mein Vater das Cassenamt verwaltete. Schon der Beamte, der nach meines Vaters Tode in dessen Stelle eintrat, hatte die falsche Buchführung entdeckt, sie aber aus Schonung gegen unsere ihm befreundete Familie verschwiegen, da ja der Schuldige bereits durch den Tod jeder Verantwortung entrückt war. Der zweite Nachfolger jedoch, der erst ganz kürzlich das Cassenamt übernahm, hatte keinen Anlaß, gleiche Schonung zu üben; er brachte die Sache zur Anzeige beim Oberbürgermeister und hat nachgewiesen, daß es sich um jahrelange, mit großem Geschick durchgeführte Unterschlagungen handelt, und daß über die Person des Schuldigen kein Zweifel bleiben kann.“
Erschüttert drückte Elisabeth des Gatten Hand an ihr heftig [771] klopfendes Herz. „Mein armer Otto!“ sagte sie kummervoll, „mein armer, geliebter Mann!“
„Nie hätte ich’s für möglich gehalten – verzeih’s ihm Gott, daß er sich, daß er seinen Kindern Das thun konnte – aber fort mit diesem marternden Gedanken, jetzt gilt es vor Allem, die Ehre zu retten, die auf dem Spiele steht!“
„Was denkst Du zu thun?“ rief Elisabeth besorgt.
„Der Oberbürgermeister schreibt mir, daß er mit den beiden Beamten, die allein Mitwisser der unseligen Angelegenheit sind, dahin übereingekommen sei, dieselbe der Oeffentlichkeit zu entziehen, im Falle ich Willens und im Stande wäre, den Defect baldmöglichst zu decken, daß aber im entgegengesetzten Falle seine Pflicht erheische, die Sache zur Anzeige zu bringen und einen Proceß gegen die Erben des Schuldigen anhängig zu machen. Ich habe bereits von Stein aus zwei Briefe in dieser Angelegenheit abgesandt. Natürlich antwortete ich dem Oberbürgermeister, daß ich für die Summe einstehe und ihm dieselbe in kürzester Frist ganz oder in Raten zur Disposition stellen würde. Du wirst begreifen, Elisabeth, daß ich keine ruhige Stunde haben kann, bis der letzte Heller dieser Sündenschuld abgezahlt ist! Allerdings wird es schwer halten, mir das Geld zu verschaffen, es handelt sich um keine Kleinigkeit – die Totalsumme beläuft sich auf fünfzehnhundert Gulden. Nur mit großen Opfern wird sie zu erhalten sein – ich habe keine Garantien zu bieten als meinen künftigen Erwerb, und es fragt sich noch, ob sich ein Darleiher findet, welcher sich mit meinem Ehrenwort und der Chance, daß ich am Leben bleibe, begnügen wird. Im glücklichsten Falle stehen uns Jahre der äußersten Einschränkung bevor.“
„Wenn Du es willst, kannst Du das Geld augenblicklich erhalten,“ sagte Elisabeth schüchtern. „Du weißt, meine Tante würde mir eine Bitte dieser Art nicht abschlagen.“
„Nein, mein Kind!“ erwiderte Schaumberg energisch, „dazu kann ich meine Zustimmung nicht geben. Erinnere Dich, wie empfindlich Deine Tante war, als wir den jährlichen Zuschuß ablehnten, den sie Dir zugedacht hatte, wie unwillig namentlich gegen mich, denn sie weiß wohl, daß Du hierin nur meinem Wunsche nachgegeben hast. Nun, kaum drei Monate nachher, eine so bedeutende Summe zu fordern und den Grund dafür nicht angeben zu können, wäre zu auffallend – Du fühlst, daß das nicht angeht! Laß nur – ich hoffe Rath zu schaffen. Ich habe einen Baireuther Collegen brieflich ersucht, morgen oder übermorgen hierher zu kommen und mich für ein paar Tage zu vertreten; sobald er eingetroffen ist, gehe ich nach Bamberg, um dort die nöthigen Schritte zu thun.“
„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Elisabeth flehend.
„Wozu, Kind? Was solltest Du dort, wo ich, durch die unerquicklichsten Geschäftsgänge in Anspruch genommen, Dich doch allein lassen müßte?“
„Das fragst Du?“ rief die junge Frau, „fühlst Du denn nicht, daß mich hier die Angst verzehren würde? Ich will mit Dir gehen, weil ich Dich liebe, weil ich Dich nicht lassen kann, während Du solche Lasten auf der Seele trägst – ich bitte, ich flehe Dich an, nimm mich mit Dir!“
„In Gottes Namen,“ sagte Otto traurig. „Ich will es Dir nicht abschlagen, wenn es Dich beruhigt. Muß ich doch, statt des Glückes, das ich Dir bereiten wollte, so bald schon Kummer und Leid in Dein junges Leben bringen! – Richte Dich ein, vielleicht morgen schon zu gehen, und vor Allem, mein armes Kind, richte Dich auf trübe, freudlose Tage ein, für lange Zeit!“
Elisabeth saß einsam in einem Zimmer des Hotels zum Bamberger Hofe; seit einer Stunde hatte sie den Platz am Fenster nicht mehr verlassen; sie erwartete Otto’s Rückkehr von einem entscheidenden Gange.
Es war Sonntag; auf dem Marktplätze drunten wimmelte ein buntes Leben; vor der Martinskirche, deren letzter Gottesdienst, die sogenannte elegante Messe, eben beendigt war, standen geschmückte Damen jeden Alters in dichten Gruppen, um Neuigkeiten auszutauschen und Pläne zu Nachmittagspartieen zu besprechen. Die Musik der Chevauxlegers marschirte mit klingendem Spiel vorüber, um unter den Bäumen des Paradeplatzes die herkömmlichen sechs Stücke vorzutragen. Das Wetter war schön, die Gesichter, die einander auf den Straßen begegneten trugen meistens einen vergnügten, sonntäglichen Ausdruck, und die halbe Stadt schien unterwegs zu sein.
Elisabeth sah nichts von all’ dem Treiben, das sich vor ihr bewegte, ihr Herz war schwer und traurig. Umsonst hatte Otto gestern wiederholte Versuche gemacht, um die erforderliche Summe aufzunehmen, überall hatte man achselzuckend nach einer Sicherheit gefragt, die er nicht bieten konnte. Eben jetzt that er den letzten Gang in dieser Angelegenheit; Marbach, dem er sich vertraut hatte, ohne ihm jedoch den Anlaß zum Bedürfniß des gesuchten Geldes mitzutheilen, hatte noch eine Quelle ermittelt, die Aussicht gab, die Summe wenigstens theilweise zu erhalten. Mit der Mittagspost wollten dann die Gatten nach Berneck zurückkehren.
Elisabeth seufzte bei dem Gedanken an die Heimkehr in das liebe Haus, wo sie bis vor Kurzem so glückselige Tage verlebt. Wie hatte so plötzlich eine dunkle Wolke alle die sonnigen Freuden überschattet, ach, und wie machtlos fühlte sie sich dem Schlage gegenüber, der ihren geliebten Otto betroffen! – Sie sann über seine Weigerung nach, die reichen Mittel ihrer Verwandten in Anspruch zu nehmen. Mit ihrem einfachen, warmen Herzen, das keinen Werth auf äußere Güter legte, das selbst so gerne gab, hatte sie kein Verständniß dafür, warum er in Sorgen und Ruhelosigkeit dahin leben wollte, statt einen Beistand in Anspruch zu nehmen, der willig, ja mit Freuden gegeben worden wäre. Aber kein Vorwurf mischte sich in ihre Verwunderung darüber. Sie liebte ihn! Er stand für sie hoch über allen andern Menschen; was er beschloß, was er ergriff, mußte das Richtige sein – und war denn der Stolz, der sein Liebstes so allein, ohne Zugabe haben wollte, nicht voll des süßesten Gefühls für sie? und war denn das Zartgefühl, das jede Verletzung fast krankhaft scheute, nicht eine der schönsten Blüthen seines sonst so männlichen Charakters?
Sein reizbares Zartgefühl – bei dem Gedanken daran zuckte wieder ein scharfer Schmerz durch ihre Seele! Die neue Sorge war ja nicht Alles, was sie drückte, war für ihr tiefstes Herz nur ein Schatten der Last, die auf ihm lag – der Last ihres eigenen Geheimnisses!
Wenn nun das häusliche Leben wieder begann, wenn die gegenwärtige Aufregung Otto’s sich gemäßigt haben würde, wenn nicht mehr der eine Gedanke an seine bedrohte Ehre alles Uebrige verschlang – mußte nicht dann jener Augenblick zwischen ihnen zur Sprache kommen, wo sie sich vor ihm einer Schuld angeklagt?
Und was sollte sie dann thun? Sie wußte, daß er von seinem Weibe unbedingte Hingebung erwartete, daß ihr Schweigen ihn tief kränken würde und doch, konnte, sollte sie sprechen? Bei welchem Entschluß hatte sie mehr zu fürchten für ihre Liebe? – Plötzlich zuckte ein Gedanke durch ihre Seele, ihr Auge leuchtete auf. Noch einen Augenblick stand sie sinnend, dann hatten die eben noch so erregten Züge einen festen, ruhigen Ausdruck gewonnen. Sie kleidete sich zum Ausgehen an, schloß das Zimmer ab und verließ das Hotel.
Als sie nach einer Stunde zurückkehrte, fand sie Otto ihrer harrend. „Entschuldige mich,“ sagte sie innig, „ich habe mich in Deiner Abwesenheit doch entschlossen, meine alte Schulfreundin auf einen Augenblick zu besuchen – sie würde mir’s allzu übel genommen haben, wenn sie unsern Namen in der Fremdenliste gelesen hätte. Da wir heute reisen, brauchte ich nicht lange zu bleiben.“
„Ich redete Dir ja schon gestern zu, es zu thun,“ erwiderte Otto zerstreut. Er sah elend und zerfallen aus. Elisabeth legte den Arm um seinen Hals. „Es ist Dir nicht geglückt?“ fragte sie beklommen.
„Nur mit großer Mühe und durch Marbach’s Bürgschaft ist es mir gelungen, fünfhundert Gulden aufzutreiben. Der ersten Nothwendigkeit ist damit allenfalls Genüge geschehen. Wo ich den Rest hernehme, muß die Zeit lehren. Habe Geduld mit mir, Elisabeth, wenn ich Dir jetzt vielleicht nicht sein kann, was ich möchte – zu viel, allzu viel ist in mir erschüttert – zu viel habe ich eingebüßt von meinem Glauben an die Menschheit an die eigene Kraft sogar! Dich faß’ ich, Dich halt’ ich noch, wo mir Alles untergeht,“ rief er mit ausbrechender Leidenschaft, indem er sie an sich zog – „Elisabeth, wirst Du mir bleiben?“
Als Schaumberg am Tage nach seiner Rückkehr in Berneck von seinen Nachmittagsgängen heimkehrte, erwartete ihn der Briefträger. „Schon dreimal bin ich hier gewesen, Herr Doctor,“ sagte der Mann, wichtig thuend, „ich habe einen Werthschein für Sie, er lautet auf tausend Gulden; den mußte ich Ihnen doch zu eigenen Händen übergeben.“ – Schaumberg’s Gesicht färbte sich lebhaft – Marbach hatte also weitere und erfolgreiche Schritte für ihn gethan! – kein Zweifel, denn der Ort der Absendung war Bamberg. Rasch unterschrieb und untersiegelte er den Schein und ging, ohne nur Elisabeth begrüßt zu haben, selbst zur Post, um die werthvolle Sendung abzuholen.
Beim ersten Blick auf die Begleitadresse des Päckchens, das ihm eingehändigt wurde, fuhr er zusammen – sie war nicht von Marbach’s Hand, sondern trug andere, ihm wohlbekannte, obgleich lange nicht erblickte Schriftzüge – die der anonymen Briefe von damals. In lebhafter Aufregung eilte er nach Hause, schloß sich ein und erbrach das Siegel. Er hatte sich nicht getäuscht, es war wirklich dieselbe Hand! Das Blatt enthielt folgende Zeilen: „Ein Zufall hat mich erfahren lassen, welche Sorgen meinen Freund bedrücken. Das Kreuz, welches ihn mir einst zuführen sollte, könnte doch noch zu einer Quelle des Glücks für mich werden, wenn er es verwerthen und sich damit von dem befreien möchte, was ihn bedrängt. Ich habe ihm einst gesagt, daß mein Herz ihm gehört – er wird die Gabe nicht zurückweisen, die ich stolz genug bin, als eine weit geringere zu betrachten.“
Mit bebender Hand öffnete Schaumberg das Paket. Es enthielt ein Etui, dessen Feder dem leisesten Druck nachgab; ein Malteserkreuz von alterthümlicher Filigranarbeit, mit großen, augenscheinlich höchst werthvollen Brillanten besetzt, strahlte ihm daraus entgegen; den Mittelpunkt desselben bildete der Buchstabe E.
Nach dem ersten Moment höchster Betroffenheit wallte es stürmisch in Otto auf – Rührung, Demüthigung, ja heftiger Unmuth gingen nach einander durch seine Seele – der letztere Eindruck jedoch blieb vorherrschend. Marbach war also indiscret gewesen! nur durch ihn hatte Helene seine Bedrängniß erfahren können, und sie, von der er sich mit dem Bewußtsein losgerissen, daß sie jede Stunde, die er ihr einst gewidmet, mit heißen Schmerzen bezahlen würde – sie drängte sich nun zum zweiten Mal in sein Leben. Er konnte, er wollte den Gedanken nicht ertragen, ihr in dieser Weise verpflichtet zu sein, von ihr, der er nichts zu bieten hatte, ewig zu empfangen, erst ihr Herz, dann ihre Schätze! – In höchster Aufregung setzte er sich an seinen Schreibtisch, füllte mit fliegender Feder die vier Seiten eines Briefblattes und legte die erhaltenen anonymen Briefe dazwischen; dann packte und siegelte er die Blätter zugleich mit dem Kreuze ein und schloß das Paket in sein Bureau, da erst morgen die nächste Post nach Bamberg abging.
Es dauerte lange, bis er hinreichende Fassung gewann, um sein Zimmer zu verlassen; sein ganzes Wesen war in stürmischer Wallung. Endlich trat er doch bei Elisabeth ein. Zum ersten Male war ihre Nähe ihm drückend; laut sprach es in ihm, daß er jener Forderung gegenseitigen Vertrauens, die er als eine der höchsten Pflichten der Ehe betrachtete, nun selbst nicht Wort hielt, und doch konnte er sich nicht entschließen, ihr mitzutheilen, was ihm begegnet war.
In eigenthümlich gezwungener Weise schlichen heute die sonst so schönen Abendstunden an Beiden vorüber. Die gewaltsam niedergekämpfte Erregung Otto’s konnte Elisabeth nicht entgehen, dennoch richtete sie keine Frage an ihn, nur ward sie immer blasser und stiller, je mehr der Abend vorrückte.
Am folgenden Morgen ging Schaumberg zur Post, um das inhaltsschwere Päckchen dort aufzugeben. Er war durch eine Berufspflicht aufgehalten worden; bereits stand der Postwagen angespannt auf der Straße. Ein rascher Gedanke durchfuhr ihn.
Nach kurzem Zögern steckte er das Päckchen wieder in die Brusttasche, trat in’s Bureau, löste ein Fahrbillet und riß ein Blatt aus seiner Brieftasche, worauf er mit Bleistift die Mittheilung an seine Frau notirte, daß er erst Abends zurückkehren würde. Er übergab das Blättchen einem vorübergehenden Knaben zur sofortigen Bestellung und nahm dann seinen Platz in der Postkutsche ein. Zwischen ihrer Ankunft in Bamberg und dem Abgang der dortigen Post nach Berneck lagen drei Stunden. Sie genügten für seinen Zweck – er wollte Helene selbst sprechen.
Helene Dalen saß vor ihrem Schreibtisch und betrachtete sinnend einen Brief, dessen Adresse sie eben geschrieben hatte; es war die des Majors von Feldheim, und der Brief enthielt die Zusage ihrer Hand.
Die junge Frau ergriff das Petschaft, um ihren Brief zu siegeln; das Geschäft kam aber nicht zu Stande – sie warf ihn plötzlich von sich, drückte ihre Hand vor die Augen und brach in heiße Thränen aus. Es war ihr, als sei es unmöglich, das zu besiegeln, was sie geschrieben – vor die Gestalt des treuen, bewährten Freundes drängte sich in diesem Augenblick, wie schon so oft, ein anderes, ein unvergeßliches Bild!
Als vor einigen Tagen die warme, liebevolle Werbung Feldheim’s an sie gelangt war, hatte sein Brief auch in ihr Wärme und Liebe hervorgerufen. Sie hatte den Freund, dessen Umgang ihr seit Jahren ein Lebensbedürfniß gewesen, seit der Trennung von ihm täglich, ja stündlich vermißt, sein trefflicher Charakter, seine Anhänglichkeit an sie waren ihr, je länger sie ihn entbehrte, desto mehr zum Bewußtsein gekommen, und sie hatte sich mit dem Gedanken, seine Lebensgefährtin zu werden, völlig vertraut gemacht.
Seit zwei Tagen, waren aber alle Träume von Ruhe und Zufriedenheit wie Staub von ihr zerfallen. Sie hatte Otto Schaumberg während seines Aufenthaltes in Bamberg wiedergesehen, ohne von ihm bemerkt zu werden, und der Aufruhr, in den diese Begegnung ihr ganzes Wesen versetzte, fiel wie ein Blitzstrahl in ihre Seele. Nichts war verschmerzt, nichts vergessen, noch heute flog jede Fiber in ihr dieser einen Gestalt zu!
Heute war es ein Jahr, daß er von ihr geschieden, – er hatte sich für immer von ihr getrennt, er war mit einer Andern verbunden, kein Wunsch, keine noch so leise Hoffnung konnte sich mehr an sein Bild knüpfen, und doch stand es, seit sie ihn wiedergesehen, Tag und Nacht vor ihr; die Erinnerung jeder Stunde, die sie mit ihm verlebt, umgab sie wie die Luft, die sie athmete!
Konnte sie, durfte sie mit diesem Bewußtsein dem Freunde ihr Leben zugeloben, dem Manne, den sie hoch hielt, wie keinen Andern, der jede Liebe verdiente? Warum liebte sie nicht ihn? Warum – das fragst Du Dich, arme Helene!
Helenens Thränen flossen nicht lange. Es war nicht die erlösende Fluth, die das Herz befreit, es war ein augenblicklicher Krampf des beinahe physischen Schmerzes gewesen, der sie durchwühlte. Sie schob den Brief zurück, löschte die Kerze, stand auf und öffnete ihren Flügel. Ohne Zusammenhang irrte ihre Hand auf den Tasten, die Geister verklungener Melodien, der Klang einer verhallten Stimme füllten ihr Ohr, ihre Seele. Wieder tauchte die schon tausendmal durchforschte Frage in ihr auf – was sie damals um ihr Glück gebracht? Warum hatte Otto, der ernste, einsiedlerische Mann, sich ihr genähert, wenn ihn nicht Neigung zog? Warum hatte er sie aufgegeben, während doch im Augenblicke des Scheidend vollster Seelenschmerz aus seinem Blicke sprach?
Es war nicht anders möglich, etwas ihr Unbekanntes, etwas, das von außen kam, mußte sich zwischen sie und ihn gedrängt, sie um all’ ihre Lebenshoffnungen betrogen haben! Vielleicht dachte er ihrer eben so lebhaft, wie sie an ihn dachte – vielleicht hatte auch er nur darum eine Andere gewählt, weil jene geheimnißvolle Scheidewand ihn von ihr trennte. – Nur noch einmal ihn wiedersehen! noch einmal vor ihm stehen, in sein Auge blicken, sich gegen ihn aussprechen – nur einen einzigen Herzenston von ihm hören – und dann in Gottes Namen für immer scheiden! rief es laut und lauter in ihrer stürmisch bewegten Seele.
Ein rasches Klopfen an ihrer Thür unterbrach die wogenden Gedanken. Helene fuhr heftig zusammen – der Klang dieses Pochens gehörte in ihre Träume! Ihr Herein klang zitternd und, als erblickte sie einen Geist, so regungslos, so blaß starrte sie dem Eintretenden entgegen.
Otto begrüßte sie ernst, Beide standen sich wortlos gegenüber.
„Sie ahnen wohl, was mich heute zu Ihnen führt, gnädige Frau,“ sagte Schaumberg endlich in gehaltenem Ton. „Ich dachte erst, Ihnen schriftlich zu antworten, doch hielt ich es für meine Pflicht, einen so großen Beweis Ihres Vertrauens persönlich in Ihre Hände zurückzulegen und Ihnen den wärmsten Dank für [773] Ihre Gabe auszusprechen, wenn ich gleich außer Stande bin, sie anzunehmen.“
„Ich verstehe Sie nicht!“ sagte Helene, ihn fassungslos anblickend.
„Doch, gnädige Frau! Lassen Sie uns offen gegen einander sein – wir bedürfen dessen Beide! Nicht jeder Frau gegenüber würde ich eine mündliche Unterredung dem schriftlichen Aussprechen über so zarte Punkte vorgezogen haben, aber von Ihnen weiß ich, daß Sie groß und frei genug denken, um sich zu Dem, was eine große und freie Empfindung Ihnen zu thun gebot, auch zu bekennen. Empfangen Sie mit meinem tiefsten Dank hier das Pfand Ihrer Freundschaft für mich zurück – ich habe es für meine Pflicht gehalten, auch Ihre Briefe beizufügen.“
„Meine Briefe?“ stammelte Helene in größter Aufregung, „das muß – geben Sie!“
[794] Mit bebender Hand ergriff Helene das Päckchen, welches Schaumberg ihr entgegenbot, riß es auf und durchflog mit glühendem Blicke die drei Briefe, welche er dem Etui beigelegt hatte. Eine flammende Röthe bedeckte ihr Gesicht. „Und diese Briefe,“ rief sie, kaum des Wortes mächtig, „diese Briefe glauben Sie von mir geschrieben?“
Es lag ein solcher Ausdruck empörten Gefühls in ihren Worten, daß Schaumberg betroffen zusammenzuckte.
Helene bebte an allen Gliedern. „Der Glaube, daß ich diese Briefe geschrieben, war es also, der Sie damals zu mir geführt? – nein, mein Herr! ich gebe Ihnen Wort und Eid, daß diese Blätter und ihr Inhalt mir fremd sind und waren – und nun, verlassen Sie mich!“
„Vergebung, Helene, Verzeihung für eine Anmaßung, die, ich fühle es, Ihnen unerhört erscheinen muß, für die ich keine Erklärung, keine Entschuldigung habe, als – daß einst –“
„Sprechen Sie es nur aus!“ sagte die junge Frau, und ihr Auge blitzte vor Leidenschaft – „sprechen Sie es aus, daß mein Benehmen gegen Sie mit diesen Briefen, gleichen Schritt gehalten! Aber vergessen Sie dabei ihre eigene Haltung nicht! Wenn, ehe ich Sie noch kannte, mein Auge zuweilen zu Ihnen hinüberirrte, so traf es stets das Ihrige, und als ich Sie kennen lernte, lag da nicht von der ersten Stunde an in Ihrem Blick, in Ihrem Ton eine Wärme – freilich sahen Sie in mir schon damals die Frau, die Ihnen rücksichtslos entgegengekommen war! Warum es leugnen,“ rief sie plötzlich, und ihre sprechenden Züge strahlten ein inneres Feuer aus – „ich habe Sie geliebt, mit der ganzen Kraft meines bis dahin stummen Herzens geliebt, das sich’s nicht träumen ließ, nur der geringgeschätzte Spielball geschmeichelter Eitelkeit zu sein!“
„Nicht weiter, Helene!“ fuhr Otto heftig auf. „Sie dürfen, Sie sollen mich nicht tiefer demüthigen, als ich verdiene! Daß ich mich, allzu leichtgläubig, einem Irrthum hingab, der Ihr Selbstbewußtsein tief verletzen muß, empfinde ich ätzend genug, mein Gefühl für Sie lasse ich aber nicht in den Staub ziehen! Auch ich habe Sie geliebt, habe mit leidenschaftlicher Gluth an Ihrem Bilde gehangen, und Niemand weiß, was es mich gekostet hat, mich von Ihnen loszureißen, nachdem die Ueberzeugung sich in mir befestigte, daß ich der Mann nicht sei, Ihr dauerndes Glück zu begründen. Nie, der Himmel sei mein Zeuge – habe ich gering von Ihnen gedacht; was ich bei einer Andern mißbilligt hätte, das erhielt, von Ihnen ausgegangen, eine Weihe, denn ich kenne Ihre große, makellose Seele, Ihre weite, von allem Kleinen befreite Auffassung des Lebens und seiner Güter! Nie habe ich Ihrer anders gedacht, als mit Ehrerbietung und Wärme – lassen Sie mich nicht jetzt von Ihnen gehen mit dem Bewußtsein, daß Sie mir zürnen, daß Sie sich von der Erinnerung an mich unwillig abwenden werden!“
Helene blieb stumm. Sie raffte das Etui und die Briefe auf und reichte sie Schaumberg hinüber, ohne ihn anzublicken.
„Muß ich Sie verlassen, ohne Ihre Vergebung mit mir zu nehmen?“ sagte Otto weich, indem er die Hand gegen sie ausstreckte.
Ein heftiger Kampf wogte in Helenens Brust, ihr Athem flog, endlich wandte sie sich Otto zu und sah ihn an – es war der alte Blick der Liebe, sie faßte seine Hand und ließ sie wieder nach leisem Druck, indem sie flehend sagte: „Gehen Sie jetzt – vergessen werden wir uns nicht!“
An der Thüre wandte sich Otto noch einmal nach ihr um; sie lächelte ihm traurig zu.
Am Abend desselben Tages umschloß das Postpacket jenen am Morgen geschriebenen, an den Major von Feldheim adressirten Brief. Helene hatte ihn einige Stunden nach Schaumberg’s Besuch geschlossen; eine Thräne war auf das heiße Wachs gefallen.
Als sich der Wagen dem Posthause näherte, sah Schaumberg seinen Schwiegervater mit großen Schritten vor demselben auf und ab gehen. Dies Zusammentreffen erschien ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung nichts weniger als angenehm; er wußte, daß er, von dem wortreichen Manne begrüßt, so bald nicht loskommen werde, und er sehnte sich unbeschreiblich nach Hause, nach Elisabeth.
Als ihn jedoch der alte Herr beim Aussteigen in Empfang nahm, mußte schon das Unvermeidliche mit guter Miene aufgenommen werden; Andlau schob seinen Arm unter den des Schwiegersohnes und sagte in seiner gewöhnlichen polternden Art: „Ich habe hier auf Euch gewartet, ehe ich den Heimweg antrete; Ihr [795] könnt mich ein Stück Wegs begleiten; wenn Ihr den ganzen Tag lang herumvagabundirt seid, so kommt es jetzt auch nicht darauf an, ob die Frau noch eine halbe Stunde länger wartet! Ich habe ein Hühnchen mit Euch zu pflücken, Herr Schwiegersohn, und zwar ein ganz gehöriges! Was rührt Ihr für Teufelsbrühen ein! Komme ich heute früh in Euer Haus und finde dort mein Mädel mit rothgeweinten Augen – sie geht nicht mit der Sprache heraus, ein Blinder kann aber sehen, daß sie was auf dem Herzen hat. Ich will sie zum Mittagessen mit hinausnehmen, sie thut’s nicht, ich komme schon verdrießlich nach Hause und denke mich an einem guten Bissen zu erholen – pros’t Mahlzeit, da wartet erst die Bescheerung auf mich! Sitzt da ein ganz confiscirter Kerl, einer von Abraham’s Söhnen, und macht mir Offerten für Euch, weil er Euch nicht am Ort gefunden hätte. Bringt ein Kauderwelsch zum Vorschein, daß Ihr tausend Gulden bei ihm habt aufnehmen wollen, daß er aber selbst nichts gehabt hätte, inzwischen habe er herumgefragt und könnt’ es jetzt schaffen, wenn ich Bürgschaft stellen wollte, wegen der schlechten Zeiten. Ich hab’ den Kerl vor die Thür geschmissen, ehe er noch mit seiner gotteslästerlichen Zinsforderung zu Ende war. Was sind mir das für verfluchte Geschichten, Musje! Wenn Ihr Geld braucht, was geht Ihr da zu dem Judenvolk und kommt nicht zu mir? Bscht – still geschwiegen, ich weiß, was Ihr sagen wollt, daß ich selber ein armer Teufel bin, für Euch hab’ ich aber doch Geld im Hause, Geld wie Heu! Wie Ihr damals so aufsässig wart, als meine Frau Schwester dem Mädel was Jährliches hat aussetzen wollen, da ist sie auch aufsässig geworden, denn sie hat einen harten Kopf, das weiß ihr Mann am besten. So hat sie denn das ganze Capital, das sie Euch verzinsen wollte, in guten Staatspapieren in meine Hand gelegt, mit der Commission, daß ich’s Euch aufhebe und die Zinsen dazuschlage, bis einmal Noth an Mann käme, denn sie war so falsch auf Euch, daß sie Euch in Geldsachen kein gutes Wort mehr geben wollte. Kommt also in’s Guckucks Namen hinaus, heut’ noch oder morgen, und holt Euch von dem Eurigen, was Ihr braucht oder, was mir am liebsten wäre, die ganze Bescheerung. Wozu Ihr’s bracht, das geht mich nichts an – kann mir’s übrigens schon denken – alte Geschichten – Jugend hat nicht Tugend – Universitätsschulden etc. Und jetzt Basta, ich verbitte mir alles Dreinreden, macht Rechtsumkehrt und marschirt zu Eurer Frau. Das sage ich Euch aber, finde ich mein Mädel noch einmal mit rothen Augen, so kriegt Ihr’s mit mir zu thun, und die Tante hetz’ ich Euch auch noch auf den Hals!“
Ohne den jungen Mann zu Wort kommen zu lassen, machte der Revierförster sich von ihm los, drehte ihn mit seinen gewaltigen Fäusten um wie ein Kind und marschirte mit Riesenschritten der Chaussee zu.
Schaumberg sah ihm mit leuchtendem Auge nach. Eine Centnerlast war so unvermuthet, so plötzlich von seiner Seele genommen – ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, konnte er sich für alle Zukunft von der Ehrenschuld befreien, die ihm so schwere Sorgen gemacht! Wenn auch noch genug auf seinem Gemüth lastete – die Ehre war nun gerettet!
Sein ganzes Herz drängte ihn jetzt zu Elisabeth – er empfand ein gebieterisches Bedürfniß, sich voll und ganz gegen sie auszusprechen und aus dem Chaos von Empfindungen, das ihn an diesem Tage bedrängt hatte, das eine, höchste Gefühl seines Herzens klar hervorzuheben.
Als er sein Haus betrat, flog Elisabeth ihm entgegen und umfing ihn mit leidenschaftlicher Innigkeit. Er sah ihr in die Augen – ihr Vater hatte wahr gesprochen, noch jetzt trugen sie Spuren vergossener Thränen.
„Endlich bist Du da!“ rief sie erregt, „ich habe mich so nach Dir gesehnt! Warum sagtest Du mir nicht, daß Du nach Bamberg zurückwolltest? – aber still davon, ich sehe, daß Dein Auge heut’ heller blickt – die Sorgenfalte ist fort von der lieben Stirn – Du hast Deinen Zweck erreicht!“
„Ja, Elisabeth,“ sagte er, „diese Sorge ist gehoben, so weit es meine Verpflichtungen betrifft, und Dein Vater ist es, der mich in ganz unerwarteter Weise davon erlöst hat. Was mich heute nach Bamberg führte, war aber nicht dieser Anlaß – es gab dafür einen andern Grund.“
„Also doch!“ sprach Elisabeth erblassend. „Ich fürchtete es wohl.“
Otto sah sie fragend an.
„Ich kenne den Grund, der Dich hingeführt,“ sagte die junge Frau bebend, – „ist Dir Aufklärung über die Absenderin des Kreuzes geworden?“
„Nein,“ erwiderte Otto mit wachsendem Erstaunen, „wie hast Du aber erfahren können, was nie über meine Lippen kam, was ich Dir eben jetzt zu vertrauen dachte?“
Elisabeth barg den Kopf an seine Brust. „Das Kreuz ist mein!“ hauchte sie, kaum hörbar, „– wird es mich Deine Liebe kosten, Otto?“
„Elisabeth!“ rief er in unbeschreiblichem Ton.
„Höre mich an!“ sagte sie, ohne die Stelle an seiner Brust zu verlassen, „ich will Dir Alles, Alles gestehen! In jeder Stunde dieses angstvollen Tages hab’ ich’s mir von Neuem gelobt, Dir nichts zu verhehlen!“
Ihr ganzer Körper zitterte in Otto’s Armen; sanft leitete er sie zum Sopha, wo er sie neben sich niederzog, mit kosender Hand über ihre Flechten strich und ihre fieberisch glühende Stirn mit seinen Lippen berührte. „Sprich denn, mein Liebling!“ sagte er bewegt.
„Lange, ehe Du von meinem Dasein wußtest, habe ich Dich geliebt! Du hast gehört, daß meine Tante, als ich in Bamberg bei ihr lebte, am Regnitzufer wohnte. Die Fenster meines Zimmers, nach dem Garten zu, gingen nach dem Spital – da sah ich Dich täglich in den Sälen wirken und walten – durch die hohen Scheiben konnte ich Alles unterscheiden, was in der Nähe der Fenster vorging. Ich sah die Freundlichkeit, mit der Du den armen Kranken begegnetest, ich sah, wie ihre Gesichter aufleuchteten, sobald Du in ihre Nähe kamst, und ich gewann Dich lieb aus dem Grunde meines Herzens! Ein ganzes Jahr lang genügte es mir, Dich so zu betrachten, an Dich zu denken – da kam des Onkels Versetzung nach München. Ich sollte fort – der Gedanke, Dich nicht mehr sehen zu dürfen, nie wieder von Dir zu hören, ließ mich erst ganz empfinden, wie fest mein Herz an Dir hing! Ich verweinte damals alle Nächte, der sehnlichste Wunsch, Dich ein einzig Mal zu sprechen, ehe ich ging, ließ mir keine Ruhe mehr! In diesen Tagen führte ein unglücklicher Zufall einen Roman in meine Hände, in dem ein ähnlicher Brief, wie der erste, den ich Dir geschrieben, zu einer glücklichen Verbindung zweier Herzen geführt hatte. Im ersten Augenblick war ich betroffen – dann schien es mir wie ein Fingerzeig von Oben! Die Tante wollte noch in Bamberg bleiben, bis die Festlichkeiten zu Ehren der Königin vorüber seien, ich sollte meinen ersten Ball bei diesem Anlaß mitmachen, gleich nachher war die Abreise bestimmt. Ich versuchte, meine Schrift zu verstellen – es gelang mir, und ich schrieb jenigen unseligen Brief! Zwei Tage lang kämpfte ich noch mit mir, mein innerstes Herz warnte mich – endlich warf ich ihn doch in den Briefkasten! Was hätte ich schon eine Stunde nachher darum gegeben, wenn ich ihn hätte zurücknehmen können! Als der Ball abbestellt wurde, fühlte ich mich wie erlöst – ein paar Tage darnach reisten wir ab, da gönnte ich mir das kurze Lebewohl an Dich, weil ich fest überzeugt war, Dir nie mehr zu begegnen. Denke Dir nun meine Empfindung, als mein Vater im Herbste schrieb, Du seist hierher versetzt. Unwiderstehlich zog es mich in Deine Nähe, und ich bat meinen Vater, daß ich nach Hause kommen dürfte. Ich lernte Dich kennen, Otto! Du gewannst mich lieb, mein Gefühl für Dich ward mit jedem Tage tiefer, nun aber kam auch die Strafe für mein keckes, unweibliches Beginnen! Je mehr ich Deinen Charakter erkannte, desto klarer empfand ich, daß Du mich verurtheilen würdest, wenn Du wüßtest –“
Elisabeth brach ab; die plötzliche Erregung erstickte ihre Worte.
Otto zog sie näher an sich, „Geliebtes, thörichtes Kind!“ sagte er innig, „welche Schreckgespenster hast Du Dir heraufbeschworen! Wie konntest Du noch fürchten, daß Dein Bild sich mir entstellen würde, nachdem ich Dein Herz, Dein ganzes, in schönster Weiblichkeit aufgehendes Herz erkannt und besessen habe!“
„Denke an den Abend vor unserem Hochzeitstage!“ rief Elisabeth erregt.
„Ich denke daran,“ – sagte Otto, und ein ernster Zug glitt über sein Gesicht, „und ich kann es nicht fassen, daß jener Augenblick in Deinem Zimmer, wo mein ganzes Herz Dir offen lag, kein Vertrauen in Dir weckte!“
[796] „Ach, Otto, Du hast mir damals das tiefste Herz erschüttert, und nur die Furcht, es nicht ungestört vor Dir ausschütten zu können, hielt das Bekenntniß noch auf meinen Lippen zurück! Wir hatten nur Minuten des Alleinseins vor uns, am nächsten Tage war ich Dein, da wollte ich Dir Alles sagen – das gelobte ich mir heilig, als Du mich so innig batest, immer offen gegen Dich zu bleiben! Aber denke an die Worte, Otto, die Du eine Stunde später zu mir sprachst, nachdem Dein Freund der anonymen Briefe erwähnt hatte! Es waren harte Worte! Du sagtest mir, nie würdest Du auf den Besitz einer Liebe Werth legen, die sich Dir unverlangt geboten – im Gegentheil! Du sagtest mir, daß Du mich gerade deshalb liebtest, weil mein Herz sich nimmermehr ausbieten würde, wie ein herrenloses Gut! Diese Worte fielen wie Donnerschläge in mein Gemüth und blieben von dieser Stunde an der Gifttropfen in meinem Glück. Nie solltest Du die Wahrheit erfahren, wenn es von mir abhing, das ward mein fester Entschluß! Ruhe fand ich darum doch nicht – ich kam mir vor wie eine Verbrecherin, so oft Du Worte der Liebe, des Vertrauens an mich richtetest, ich genoß mein Glück mit Angst und Zittern, wie ein gestohlenes Gut, auf das ich kein Recht besaß!“
„Daß Du gegen mich gesündigt hast, leugne ich Dir nicht,“ sagte Otto ernst, als sie schwieg. „Hätte ein Zufall mich entdecken lassen, was ich bis heute nicht ahnte, so würde ich Dein Schweigen, Dein Verhehlen vielleicht schwer vergeben haben! Gott sei Dank, daß endlich das Vertrauen siegte, daß Du den Muth gefunden hast, mir wahr zu sein – meine Elisabeth, mein Weib!“
„Weiß Gott, ob ich zum Entschluß gekommen wäre, ohne den heutigen Tag!“ rief die junge Frau, „ohne die Folgen des neuen unwahren Schrittes, den ich kürzlich wieder gewagt!“
„Du sprichst von der Zusendung des Kreuzes an mich?“ fragte Otto gespannt.
Elisabeth nickte. „Seit ich mich neulich halb gegen Dich verrieth, fühlte ich es klar, daß ich Dir Offenheit schuldig sei, und der alte Kampf in mir ward wieder lebendig – in diesem Zwiespalt meiner Seele that ich den letzten falschen Schritt – ich schrieb Dir abermals, diesmal aber nicht, um Dich zu täuschen, sondern in der Hoffnung, mir das Geständniß zu erleichtern. In Bamberg kam mir plötzlich der Gedanke, das unselige Kreuz als Hülfsmittel für unsere bedrängte Lage zu benützen. Ich hatte es, um jedem verrätherischen Zufall vorzubeugen, gleich nach unserer Hochzeit an meine dortige Freundin gesandt und sie gebeten, mir das versiegelte Päckchen zu bewahren, bis ich es selbst zurückfordern würde. Nun holte ich es bei ihr ab, schrieb dort die letzten Zeilen an Dich und gab es zur Post. Meine Hoffnung war, Du würdest mir den Empfang des Kreuzes vertrauen und vielleicht ein milderes Wort über die Geberin daran knüpfen, das mir Muth gab zu sprechen! – Es kam ganz anders! Du verschwiegst mir die erhaltene Sendung – ich wußte sie in Deinen Händen – Du gingst nach Bamberg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben! Mit Centnerschwere fiel es mir nun auf’s Herz, daß Du mir gesagt, Du wüßtest, wer die Briefe geschrieben! Was habe ich heute durchgerungen, Otto! Ich wußte ja nicht, zu wem mein unbesonnener Schritt Dich führen, was daraus entstehen würde! Eine Ahnung, daß ich Dich verlieren könnte, stieg schreckensvoll in mir auf, und tief empfand ich, daß ich nicht unverdient litt! Erst heute ward meine wirkliche Schuld gegen Dich mir völlig klar, und ich gelobte mir’s hoch und heilig, Dir wahr zu sein, heut und in alle Ewigkeit!“
„Laß mich die Thränen von Deinen lieben Augen küssen!“ rief Otto tief ergriffen. „Erst jetzt bist Du ganz die Meine, mit Herz und Seele!“
Lange hielten die Glücklichen sich umschlossen, ein Hauch jener Seligkeit, die den Sterblichen nur für kurze, unvergeßliche Momente gegönnt wird, flog mit Geisterschwingen über sie hin.
Als sie sich endlich ließen, sagte Otto mit einem scherzenden Ton, in dem noch die tiefste Bewegung nachzitterte: „Nun aber sollst Du Dich für mich schmücken, wie Du es einst im Sinne hattest!“
Er öffnete das Etui und knüpfte das Sammtband, welches durch den Ring des Brillantkreuzes gezogen war, um Elisabeth’s Hals. Mit leuchtenden Blicken sah er sie an, nie war sie ihm so schön erschienen! In bräutlicher Verwirrung, mit hoch erglühter Wange und gesenktem Auge stand sie vor ihm – von Neuem schloß er sie an’s Herz und sagte mit tiefer Empfindung: „Dein Erkennungszeichen hat uns doch zusammengeführt!“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: beharrlich