Textdaten
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Autor: Albert Moedinger
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Titel: Das Ende vom Liede
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43–46, S. 691–695, 707–710, 723–726, 752–753
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Ende vom Liede.

Eine Berliner Geschichte von Albert Moedinger (Max Alt).


1.

In der Therbusch’schen Ressource in der Oranienburgerstraße war eine feine Hochzeit. Die Wagen waren in ununterbrochener Reihe eine Viertelstunde lang vorgefahren, und die Weiber und Mädchen der Gegend, und auch solche, die da nur gerade vorüberkamen und es sehr eilig hatten, versperrten den Bürgersteig in dichten Haufen und trennten sich erst von der Stelle eine gute Zeit, nachdem der letzte Wagen den letzten Gast ausgeladen – obgleich ein dichter grauer Novembernebel sich in einen feinen Sprühregen aufgelöst hatte, der ebenso ergiebig auf die über den Kopf gezogenen Tücher der alten Weiber herabrieselte, als er sich auf den Kranz der Braut ergoß, die an dem Arm des Erwählten schnell in den geschmückten Eingang des Hauses hineinhuschte. Der große Saal, in dem schon so viele glückliche Hochzeiten gefeiert waren, erglänzte in seinem schönsten Lichte, und die Tafeln strotzten von bunten Aufsätzen und Blumen, von Kranzkuchen und Confectetageren, die sich in den Wandspiegeln unzählbar vervielfältigten. Braut und Bräutigam – oder richtiger das junge Ehepaar – sahen schön und glücklich aus, obgleich es schien, daß diese beiden Beiworte bei dem Bräutigam stärker in die Augen sprangen. Sie waren sich nicht ähnlich. Er war groß und schlank, sie klein und von anmutiger Rundung. Er war schwarzhaarig und von jener vielgerühmten interessanten Blässe, während aus ihren Zügen Lilien und Rosen in glücklichem Verein sich paarten und ihr reiches Haar einen bezaubernden aschfarbenen Ton hatte. Sie waren sich auch in vielen anderen Punkten nicht ähnlich von denen später noch die Rede sein wird, nur in einem kamen sie zusammen, der ziemlich äußerlicher Natur war: sie besaßen Beide keinen Vater mehr. Von den beiden Müttern räumte die Gesellschaft der Mutter des Bräutigams ziemlich einstimmig den Vorrang ein, und sie nahm ihn in ihrem Rang als Wittwe eines Kriegsrathes als etwas Selbstverständliches hin, umsomehr als sie an ihrer Seite einen Hofstaatssecretär hatte, der zu ihrer Familie gehörte, während die Gegenpartei es nach unerhörten Anstrengungen nur zu einem unbesoldeten Stadtrath als Gast hatte bringen können. War nun der höhere Rang auf dieser Seite, so befand sich das größere Vermögen anerkanntermaßen auf der anderen, und Niemand wird es der verwittweten Fabrikantin Mannstein zum Vorwurf machen, daß sie versucht hatte, den sich ihr bietenden Vorzug etwas stärker zu betonen, als sie unter anderen Umständen gethan haben würde. Die Kellner trugen weiße Halsbinden und eben solche Glacéhandschuhe; das Couvert kostete drei Thaler und der Sect wurde von vornherein servirt für Jeden, der sich ihm ausschließlich widmen wollte.

Ich war mit dem Bräutigam zusammen auf der Schule gewesen, hatte den Umgang mit ihm aber später nicht fortgesetzt, weil uns verschiedene Berufspflichten auseinander führten. Dagegen war ich mit einem seiner Vettern, Namens Robert, genau bekannt. Er war ein Schöngeist, „ohne es nöthig zu haben“, und wir sahen uns regelmäßig bei Künstlerfesten und anderen derartigen Versammlungen. Er hatte den Polterabend durch lebende Bilder verherrlicht, zu welchen er sehr hübsche poetische Erklärungen vortrug, und mir war nach langen Bitten nichts übrig geblieben, als seinen Wunsch zu erfüllen und ihn in Anordnung dieser Bilder zu unterstützen. Auf diese Art erneuerte ich meine Bekanntschaft mit Eduard Sandow, dem Sohne der Kriegsräthin, und sah zum Theil selbst, zum Theil hörte ich von seinem Vetter das, was den Inhalt dieser kleinen Geschichte bildet.

Unter Denen, welche sich entschlossen hatten, sich bei Tafel von vornherein dem Champagner zu widmen, stand ein Bruder der Braut, ein junger Mann von sechszehn Jahren, obenan. Er war einer der Ersten gewesen, den anfänglich herrschenden Zwang in kindischem Uebermut zu durchbrechen, und während der ganzen Dauer des Mahles schallte sein tobendes Gelächter in jede etwa eintretende Pause der Unterhaltung hinein. Er neckte seine Cousinen und deren Freundinnen, die an jenem Ende der Tafel mit ihm saßen, auf jede nur mögliche Art, brachte sie in diesem Augenblicke fast zum Weinen und erregte im nächsten wieder das fröhlichste Gelächter bei ihnen. Er copirte mehrere der Anwesenden mit großem Geschick, was sehr komisch anzusehen war. Die armen kleinen Damen befanden sich in einer sehr schwierigen Lage und schwebten fortwährend in Gefahr, zu einer ungelegenen Zeit loszuplatzen.

Die Tischgesellschaft hatte sich langsam, aber glücklich durch den größeren Theil des überreichen Menus durchgearbeitet und bedurfte augenscheinlich einer kurzen Bewegung, denn der größere Theil wanderte an der Tafel herum, mit dem Glase in der Hand hier und dort ein paar Worte austauschend. Auch Braut und Bräutigam waren unter diesen und widmeten sich, auf kurze Zeit voneinander getrennt, den beiderseitigen Bekannten. Der Bräutigam war in die Gegend gekommen, wo ich mit seinem Vetter Robert saß, und schenkte auch uns einen Augenblick; wir dachten an diese und jene unserer Jugenderinnerungen, und ich hatte unterdeß Gelegenheit, Eduard etwas genauer anzusehen. Er war ein [692] auffallend schöner Mann geworden, dessen schöne Figur die meisten der anwesenden Herren überragte, sowohl an Größe, wie an Eleganz. Der schon angedeutete blasse Charakter seines Kopfes gewann in der Nähe noch einen größeren Reiz. Haar und Bartwuchs waren von einer mächtigen Fülle und von glänzender Schwärze. Jenes war kurz geschoren und den Bart trug er, wie es damals Sitte war, als schmales Collier. An den Stellen, wo das Messer alles Ueberflüssige täglich fortnahm, leuchtete aus der Haut jener wundersame blaue Schimmer auf, der uns an Köpfen von Tizian und Veronese oft so sehr bezaubert. Seine Unterhaltung war einfach und natürlich. Ich wußte von der Schule her, daß seine geistigen Eigenschaften nicht hervorragend waren. Wenn sich irgend eine passende Gelegenheit bot, so lachte er, und er that recht daran. Einmal deshalb, weil er sehr schöne Zähne hatte, und dann, weil ein Bischen Lachen über Manches glücklich hinweghilft, in der Unterhaltung sowohl, als im Leben.

Wir stießen eben mit den Gläsern an und der glückliche Bräutigam wollte sich von uns trennen, um Anderen dieselbe Artigkeit zu erweisen, als sein jugendlicher Schwager, der vorhin erwähnte übermüthige Junge, plötzlich etwas schwankenden Trittes zu uns trat, um seinerseits seine Ansprüche an den nunmehrigen Mann seiner Schwester geltend zu machen. Er fuhr mit emporgehaltenem Glase auf Eduard Sandow zu und sagte mit etwas schwerer Zunge lachend:

„Nun, alter Junge, wollen wir Beide einmal anstoßen, wie es richtigen Männern geziemt!“

„Das wollen wir, Otto,“ antwortete der Bräutigam ebenfalls lachend, und sie fuhren mit ihren Gläsern aneinander und ließen sie dann artig an den unseren vorübergleiten.

„Und nun, alter Junge,“ lallte der augenscheinlich betrunkene Knabe weiter, „nun will ich Dir auch mein Beileid zu erkennen geben,“ und er fuhr von Neuem mit seinem Glase auf den armen Bräutigam zu, der abermals lachend mit ihm anstieß.

„Du lachst, alter Junge?“ fuhr der Knabe fort und lehnte sich an einen Stuhl; „nun meinetwegen lache! Aber Du wirst ’mal sehen, Du hast sie nun am Halse, und Du wirst Deinen Schaden besehen, und ich bin neugierig, wie lange Du es treiben wirst, und bin neugierig auf das Ende vom Liede.“

Dann sank das saubere Bürschchen auf den Stuhl nieder und lachte aus vollem Halse, ich weiß nicht ob über seinen famosen Scherz oder über die verblüfften Gesichter, die wir als Zuschauer dieser peinlichen Scene wahrscheinlich machten. Der Bräutigam hatte dieser überraschenden Erklärung gegenüber versäumt, sein gewöhnliches Lachen zur rechten Zeit ertönen zu lassen. Er war auffallend bleich geworden und seine großen dunklen Augen hatten sich einen Augenblick in’s Leere gerichtet, als wenn sie ein Gespenst sähen, das nur für sie vorhanden war. Plötzlich zuckte er zusammen, und die Stimme der Braut, welche hinter uns ertönte, machte den peinlichen Eindruck dieses Vorgangs für mich zu einem unvergeßlichen durch die Art und Weise, in welcher sie sagte:

„Siehst Du, Mama, das ist die Folge Deiner unverzeihlichen Schwäche! Otto ist betrunken und macht, wie immer, boshafte Bemerkungen über mich. Nun, zum Glück wird es die letzte sein, welche ich höre, denn in mein Haus soll er den Fuß nicht setzen.“

„Ha! ha! ha!“ lachte der betrunkene Knabe; „wenn er nicht will, … wenn er nicht will, … ha! ha! ha! … sonst, mein Schwesterchen, … weißt Du wohl, … daß er –“

Der Klang der Worte erreichte nicht mehr unser Ohr, denn wir hatten das Hinzutreten der beiden Damen benutzt, um unbemerkt von der Scene abzutreten und uns in die im Hintergrund der Bühne auf- und abwogende Menge zu mischen. –

Das Mahl war lange beendigt; der Tanz währte schon mehrere Stunden, und nichts trübte den Glanz des schönen Festes. Der liebenswürdige Bruder der glücklichen Braut, den ich eine Zeitlang vergebens mit den Blicken gesucht hatte, war wieder erschienen. Es schien, daß man ihn einer Schwarzen-Kaffee-Cur unterzogen hatte; denn obgleich er noch etwas bleich war, schien sein Rausch doch zum großen Theil verflogen. Es war kein Wunder; denn er hatte sich ja von vornherein dem Sect gewidmet.

Ich hatte meiner Pflicht als Gast Genüge gethan, hatte zwei, drei Mal getanzt und lehnte nun an einer der großen Säulen, welche das Orchester trugen, müßig und mit dem Gefühl der beginnenden Langeweile in das bunte Treiben schauend. Man tanzte die damals sehr in Mode stehende Quadrille à la cour, diesen wunderlichen Tanz, mit den zahllosen Verbeugungen, die mir immer einen gewissen unheimlichen Eindruck gemacht hatten, wie ihn übertrieben höfliche Leute wohl hervorzubringen pflegen. Der Wein, den wir getrunken hatten, mußte schwer gewesen sein, denn ich fühlte, daß meine Augenlider müde herabhingen und daß meine Blicke die gesenkten Wimpern wie eine Gardine durchdringen mußten. Es war nicht länger meines Bleibens in dem geräuschvollen und ermüdeten Treiben der Tanzenden. Ich machte mich schleunigst aus dem Staube.

Bald darauf befand ich mich mit meinem Freunde, dem Schöngeist, auf der Straße. Er tanzte gleich mir nicht mehr, und theilte mit mir die innigste Liebe für die treueste Freundin des Junggesellen, die Cigarre.

„Ich denke, wir nehmen noch einen Schlaftrunk, Alt,“ sagte er, nachdem wir ein Weilchen schweigend nebeneinander hergegangen waren, denn er gehörte zu jener Sorte von Männern, die nicht nach Hause gehen können, ohne noch in ein Wirthshaus einzukehren, und wenn das Souper, von dem sie kommen, noch so vortrefflich war und noch so lange dauerte. Und wenn Robert Fürst aus dem Schlosse des Königs gekommen sein würde, es wäre ihm ein und dasselbe gewesen. Er würde das gleiche Verlangen gehabt haben nach seinem Schlaftrunk mit dem qualmigen Duft der Kneipe und dem süßen, den Schlaf so schön vorbereitenden monotonen Getöse, das man nur in einem besuchten Wirthshause hören kann.

Bald hatten wir Alles, was er wünschte, zu unserer Disposition. Wir saßen bei einem Glase Kitzinger, brannten unsre zweite Cigarre an, und ich wollte eben eine Frage an ihn richten, als er mir von selbst entgegenkam, indem er, aus einem tiefen Nachdenken auffahrend, sagte: „Das war eine nette Scene – mit dem Jungen! Nicht?“

Ich gab stillschweigend meine Zustimmung.

„Würde man einem Romanschreiber so etwas glauben?“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

„Vielleicht – vielleicht auch nicht,“ antwortete ich; „es kommt darauf an, wie es gemacht ist.“

„Und wie hübsch ist der ganze Vorgang, wenn man ihn objectiv betrachtet! Mitten in Glück und Freude und Hoffen hinein wirft die schwere Zunge eines betrunkenen Knaben diesen Schatten kommender Ereignisse. Sahen Sie, wie Eduard erbleichte, wie boshaft die Stimme der Braut klang und wie er es fühlte? Wahrhaftig! ich bin neugierig, wie die Geschichte verlaufen wird und was eigentlich dahintersteckt.“

Ich bekannte mich zu derselben Schwäche, und bat ihn, da wir doch auf die kommenden Ereignisse geduldig warten mußten, mir etwas von den vergangenen zu erzählen, das etwa geeignet wäre, in das kleine Drama einzugreifen, dessen Prolog so unerwartet unsere Neugier erregt hatte.

„Von der Familie der Braut weiß ich nur sehr weniges zu erzählen,“ sagte er kurz; „sie ist sehr respectabel. Der Vater hatte eine renommirte Fabrik von Gummiwaaren, und starb vor einem Jahre etwa. Sie sollen reich sein. Die Mutter setzte das Geschäft fort, um es für einen Sohn zu erhalten, der sich zu weiterer kaufmännischer Ausbildung in England befindet. Die Braut singt sehr hübsch und soll auch niedlich zeichnen. Das ist Alles, was ich weiß.“

„Und Eduard Sandow und seine Mutter, die Kriegsräthin –“ sagte ich, „von denen weiß ich eigentlich so gut wie nichts.“

„Da ist eine ziemliche Menge hübscher Details für einen Roman vorhanden, aber wer fragt darnach heute?“ fiel der Schöngeist nachdenkend ein; „Handlung, mit der Holzaxt zugehauene Handlung, das ist der Götze unseres heutigen Lesepublicums.“

„Sie wollen genöthigt sein, wie ein Frauenzimmer, das ist das Ganze,“ sagte ich ärgerlich; „Sie wissen, daß Sie gut erzählen, und daß ich kein Freund roher Effecte bin.“

„Ja, Sie,“ antwortete er, „aber die Anderen!“ dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und begann heftig dampfend:

„Meine Tante ist eine kreuzbrave, prächtige Frau mit einem echt deutschen Gemüth. Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn Sie heut bei ihr zu Tische gewesen wären, ohne morgen [693] einen verdorbenen Magen zu haben. Sie ist voller Witz und Laune, hat eine offene Hand und ein Herz für die Armen, und ich weiß wirklich nicht, wo ich eine schwache Seite bei ihr entdecken soll. Sie müßten denn eine solche darin finden, daß sie auf Rang und Stand hält, daß sie ihren Eduard als einzigen Sohn, wie eine Affenmutter ihr Junges, liebt und daß sie eine Größe ersten Ranges im L’hombre ist. Aber das sind unmöglich schwache Seiten bei einer Kriegsräthin.“

„Sie hat angenehme Manieren,“ warf ich ein, „aber ich kann nicht recht klug daraus werden – ist Ihre Tante aus guter Familie?“

„Ja, sie ist aus sehr guter Familie,“ antwortete der Schöngeist. „Ihr Vater war Botenmeister im Kriegsministerium, und sie lernte den Supernumerarius Sandow zu einer Zeit kennen, wo die Butter und das Brod in dem Tischkasten des armen Jungen regelmäßig härter und älter waren als in der botenmeisterlichen Speisekammer. Sie wissen ja. Der alte Müller, der beim Minister eine sehr gute Nummer hatte – die Minister wechselten damals noch nicht so leicht –, gab dem jungen Manne manch tüchtigen coup d’épaule und brachte ihn bald so weit, daß er einen Hausstand gründen konnte. Aus der Botenmeistertochter war eine Frau Registratorin geworden, aus dieser wurde eine Geheime Registratorin, aus dieser endlich die Kriegsräthin. Man darf nicht zweifeln, daß die ehrgeizige Frau es noch zur Geheimen Kriegsräthin gebracht haben würde, wenn nicht ihr Gatte nach achtzehnjähriger glücklicher Ehe gestorben wäre. Eduard war damals fünfzehn Jahre alt; Sie kannten ihn und wissen deshalb so gut wie ich, daß er schon damals ein hübscher Junge und für sein Alter auffallend groß und ausgebildet war. Ich ärgerte mich in jener Zeit oft; ich war zwei Jahre älter als er, und die Mädchen behandelten mich noch immer wie einen dummen Jungen, während sie schon anfingen, mit ihm zu liebäugeln. Eduard wurde älter, und der schöne Mann blieb der vorherrschende Zug in ihm. Er konnte den Wunsch seiner Mütter, daß er studiren solle, nicht erfüllen, er brachte es nur bis Untersecunda und wurde Kaufmann. Es erhellte von vornherein aus Allem, daß er bestimmt war, Carrière zu machen; es glückte ihm Alles, was er anfing. Natürlich gewann er Aller Herzen, die der Frauen in erster Linie. Ich habe das liebenswürdige Geschlecht, dessen Herz zuweilen in den Augen zu sitzen scheint, so lange und so unausgesetzt in allen Tonarten von ihm schwärmen hören, daß es wirklich manchmal zum Davonlaufen war. ‚O, der schöne Mann!‘ – ‚O, diese elegante Figur!‘ – ‚O, fünf Fuß, acht Zoll!‘ – ‚O, und das schwarze Haar und der Bart!‘ – ‚O, und der entzückende bläuliche Schimmer auf den Wangen, an den Stellen, wo der Bart fortgenommen ist!‘

In diesem bläulichen Schimmer kamen sie unter allen Umständen Alle zusammen. Er übte einen gleichen Zauber auf jede Einzelne aus, und es hat mir oft Kopfschmerzen gemacht, zu ergründen, in welche Beziehung die guten Kinder diesen bläulichen Schimmer möglicher Weise zu dem Märchen vom Blaubart bringen mochten. Eine eigenthümliche Bemerkung machte ich zu jener Zeit schon an meinem schönen Vetter. Sein Benehmen den Frauen gegenüber zeigte klar, daß es kein leichtes Spiel sein würde, sein stolzes Herz aus seinem ruhigen und regelmäßigen Ticktack herauszubringen. Er lächelte, und wenn die jungen Mädchen, denen er sich nahte und auf denen er seine tiefen, schwärmerischen Augen ruhen ließ, heftig errötheten und dadurch andeuteten, daß er sich nur zu bücken brauche, das arme Herz liege ja da zu seinen Füßen, so war die Sache gut, und sein Appetit war so regelmäßig wie der Schlummer ruhig.“

Der Schöngeist machte eine kleine Pause, und ich benutzte sie zu einer Frage.

„Irre ich mich,“ sagte ich, „oder habe ich Sandow eine Zeitlang häufig in Theatern und Concerten gesehen mit einem jungen Mädchen, das neben ihm auffallend klein und zierlich erschien?“

Der Schöngeist nickte mir lächelnd zu und antwortete dann: „Das war die Erste, die das ruhige Ticktack etwas zu beschleunigen gewußt hatte, freilich ohne es zu wollen. Das arme Kind! Sie hieß Emma, war die Tochter eines Mauerpoliers und nähte außer dem Hause für geringen Lohn. Sie war keineswegs hübsch, aber ihre kleine zierliche Figur hatte so etwas Kindliches. Dazu besaß sie sehr schöne blaue Augen mit wunderbaren Wimpern und eine Stimme, so melodisch, wie man sie selten hört. Wenn sie lachte, und auch sie that es gern, so klang es fast, als wenn ein kleiner Vogel über eine Glasharmonica huschte und von den geheimnißvollen Tönen erschreckt davonflatterte. Sie hatte das Glück gehabt, durch Empfehlung in das Haus meiner Tante zu kommen, und es mögen die Tage, die sie dort zubrachte, wohl zu den froheren in ihrem armen Dasein gezählt haben. Die Kriegsräthin hatte eine augenscheinliche Zuneigung für die kleine Näherin gefaßt. Es machte sie jung, ihr frohes Lachen zu hören; sie fiel vergnügt in die zweite Stimme ein, und so kam es, daß sie immer etwas Besonderes kochte, wenn sie ‚die Näherin hatte‘, und aus eigenem Antriebe dem jungen Mädchen zwei Gutegroschen für den Tag zulegte. Eines Tages wollte es mit dem lustigen Lachen nichts Rechtes werden; die Kriegsräthin entdeckte sogar ein paar dicke, dicke Thränen, die an den langen Wimpern einen Augenblick hingen, um dann schwer und schnell über die Wangen herabzurollen. Das arme junge Ding war am gestrigen Abende beim Nachhausewege von einem Betrunkenen auf gräuliche Art insultirt worden. Das liebe unschuldige Mädchen! Das ging nicht; daran hatte die Kriegsräthin gar nicht gedacht; sie war verantwortlich dafür – das mußte verhindert werden. Das Mädchen war nicht zu entbehren; denn die Frau Kriegsräthin war bei der Wäsche. So wurde Eduard beordert, die kleine Näherin nach Hause zu bringen. Er war zwanzig Jahre alt, aber seine Mutter hatte das vollste Vertrauen zu ihm. Sie hatte oft genug gesehen, wie kalt er war. Wie konnte es ihr auch in den Sinn kommen, daß der Sohn einer Kriegsräthin für die Tochter eines Mauerpoliers – ich bitte Sie! das lag doch wirklich außer aller menschlichen Berechnung.

Die kleine Näherin plauderte unbefangen mit ihrem Begleiter und dachte nicht daran, zu erröthen, und kümmerte sich keinen Deut um den bezaubernden bläulichen Schimmer. Das brachte augenblicklich die natürliche Wirkung hervor. Man versagte dem schönen Manne, was er als einen ihm gebührenden Tribut zu betrachten gewöhnt war; er fühlte den Boden unter seinen Füßen weichen, und das nahm ihm seinen Halt. Die Verlegenheit, die nicht wußte, wo sie hinsollte, kam auf ihn zurück, und er fing an, Unsinn zu schwatzen. Das junge Mädchen hörte den Unsinn an und lachte Den, der ihn sprach, aus.

Damit war die Sache gethan, der Appetit war gering und der Schlaf unruhig. Der tiefbeleidigte Mann träumte von einer vornehmen Dame, welche einen Eclat dadurch herbeiführte, daß sie sich öffentlich auf einem Balle weigerte, mit ihm zu tanzen … weil er … nicht rasirt sei.“

Der Schöngeist machte eine Pause, um sich einen neuen Schlaftrunk zu bestellen. Als der Kellner ihn gebracht und er sich daran gestärkt hatte, fuhr er fort:

„Als mein schöner Vetter am andern Morgen erwachte, war er verliebt, und es kehrte mit diesem himmlischen Gefühle eine Eigenschaft zu ihm zurück, die er verloren hatte, ohne es zu wissen, und welche ich für die hübscheste halte, die der Mensch besitzt – die Natürlichkeit. Als er sich dann einfach, wie er war, gegen das junge Mädchen benahm, fand sie ihn plötzlich sehr nett, und es dauerte nicht lange, so wußte die Verlegenheit nicht aus und ein vor embarras de richesse. Sie flog bald zu ihm, bald zu ihr, und war beständig unterwegs, und das Erröthen, dieser treue Begleiter der Verlegenheit, folgte derselben dicht auf der Ferse und befand sich in derselben Lage.

Als das Unglück da war – nicht so, wie Sie in diesem Augenblicke vielleicht meinen –, als meine Tante merkte, wie die Sachen standen, gab es natürlich eine furchtbare Scene. Die Frau, ihrem natürlichen Charakter nach, würde vielleicht ein gewisses Mitgefühl mit dem armen Mädchen gehabt haben, wenn die Kriegsräthin nicht in ihr die Oberhand gewonnen hätte. Die kleine Schlange hatte sich eingedrängt in ihr Haus und hatte zuerst sie selbst mit ihren Blicken bezaubert, bis sie ganz dumm geworden war, und dann hatte sie sich auf ihre Krone, auf ihr Juwel, auf ihren kalten, unschuldigen Eduard gestürzt und hatte mit ihm dasselbe Spiel getrieben, bis sie bei ihm dasselbe Ziel erreicht hatte. Sie mußte Knall und Fall zum Hause hinaus, und alle befreundeten Familien, in denen Söhne [694] waren, gaben ihr denselben Abschied, aus Furcht, daß sie auch diese mit ihren Blicken bezaubern könne, bis sie – ganz dumm wären.

Es ereignete sich dabei eine hübsche Scene, der ich wohl beigewohnt haben möchte. Der alte Mauerpolier, der auf irgend eine Art hinter die Geschichte gekommen sein mußte, zog seinen Sonntagsrock an und machte sich auf den Weg, um der Frau Kriegsräthin seine Meinung zu sagen, wie er sich ausdrückte. Er hatte seine Rede sehr gut memorirt und sie wohl zwanzig Mal wiederholt, ehe er von der Gartenstraße bis an die Jerusalemerkirche gekommen war. Als ihn aber das Mädchen, nachdem er seinen Namen genannt, in das ‚gute‘ Zimmer geführt hatte, da kam er mit seiner einundzwanzigsten Wiederholung gleich beim ersten Satze in’s Stocken. Denn da hing an der Wand der Kriegsrath in Oel und Goldrahmen, lebensgroß, und hatte seine Orden auf der Brust und ein großes offenes Schreiben mit großem königlichen Siegel in der Hand. Der Maler des Bildes hatte den Moment erfaßt, wo der Verstorbene seine Bestallung zum königlichen Rathe empfangen, und es war nicht zu verwundern, daß das Bild mit sehr stolzer Miene auf den Mauerpolier herabsah. Aber das war noch nichts; denn da war noch das Bild einer schwarzen Dame in schwarzseidenem Kleide und dicken schwarzen Locken; sie war mit einem Male zweimal da – einmal neben dem Kriegsrathe, auch in Oel und Goldrahmen, und dann noch einmal in der offenen Thür in Lebensgröße, nur etwas älter und nicht ganz so sprechend. Da war die Rede des alten Mannes plötzlich ganz zum Teufel und er machte nur ein paar verlegene Bücklinge, die nicht sehr herausfordernd aussahen und meine Tante augenblicklich beruhigten. Sie mußte wohl etwas von Taktik wissen, denn sie benutzte die augenscheinliche Schwäche ihre Gegners, drehte den Spieß schnell um und ging von der Annahme aus, daß er gekommen sei, um zu entschuldigen, daß seine Tochter das in sie gesetzte Vertrauen nicht besser gerechtfertigt habe. Dabei war sie aber sehr gütig und sagte, wie leid es ihr thue, daß das kleine Mädchen sich etwas in den Kopf gesetzt habe, was doch einmal nicht zu erfüllen sei. Sie werde es mit der Zeit schon wieder daraus loswerden, sie wolle ihr somit weiter nicht böse sein, ihr nichts nachtragen und ihr für die Zukunft alles Gute wünschen. … Und damit hatte sie den alten Mann sehr höflich zum Zimmer hinauscomplimentirt, und dieser hatte erst nach Stunden den Anfang seiner Rede wiedergefunden, als er bei der zweiten Weißen und beim dritten Kümmel war.“

Ich hatte unwillkürlich über dieses kleine Genrebild gelacht das er durch eine drollige Darstellung des alten Poliers noch illustrirte, und er fuhr, dadurch aufgemuntert, nach kurzer Pause in seiner Erzählung fort:

„Die Kriegsräthin glaubte die fatale Angelegenheit damit aus der Welt geschafft zu haben, während Eduard in der Sache anders dachte; seine Mutter spielte alle Abende L’Hombre, und so hatte mein schöner Vetter nichts zu fürchten und holte alle Abende heimlich seine kleine Näherin ab. Vielleicht trifft das arme Mädchen hier ein Vorwurf, aber was wollte sie schließlich gegen den zauberhaften bläulichen Schimmer machen, nachdem ihr das Verständniß dafür aufgegangen war? Sie liebte Eduard, und Gott weiß, was er ihr Alles versprochen haben mag! Ich habe es nie herausbringen können; sie sprach nie davon, obgleich ich der Vertraute war. Ob meine Tante Kenntniß von dem Verhältnisse hatte, kann ich ebenfalls nicht entscheiden; aber ich glaube es. Eduard zeigte sich oft genug mit ihr, daß sie es wohl durch irgend eine gute Freundin erfahren haben konnte. Sie war aber eine Frau von Welt; ihr Sohn war jung und schön – warum sollte er nicht eine kleine Liaison haben? Ihretwegen! Nur keine Dummheiten … nur nichts Ernstliches!“

„Und das Verhältniß blieb immer ein oberflächliches?“ fragte ich; „es kam nie auf einen Punkt, wo es ernst werden konnte?“

„Es war ein paar Male daran, verteufelt ernst zu werden,“ antwortete mein Freund, „und ich will nur das eine Mal erwähnen. Das junge Mädchen besaß ein tiefes Gemüth, und von dem Augenblicke, wo sie ihm ihr Herz geschenkt hatte, hing sie an Eduard mit ganzer Seele und konnte nicht begreifen, daß er alle Augenblicke Zweifel hatte, Zweifel, wie sie nur die Eifersucht zu haben vermag. Sie wissen, was die Eifersucht bei den Männern ist, – Eitelkeit! Bei meinem Vetter war sie unter allen Umständen nichts Anderes als das. Er glaubte genug gethan, sich genug bloßgestellt zu haben, um dafür das Recht zu besitzen, die Kleine zu tyrannisiren. Sie sollte Niemanden mit einem Blicke ansehen, Niemanden; sie sollte keinen Unsinn reden; sie sollte nicht fortwährend aufspringen, sondern still sitzen; sie sollte nicht solche dummen Fragen machen; sie sollte nicht ausgeschnittene Kleider tragen; sie sollte nicht lachen, nicht so viel lachen. Du lieber Gott! wenn Sie mit angesehen hätten, was das arme kleine Ding Alles nicht sollte! Es war vollständig in Frage gestellt, ob sie noch leben konnte, wenn sie das Alles unterlassen hätte, was ihr hoher Herr ihr verbot.

Eines Tages gab Eduard ein kleines Souper in seiner eigenen Wohnung. Er war jetzt selbstständig und hatte sich sehr hübsch eingerichtet. Es waren nur Freunde und Freundinnen[1] geladen, darunter ein anderer Vetter von außerhalb, ein närrischer kleiner Kauz, der so drolligen Unsinn sprach und so ernst dabei aussah, und eine wahre Force hatte, alle Leute zum Lachen zu bringen. Die arme Emma! Wie sie gekämpft haben mag; wie ihr die Lippen weh gethan haben mögen, auf die sie so fest mit ihren weißen Zähnen gebissen hatte, bis es nicht mehr ging, bis sie losplatzte und dann allerdings in ein unbändiges Gelächter ausbrach. Der hohe Herr richtete seine großen, etwas hervorstehenden Augen zürnend auf sie in der Meinung, sie damit zu Boden drücken und zur Ruhe bringen zu müssen. Wenn er gewußt hätte, wie komisch er dabei aussah, würde er es nicht für ein solches Verbrechen gehalten haben, daß sie ihm hell auf in’s Gesicht lachte. Es entwickelte sich eine Scene, welche beinahe so lieblich war, wie die heute mit angehörte. Der schöne Mann wurde grob gegen das arme Mädchen, fast roh. Sie erhob sich, in der entschiedenen Absicht zu gehen; er machte keine Miene, sie zu halten. Der Vetter von außerhalb, welcher der eigentliche Schuldige war, half durch einen glücklichen Scherz über die Situation hinweg. Emma blieb, und der hohe Herr, der wohl sein Unrecht etwas einsehen mochte, versuchte es wieder gut zu machen. Er wurde liebenswürdig gegen die Kleine; sie blieb artig, aber kalt. Sie interessirte mich an diesem Abend doppelt; ich beobachtete sie genau, und ich weiß nicht, was den Glauben in mir hervorrief, daß sie irgend etwas unternehmen würde. Ich machte meinen schönen Vetter darauf aufmerksam; er zuckte mit den Achseln.

Ob an jenem Abende noch etwas Anderes geschehen war, was ich nicht Gelegenheit hatte zu beobachten, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich mich nicht getäuscht hatte, daß das junge Mädchen in der darauf folgenden Nacht wirklich etwas unternahm. Sie führte die kleine Scene mit dem Kohlentopfe aus, die damals in allen französischen Romanen spielte. Nur hatte die Uebersetzung in’s Deutsche den Kohlentopf in einen kleinen eisernen Ofen verwandelt. Emma’s Wirthin (der alte Polier war vor einem Jahre gestorben, und das arme Kind lebte nun unter fremden Leuten) holte den schönen Mann vor Tagesanbruch aus dem Bette, und er soll sehr erschreckt und bleich ausgesehen haben, als er eine halbe Stunde später an das kleine Lager trat, auf welchem sein Opfer noch immer leblos lag. Die Wirthin erzählte mir zwei Tage darauf, als ich die Kranke besuchte und sie so blaß aussah und so wehmüthig lächelte, einen kleinen Vorgang, der auch wohl der Erwähnung werth ist.

Der alte Doctor, welcher sechs Stunden gearbeitet hatte, ehe es ihm gelang, das junge Leben zurückzurufen, mochte wohl durch die Anwesenheit des schönen Mannes und seinen aufrichtigen Schmerz einen richtigen Einblick in die Sache bekommen haben. Er wandte sich vor dem Gehen zu Eduard und ergriff dessen Hand mit den Worten: ‚Ich bin ein alter Mann und habe als Arzt zuweilen das Recht, in Privatverhältnisse hineinzureden, die nicht vor mir verborgen bleiben konnten. In diesem Falle wird das Recht zu einer Pflicht, die ich hiermit erfülle. Wenn man die Liebe eines braven Mädchens in diesem Maße besitzt, junger Mann, so hüte man sich, etwas zu thun, was einen so traurigen Entschluß hervorbringen kann. Wenn man es aber gethan hat, vielleicht weil man in dem Maße nicht an diese Liebe glaubte, so erkennt man seinen Fehler, wenn man ein Mann von Ehre ist!‘“ [695] „Und was antwortete Eduard Sandow?“ fragte ich den Erzähler, der, den Kopf langsam wiegend, nachdenkend vor sich hinschaute.

„Nichts, wie mir die Wirthin sagte. Er ließ seine rechte Hand ruhig in der des Doctors, sah starr auf den kleinen eisernen Ofen, strich sich mit der linken seinen glänzend schwarzen Backenbart und antwortete nichts. Der alte Doctor trat noch einmal an das Bett der Kranken, sah, daß sie ruhig schlief, und verließ mit einem leichten Achselzucken das Zimmer.“

[707] „Ich hielt Ihren Vetter stets für einen guten Menschen,“ sagte ich, während der Schöngeist immer noch nachdenklich sein Haupt wiegte.

„Ich halte ihn heute noch dafür“, fuhr dieser nach einem kurzen Schweigen fort. „Gut, aber schwach! Die gute Hälfte der Männer mit halber Bildung ist so wie er. Wissen Sie, wie seine Antwort innerlich gelautet haben mag? Man antwortet in solch einem Fall immer, wenn man auch stumm wie ein Fisch bleibt: ‚Sie haben klug reden, alter Herr‘, ich wette, daß er innerlich so zu ihm sagte, ‚Sie haben klug reden. Man sieht, daß Sie keine Mutter haben, die Kriegsräthin ist!‘“

Wir saßen Beide einen Augenblick schweigend da, dann fragte ich, um einen Zweifel aufzuklären, der mich beherrschte: „Und Sie glauben wirklich, daß Ihre Tante niemals die Einwilligung zu dieser Verbindung gegeben haben würde?“

Der Schöngeist schüttelte langsam den Kopf und sagte dann: „Ich muß meine Tante falsch geschildert haben; Sie verkennen sie. Sie ist trotz alledem eine Frau von seltener Herzensgüte. Es würde Kämpfe gekostet haben, ganz gewiß, aber die Liebe zu ihrem Sohne würde in ihr gesiegt haben. Es ist einfach eine Entschuldigung, die mein schöner Vetter sich selbst machte.“

„Das ist entsetzlich,“ antwortete ich leise.

„Warum?“ sagte der Schöngeist achselzuckend; „es ist Eitelkeit, nichts als Eitelkeit, und wer ist heut zu Tage nicht eitel? Eduard würde gestorben sein, wenn seine kleine Frau in Gesellschaft hin und wieder ‚mir‘ statt ‚mich‘ gesagt hätte, und er würde sie dahin gebracht haben, mit seinen großen, unermüdlich auf ihr ruhenden Augen; er würde ihr den Fehler abgeängstigt haben, glauben Sie mir, und wenn sie den kleinen Heyse vorwärts und rückwärts auswendig gewußt hätte.“

„Seltsamer Charakter!“ sagte ich kopfschüttelnd.

„Wir wollen ihn nicht verdammen,“ fuhr der Erzähler fort; „wir können eben Alle nicht aus unserer Haut heraus. Er war nun einmal so schwach. Er fürchtete Alles, was irgendwo und irgendwann einmal eintreten konnte. Ich glaube nicht, daß er recht klar wußte, wovor er sich fürchtete. Vielleicht hielt er es für möglich, daß der alte Mauerpolier wieder aufstehen möchte, um betrunken zur Trauung in die Kirche zu kommen. Wer kann es wissen?“

„Hatte ihn jener tragische Schritt des jungen Mädchens nicht gerührt?“

„Gerührt? das möchte ich nicht behaupten; erfreut und stolz gemacht, so wird man es ungefähr nennen können! Wenigstens war er hinterher eine kurze Zeit auffallend glücklich in ihrer Gegenwart, und ich glaube, wenn sie selbstsüchtiger gewesen wäre, würde sie ihn damals vielleicht dahin gebracht haben, die Hochzeitskutsche zu bestellen. Aber wie sollte das kleine Ding zu selbstsüchtigen Ideen kommen!? Uebrigens glaube ich, daß sie nachher anfing, ihn zu durchschauen. Sie war ruhiger geworden und zitterte nicht mehr in dem Maße wie früher, wenn dem hohen Herrn etwas nicht recht war.

Ein halbes Jahr darauf lernte Eduard seine jetzige Braut kennen, und seine Lage wurde dadurch noch bedauernswerther. Er fürchtete sich nun erst recht. Was konnte das Mädchen, wenn es sich um eine Andere verlassen glaubte, für dumme Geschichten machen … Er war wirklich zu beklagen, und ich hatte ein gewisses Gefühl für ihn, das sich aus Mitleid und aus noch manchen anderen Empfindungen zusammensetzte. Ich nahm den Auftrag, die Sache zu arrangiren, an, weil ich das junge Mädchen gern hatte und sie achtete. Er wollte für sie sorgen, ihr ein Geschäft einrichten, sie solle nur vernünftig sein und keine Scenen herbeiführen. Ich wünschte, Sie hätten die Tochter des alten Mauerpoliers bei dieser Gelegenheit sehen können, wie sie mich ruhig anhörte und nur ihre kleine Hand langsam aber fest auf’s Herz legte! Ich war auf einen Anfall von Weinkrampf oder etwas dergleichen gefaßt gewesen und ich hatte mich mit Eau de Cologne und englischem Salz versehen. Es war unnütz, und daß sie mich ruhig und ernst anhörte und meine Vermuthungen in keiner Art zutrafen, brachte mich wirklich in keine geringe Verlegenheit. Sie werden lachen, aber ich kam mir wirklich einen Augenblick wie der umgekehrte Polier vor und war dicht daran, selbst zu meinem Riechfläschchen meine Zuflucht nehmen zu müssen. Nachdem ich mich des Wesentlichsten meines Auftrags ungeschickt entledigt hatte, sah sie mich mit einem wehmüthigen Lächeln an und antwortete mit der lieblichen klangvollen Stimme, die mir in’s Herz schnitt: ‚Sagen Sie ihm, daß er von mir nichts zu fürchten hat; wenn er mich nicht mehr liebt, so soll er gehen! Es war mir seit längerer Zeit immer, als wenn er schon fort wäre, und ich duldete seine Besuche nur noch, weil man nie wissen kann, was in einem Menschenherzen Alles vorgeht, es ist ein so schnurrig Ding – Sie kennen das kleine Lied – sein’s … ist es wohl nie gewesen; er soll ruhig gehen – er hat von mir nichts zu fürchten.‘

[708] ‚Aber Sie, mein gutes Kind,‘ sagte ich ebenso gerührt wie besorgt zu ihr, ‚wollen Sie mir versprechen, daß Sie … nicht wieder … thun Sie’s nicht! Es ist nicht das Richtige und ist nicht christlich. Thun Sie’s nicht, ich bitte Sie darum.‘

Sie sah mich mit ihren großen dunklen Augen fest an und verstand mich augenblicklich. Dann sagte sie, ihre rechte Hand leicht und doch so bedeutungsvoll erhebend: ‚Ich werde es nicht thun. Ich schwöre es Ihnen. Es steht anders heut; damals glaubte ich noch an seine Liebe, und ich mochte nicht leben, weil ich die Möglichkeit vor Augen sah, sie zu verlieren. Jetzt habe ich mich langsam an diesen Gedanken gewöhnt; ja, noch mehr, ich fühle, daß ich seine Liebe nie besessen habe. Ich werde tragen, was ich mir selbst auferlegte.‘

Als ich dann zu dem delicaten Punkt meines Auftrags kam, fiel sie mir sogleich in’s Wort. ‚Ersparen Sie mir das!‘ sagte sie, ‚ich fühle, daß es Ihnen schwer wird, diese Worte herauszubringen. Ich danke Ihnen dafür. Sie waren immer gut zu mir. Er hat ein Paar Mal ganz ruhig davon zu mir gesprochen; er kennt meine Antwort. Ich lasse ihm danken.‘

Das junge Mädchen that mir in ihrer ruhigen Ergebenheit so leid, daß ich mich für verpflichtet hielt, ihr noch irgend etwas Tröstliches zu sagen, und es mag Ihnen einen Begriff von meinem damaligen Gemüthszustand geben, daß ich sie bat, ihn nicht zu hart zu beurtheilen, und daß ich Alles hervorsuchte, was etwa zu seinen Gunsten sprechen konnte und ihn vielleicht weniger lieblos erscheinen ließ. Das arme Kind dankte mir noch dafür. ‚Er ist nicht schlecht; ich weiß es,‘ sagte sie; ‚ich würde ihn sonst auch nie geliebt haben; er ist nur schwach und ist nur das, wozu ihn seine Mutter erzog, kalt und hochmüthig. Ich wünsche ihm alles Glück, aber ich glaube, er wird es nie kennen lernen. Das Glück wenigstens nicht, das mir als das wahre erscheint und das darin besteht, Anderen Opfer zu bringen.‘“ …

„Ich war an jenem Abend in sehr gehobener Stimmung, als ich meinen Schlaftrunk einnahm,“ fuhr der Schöngeist fort, nachdem wir eine kurze Weile schweigend dagesessen. „Ich hatte eine schöne Menschenseele kennen gelernt und dachte lange über die hübsche Parabel von den Perlen und den Säuen nach.“

„Und das junge Mädchen hielt Wort?“ fragte ich, nach der Uhr sehend.

„Auf das Treuste!“ antwortete Robert Fürst. „Sie hat ihm nichts in den Weg gelegt, nicht das Geringste. Anfangs war mein Vetter noch ziemlich unruhig, wenn er mit seiner jungen Braut ausging oder ausfuhr und wenn er Abends zu ihr kam. Er fürchtete doch immer noch, ein anonymes Briefchen würde den Reigen eröffnen, und malte sich mit seiner Phantasie aus, was für Situationen sich daraus entwickeln würden. Als aber gar nichts geschah, wurde er ruhiger und gab sich ganz seinem Glück hin. Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß sich gleichzeitig ein adeliger Hauptmann von der Artillerie um Marie Mannstein bewarb und daß er über diesen den Sieg davon getragen, nachdem der Kampf lange hin und her geschwankt. Eduard war sehr stolz darauf, und sein Glück bestand jedenfalls zum guten Theil aus dem süßen Gefühl befriedigter Eitelkeit. In den letzten Tagen stiegen die Gespenster, die ihn eine Zeitlang in Ruhe gelassen hatten, von Neuem aus ihrer Gruft heraus, und er bat mich, bei der Trauung ein wachsames Auge zu haben. ‚Ich weiß wohl, sie ist vernünftig,‘ sagte er, seinen glänzenden schwarzen Bart streichend, ‚viel vernünftiger, als man eigentlich von ihr erwarten konnte,‘ und ich versichere Ihnen, daß ein ganz leiser Ton des Vorwurfs in diesen Worten lag; ‚aber … sie läßt sich vielleicht von ihrer Wirthin oder sonst einem alten Weibe überreden und kommt in die Kirche und fängt an zu schreien; ich könnte es wirklich nicht ertragen, Robert; ich müßte in die Erde sinken. Darum bitte ich Dich, wenn Du sie siehst, suche sie zu bestimmen, daß sie die Kirche verläßt; sie ist doch nur ein kleines, schwaches Mädchen, und beim besten Willen könnte sie vielleicht … bitte sie in meinem Namen, bei meiner Liebe zu ihr, daß sie die Kirche verläßt!‘

Sie glauben es vielleicht nicht, aber er hat es gesagt, er hat es bei Gott gesagt und er hat sicher keinen Augenblick daran gedacht, welch ein bodenloser Egoismus in diesen Worten lag.“

„Aber seine Befürchtungen waren natürlich unnütz; sie war nicht in der Kirche, nicht wahr?“ fragte ich.

„Das wäre denn doch von einer kleinen Näherin zu viel verlangt gewesen,“ antwortete der Erzähler; „aber wie war sie da, in welcher zarten Art!? Meines schönen Vetters Augen irrten sehr unruhig umher, als er in die Kirche trat, und ich glaube sogar, auch die Kriegsräthin ließ die ihren ziemlich forschend über die zahlreich versammelte weibliche Gemeinde laufen; doch Beide vermochten sie nicht zu entdecken. Sie war auf der ersten Galerie, hinter einem Pfeiler, von dem sie Alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Sie sah natürlich bleich aus, war aber sonst ruhig. Sie hätten sie sehen sollen, als der Prediger das Gebet sprach, wie sie die kleinen Hände auf das Gesangbuch legte und den Kopf darauf. Ich war in dem Augenblick überzeugt, daß in der ganzen Kirche keine treuere Bitte zu Gott emporstieg für das Wohl des großen schwarzen Mannes da unten, als aus dem Herzen des jungen, bleichen Mädchens, dem er Alles, Alles genommen!“ –

Es war spät geworden, und wir waren fast die letzten Gäste, als wir uns erhoben, um zu gehen. Als wir auf der Straße ankamen, wo unsere Wege bald auseinanderführten, reichte mir Robert Fürst die Hand. „Sie kennen nun die kleine einfache Geschichte. Jetzt, bitte, rufen Sie sich die unbarmherzigen Worte des trunkenen Knaben in’s Gedächtniß und überlegen Sie dieselben! Fühlen Sie nicht etwas von dem geheimnißvollen Grauen des antiken Fatums? Die Stufen des Tempels, zu dem mein schöner Vetter emporschritt, um das Glück zu finden, waren mit Rosen bestreut, und glücklich hoffend lächelte seine Lippe. Da, in dem Augenblicke, wo er den Vorhang von dem verschleierten Bilde heben will, springt mit jähem Satz die Schlange aus ihrem duftigen Versteck und hängt fest, fest an seinem Herzen! ha! ha! ha! ‚Das Ende vom Liede!‘ Der unmündige Knabe hat mich beleidigt, tödtlich beleidigt. Ich glaubte das Leben zu kennen und ich war einfältig genug zu denken, die Geschichte sei aus, als wir aus der Kirche kamen, das glückliche Paar in den Wagen stieg und der Kutscher mit dem Strauß an der Brust die Pferde antrieb, deren weiße Atlasschleifen so lustig flatterten! Unsinn! Als ob in diesem Leben überhaupt jemals etwas aus sein könnte! Der Knabe hat Recht, es war der Anfang vom Liede, und Gott allein weiß, wie einst das Ende klingen wird. Adieu! auf Wiedersehen!“




2.

Die späte Jahreszeit hatte es dem glücklichen Paare nicht ermöglicht, eine Hochzeitsreise anzutreten. Sie feierten ihre Flitterwochen daheim und öffneten gleich bei Beginn des Winters ihr Haus allen Freunden zu kleinen und großen Festlichkeiten. Ich hatte Einladungen zu diesen erhalten und traf, ihnen folgend, jedesmal mit dem Schöngeiste zusammen. Wir beobachteten, Jeder in seiner Art, und Keiner konnte etwas entdecken. Ich lachte oft im Stillen, wenn ich den Vetter Eduard Sandow’s mit seinen grübelnden kleinen Augen unermüdlich über die Brille hinwegsehen sah, wie er jedes Winkelchen durchstöberte und den Kopf schüttelte und nicht begreifen konnte, wo um Alles in der Welt die Schlange sich verkrochen haben möge. Ich lachte ihm eines Abends laut in’s Gesicht und sagte ihm meine Meinung: „Es nützt Alles nichts, Verehrter! Sie ist nicht da, und wir haben alle Beide Gespenster gesehen. Der Wein war sehr schwer. Sie ist nicht da.“

Er sah mich eine Weile sinnend an, dann sagte er in seiner entschiedenen Art und Weise: „Ich will mir allenfalls gefallen lassen, daß der Junge ein boshafter Schlingel ist, der nur einen Scherz machen wollte. Aber weshalb antwortete die Braut so furchtbar boshaft? Wollen Sie mir das gefälligst erklären? Sie können es nicht; kein Mensch würde es können. Deshalb sage ich Ihnen, sie ist doch da; nur nützt es nichts, sie zu suchen. Darin haben Sie Recht. Sie wird ganz von selbst zum Vorschein kommen, und ich möchte mit Ihnen wetten, daß Sie zuerst ihre Schwanzspitze zu sehen bekommen.“

„Weshalb ich?“ fragte ich lachend.

„Weil Ihnen weniger daran gelegen ist als mir,“ antwortete er und trat an den Spieltisch, wo die Kriegsräthin beim l’Hombre saß, und in den Pausen sehr übermüthige Geschichten erzählte und sehr lustig lachte.

[709] Eduard Sandow war augenscheinlich sehr glücklich. Seine Frau sah wirklich mit ihren zarten Farben und der üppigen Fülle ihres aschblonden Haars, das sie sehr geschickt auf ihrem kleinen Kopf balancirte, außerordentlich hübsch aus. Sie hatte eine Fantasie von Thalberg leidlich zu Ende gebracht, ein hübsches Liedchen gesungen, und man war jetzt dabei, das Album zu bewundern, das ganz mit Zeichnungen von ihrer eigenen Hand gefüllt war. Man konnte auch nicht leugnen, daß ihr sehr ruhiges Wesen eines gewissen vornehmen Anstrichs nicht entbehrte. Sie lachte sehr selten laut, sondern lächelte nur; sie sprang nicht fortwährend auf, sondern blieb ganz ruhig sitzen, selbst in Fällen, wo es ihr als Wirthin vielleicht nicht an Veranlassung gefehlt hätte, aufzuspringen. Auch würde das feinste Ohr sich umsonst gemüht haben, den kleinsten Verstoß gegen den kleinen Heyse bei ihr zu entdecken; sie plapperte ganz geläufig Französisch mit dem alten Küchenmeister von der Colonie, und dem glücklichen Gatten tönte das wie Musik in die Ohren, vielleicht weil er so wenig davon verstand. –

Eines Tages kam Robert Fürst, den ich seit drei Wochen nicht gesehen hatte, zu mir in’s Atelier, wo er sich nach einer kurzen Begrüßung auf das Sopha warf, den Kopf schüttelte und leise vor sich hin lachte.

„Nun, haben Sie sie endlich entdeckt?“ fragte ich, meinen Stuhl zu ihm umwendend.

„Noch nicht, noch nicht,“ antwortete er; „aber es ist festgestellt, daß sie da ist; man hört sie zuweilen rascheln. Meine Schwester hat sie rascheln hören, und von ihr habe ich die kleine Nachricht, die ich bringe. Sie wissen, daß mein schöner Vetter ein ungemein eigener Mann ist. Er ist wie ein Spiegel; nicht ein Stäubchen will er auf sich haben, und in Allem, was zu seiner Toilette gehört, war er von Jugend auf schwer zu befriedigen. Die junge Frau hatte meine Schwester ersucht, ihr beim Einkaufe eines ihr fehlenden seidenen Kleides behülflich zu sein, und hatte sie nach vollbrachter That mit zu sich geschleppt. Da trafen sie den glücklichen Gatten vor seinem Wäschspinde knieend und wie in einem Neste reiner, aber vollständig auseinandergerissener und zerknitterter Wäsche begraben. Er war sehr schlechter Laune und behauptete, kein Oberhemd zu haben, das er anziehen könne. Das eine war zu blau, das andere zu gelb, und die übrigen waren alle furchtbar grau und so schlecht geplättet, wie er es nicht gewohnt sei. Er war durchaus nicht guter und liebenswürdiger Laune und hat sich schließlich aus seinem weißen Neste mit den Worten erhoben: ‚Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll, Marie.‘

Marie hatte ihm aber sehr ruhig zugehört und in dem tröstenden Tone, den man einem unzufriedenen Kinde gegenüber anschlagen würde, ebenso ruhig geantwortet: ‚Es thut mir wirklich leid, lieber Eduard. Aber Du wirst Dich schon einmal so behelfen müssen; es soll nicht wieder vorkommen; ich werde es dem Mädchen sagen.‘

‚Dem Mädchen sagen?‘ soll er gerufen haben; ‚dem Mädchen sagen? Es würde mir eine viel bessere Garantie sein, mein Kind, wenn Du Dich selbst etwas darum bekümmertest, statt den ganzen Tag still zu sitzen.‘

Da soll sie ihn mit einer ganz sonderbaren Miene angesehen und nach einem Augenblick des größten Erstaunens kurz und kalt erwidert haben: ‚Wenn Du den Wunsch hattest, Eduard, eine Frau zu bekommen, die ihr Glück darin findet, den ganzen Tag am Waschfaß zu stehen, so hättest Du es sagen sollen. Ich würde Dir dann einfach geantwortet haben, daß ich dazu keinen Beruf in mir fühle.‘

Und da soll er etwas roth geworden sein, dann das Zimmer verlassen und die Thür hinter sich so zugemacht haben, wie sie artige Kinder nicht zumachen dürfen.

Sie ist liederlich, lieber Freund, und die Katastrophe wird sich wahrscheinlich unromantischer entwickeln, als wir hofften,“ sagte der Schöngeist sich erhebend. „Meine brave Mama und ihre weibliche Nachkommenschaft haben es schon vor vier Monaten herausgehabt, aber ich wollte ihnen nicht glauben, weil ich es im Allgemeinen nicht für rathsam halte, großes Gewicht auf das zu legen, was Frauen von einander sagen. In diesem Falle haben sie Recht, und ich kam eigentlich, um Sie zu bitten, Ihre Augen nach dieser Richtung hin ein Bischen aufzumachen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und ich glaube, es wird sich da sehr viel hübsches Detail entwickeln, welches ich nicht gern entbehren möchte – auf Wiedersehen!“ –

Eduard Sandow war von den glänzenden Eigenschaften seiner jungen Frau so eingenommen, daß sie nach dieser Seite hin sehr leichtes Spiel mit ihm hatte. Sie wünschte Unterricht im Oelmalen zu nehmen, bei mir zu nehmen, und ich konnte ihre Bitte nicht gut abschlagen, da ihr Mann sie sehr warm darin unterstützte. Es war anfangs sehr lustig, die junge Frau in dem Costüm zu sehen, das sie sich für das „Atelier“ hergerichtet hatte. Ein rothes Jäckchen, blousenähnlich, wie es bei Malern Mode ist, stand ihr sehr gut, und der gleichfarbige Fez wippte übermüthig auf dem Berg aschblonder Haare hin und her, obgleich er mit einer unsichtbaren Gummischnur wie ein Cereviskäppchen befestigt war. Palette und Malstock in der linken, ein Bündel Pinsel in der rechten Hand, so fuhr sie in dem größten und besten Zimmer, das nach ihrer Meinung zum „Atelier“ gut genug war, hin und her, als ob sie im Begriff wäre auf die Maskerade zu gehen und nur noch auf den Wagen warte. Wie keck sie dann den Pinsel handhabte und zu Beginn der Arbeit mit voller Energie auf die Sache losging! Sie hatte wirklich ein ganz hübsches Talent, dem es nur an stetiger Arbeit fehlte, um sich zu entwickeln und auszudehnen. Aber Marie Sandow und Ausdauer waren zwei Dinge, so weit entfernt von einander wie Nord und Süd. Wenn es nach einer halben Stunde noch nichts wurde, oder lieber gar schon war, dann kam der Unmuth über sie, und sie fing an, mit der Farbe und dem sonstigen Material zu „wirthschaften“, als wenn es sich nur darum handle, recht viel davon zu verbrauchen, um eine große Künstlerin zu sein. Dann flogen das Kremserweiß, der Laque écarlate und andere Farbenblasen bei dem Malkasten vorbei an die Erde und platzten; dann stieß sie mit dem untern Ende des Malstocks die Flasche mit dem Siccatif de Harlem um, die ihren öligen Inhalt fröhlich auf dem Fußboden ausströmte; dann bückte sie sich darnach und warf die ganze Staffelei mit dem Bilde um, das, noch ganz frisch, auf das Gesicht fiel, und es war wirklich sehr amüsant mit anzusehen, wie das glänzende Parquet an der Stelle, wo wir saßen, sich regelmäßig in einen aus lauter kleinen farbigen Steinen zusammengesetzten Mosaikboden verwandelte, auf welchen man nur zu treten brauchte, um ihn weitergehend in einer Art von Naturselbstdruck über das ganze Zimmer zu verbreiten.

Zuweilen kam der sehr peinliche Eduard in dem Augenblicke hinzu, wo die Katastrophe hereinbrach, und er konnte sich dann dem komischen Eindrucke natürlich nicht entziehen, den solche Vorfälle auf den Unbetheiligten immer hervorrufen. Zuweilen kam er aber auch erst später und sah die traurigen Folgen der Katastrophe allein; das machte sich dann viel weniger komisch, und ich erhielt auf diese Weise Gelegenheit, zu bemerken, daß er nicht immer lächelte. – –

Es mag zu jener Zeit gewesen sein, daß ich von dem Schöngeiste den Auftrag erhielt, die Augen nach dieser Richtung hin ein Bischen aufzumachen. Ich that es und kam sehr bald zu der Ueberzeugung, daß die junge Frau wirklich nicht zu den „eigensten“ zu gehören schien. Das rothe Jäckchen bekam auch schon ein recht mosaikähnliches Ansehen; aber das wäre noch das Wenigste gewesen. Es waren noch andere Sachen da, die, wenn sie auch beim Malen und derartigen Hantierungen regelmäßig schmutzig wurden, sich doch sehr leicht wieder reinigen ließen und die augenscheinlich seltener und oberflächlicher diesem Processe unterzogen wurden, als es sonst in guter Gesellschaft Sitte ist. Ich machte noch ähnliche Bemerkungen anderer Art, die ich nicht unerwähnt lassen will.

Es war zu jener Zeit eine Ausstellung vor der Thür, auf welcher die zeichnenden und malenden Damen der Residenz einmal „unter sich“ sein wollten. Die Idee war sehr glücklich, wurde von einer Prinzessin und anderen sehr hochgestellten Damen unterstützt und rief in allen Damen-Ateliers den unzähmbarsten Eifer hervor. Die junge Frau lebte und dachte wochenlang nur „in Oel“, und es war eine ziemlich schwierige Periode für mich, ehe wir mit den zwei Bildern, welche sie angemeldet hatte, fertig waren. Wir waren glücklich bei den letzten Retouchen angelangt, und es handelte sich darum, sie so gut wie möglich anzubringen. Meine Schülerin war Feuer und Flamme; es galt ja, den geliebten Mitschwestern einen Theil des geträumten [710] Triumphes zu entziehen. Ich saß neben ihr und gab ihr die Farben an, welche sie für die Lasur ihres Vordergrundes brauchte. Ihre Wangen glühten; unruhig rückte sie auf ihrem Stuhle hin und her, und nach vorn gebeugt, den Fuß auf die untere Leiste der Staffelei gesetzt, machte sie die Probe mit dem Pinsel auf dem trockenen Bilde.

„O, vortrefflich! … Wie es leuchtet! … Diese Kraft! Ach, wenn ich eine Medaille bekäme, ich wäre die glücklichste der Frauen!“

Aber was war das für ein Geräusch, das in ihre Worte hineintönte? War es ein Rascheln? Nein, es war der kleine Pantoffel von russischem Juchten, der ihr vom Fuße glitt; er fiel zu Boden. Aber nein, es raschelt doch! und – Gott steh’ mir bei! … da ist sie, die Schlange, da sieht sie hervor mit der Schwanzspitze! Wo? Da, unter dem Saume des grauseidenen Kleides, an der Stelle, wo die Schnur des Besatzes abgerissen und weit nachschleppend herunterhängt. Wahrhaftig! Da ist sie!

In meinem Schreck hatte ich nicht bemerkt, daß Eduard Sandow leise in das Zimmer getreten war. Da hörte ich plötzlich einen tiefen Seufzer, der fast einem schmerzlichen Stöhnen glich, und als ich meine Augen von dem Ungethüm abwandte, um dahin zu sehen, woher dieser Ton kam, da sah ich, daß seine Blicke entsetzt auf dem Punkt ruhten, den die meinen soeben verlassen hatten. In meiner Verlegenheit gab ich meiner Schülerin einen sehr confusen Rath, den sie im Begriff war zu befolgen, als sie endlich zu bemerken schien, daß ihr Gatte sie fortwährend leise anstieß, wodurch sie schon zweimal mit ihrem Pinsel ein wenig ausgerutscht war. Sie wurde unmuthig und sagte: „Ach, bitte, störe mich jetzt nicht, Eduard! Es ist gerade ein sehr wichtiger Moment.“

„Das ist es allerdings, mein Kind, und deshalb muß ich Dich eben stören!“ antwortete er, und seine Stimme zitterte ein wenig.

„Es wird wieder eine schöne Kinderei sein, Eduard,“ sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, sonst hätte sie bemerken müssen, daß er den Wunsch hatte, ihr pantomimisch etwas klar zu machen. Ich fühlte es deutlich; und doch sah ich ihn ebenfalls nicht an.

„Es ist insofern allerdings eine Kinderei, als ich Dich bitten wollte, doch lieber Deinen Schuh anzuziehen, der … an der Erde liegt.“

Während er diese Worte sagte, in denen seine Stimme noch mehr in ein leises Fiebern fiel, war ich aufgestanden, um mir am andern Ende des Zimmers irgend ein lächerliches Gewerbe zu machen. Ich konnte nicht sehen, ob sie, seinen Pantomimen endlich folgend, ebenso erschrak, wie wir Beide; aber ich glaube es nicht, denn sie antwortete sehr ruhig und ohne sich Mühe zu geben, den Klang ihrer Stimme zu dämpfen: „Nun, das ist wieder ein großes Unglück! Es ist unrecht von Emilie … daß sie nicht achtsamer ist!“

Jetzt schien die Geduld des armen Mannes zu reißen, denn er gab dem Schemel, auf welchem der Malkasten stand, einen so heftigen Stoß, daß er auf dem glatten Parquet bis halb zu mir hingeschlittert kam, wo er sich einen Augenblick besann, ob er umfallen sollte, und es dann wirklich that. Dazu sagte Eduard ziemlich heftig: „Die Entschuldigung sieht Dir ähnlich. Es ist unrecht von Dir, und nicht von dem Mädchen.“

„Ich finde es wirklich nicht hübsch, wenn ein Mann sich nicht zu beherrschen weiß,“ antwortete sie, nun ihre Stimme ebenfalls etwas erhebend.

„Und ich,“ rief er zornig, „finde es noch weniger hübsch, wenn eine Frau, eine junge Frau, sich … in dem Maße vernachlässigt.“ Dann ging er zum Zimmer hinaus, und machte wieder die Thür so hinter sich zu, wie es artigen Kindern verboten ist, sie zuzumachen.

Ich hatte mich unterdeß beschäftigt, den Inhalt des Malkastens wieder aufzulesen, wobei ich halblaut (ich bin Junggeselle) ein Liedchen vor mich hinsummte. Als ich zu meiner Schülerin wieder herantrat, war sie eben so fleißig mit ihrer Lasur beschäftigt wie vorhin. Nicht die geringste Erregung war an ihr zu bemerken. Sie sah ruhig zu mir auf und sagte lächelnd: „Ich glaube, ein wenig mehr Jaune capucine würde die Lasur noch leuchtender machen.“

[723]
3.

Einige Wochen später (es war über die Medaille noch nichts entschieden und die Aussichten waren meiner Meinung nach verzweifelt dürftig), einige Wochen später tauchte das Gerücht auf, daß die Firma „Friedrich Mannstein’s Gummiwaarenfabrik“ fallirt habe. Es bestätigte sich nur zu bald durch die öffentliche Bekanntmachung des Concurses. Natürlich kam Robert Fürst zu mir und war sehr erregt über die Nachrichten, die er mitbrachte.

„Sie haben ihn tüchtig heranbekommen, den armen Eduard,“ sagte er; „nicht etwa, daß er Geld in das Geschäft gegeben hätte, das er verliert, nur insofern, als er jetzt sicher ist, keinen Pfennig von der in Aussicht gestellten Mitgift seiner Frau zu erhalten.“

„Nun, das ist ein Unglück, für das Niemand kann,“ sagte ich beschönigend; „und er wird es tragen müssen.“

„Er wird es tragen müssen, gewiß,“ fuhr Robert Fürst fort, „und es wird ihn nicht umbringen. Aber glauben Sie, daß sehr viel Tröstliches für ihn in der Entdeckung liegen wird, daß das brave Haus schon bankerott war, als wir jene Hochzeit mit dem Couvert zu drei Thaler und allem sonstigen unnützen Luxus feierten?“

„Aber das wäre ja fast Betrug!“ antwortete ich zweifelnd.

„Es ist Betrug,“ fuhr der Schöngeist erregt fort; „ganz beweisbarer Betrug, gegen ihn wenigstens. Sie haben ihm eine Falle gelegt, und er ist einfältig genug gewesen hineinzugehen.“

„Glauben Sie, daß er sie des Geldes wegen geheirathet hat?“

„Gewiß nicht, aber Geld verdirbt nie etwas, selbst die beste Sache nicht. Sie haben ihn getäuscht, schlau getäuscht, und ich bin überzeugt, daß der adelige Artilleriehauptmann nicht daran gedacht hat, sie heirathen zu wollen. Es war nur eine für meinen schönen Vetter berechnete Attrape.“

„O, o!“ mußte ich lachen; „Sie gehen wieder zu weit. Glauben Sie, daß diese jedenfalls nicht angenehme Entdeckung Einfluß haben wird auf das Verständniß Ihres Vetters zu seiner Frau?“

„Was ist da noch viel Einfluß nöthig?“ sagte der Schöngeist, mit den Achseln zuckend; „von Seiten der Geldfrage glaube ich nicht. Eduard hat sehr viel Glück gehabt in seinen Unternehmungen und wird in kaufmännischen Kreisen für sehr ‚fein‘ gehalten. Das Geld würde er gern entbehren, wenn er damit den Schein des Dupirtseins von sich abwenden könnte. Wenn ich ihn richtig beurtheile, so wird er in der nächsten Zeit sich mehr als je mit seiner Frau zeigen und sie auffallend artig und liebevoll behandeln. Lassen Sie sich durch diese Veränderung nicht täuschen; es geschieht nur, um jenen lächerlichen Schein von sich abzuwenden. Der Zwang, den er sich auf diese Art der Welt gegenüber auferlegen muß, wird eine Reaction in seinem Betragen ‚zu Hause‘ naturgemäß hervorrufen, und ich glaube nicht, daß der häusliche Friede dabei besonders gewinnen wird.“ –

Der Schöngeist schien ein recht guter Menschenkenner zu sein, denn seine Vorhersagungen trafen auf den Buchstaben ein. Eduard trug den „Schlag“ mit großer Resignation und nichts deutete darauf hin, daß er die Nebenumstände aus jenem für ihn unangenehmen Lichte betrachte. Zum Glück war das eigene Vermögen der Frau Mannstein für sie und ihre noch unversorgten Kinder ausreichend. Es waren ein paar große Festlichkeiten in seinem Hause, bei denen die junge Frau sich wieder von ihrer vortheilhaftesten Seite zeigte. Es sollte nicht lange währen.

Die einzige Leidenschaft, welche Eduard hatte, war das Billardspiel, und da er das Wirthshaus nicht liebte, hatte er in seinem Hause dafür Sorge getragen, ihr fröhnen zu können. Es war ein Tag in der Woche festgesetzt, wo seine Freunde bei ihm zusammenkamen, um ein paar Partien Boule zu spielen. Die junge Frau war an diesem Tage regelmäßig in ihrer Familie; die Männer blieben unter sich, und es wurde um neun Uhr kalt gespeist und Bier dazu getrunken. Diese Abende waren natürlicherweise sehr lustig und es wurde an ihnen manch tüchtiges Gelächter erweckt, das nie an den Tag gekommen sein würde, wenn die Herren nicht „unter sich“ gewesen wären. So war es an dem Abend, der ein neues Licht in das geheimnißvolle Dunkel des Verstecks werfen sollte, in das sich das Ungethüm, die Schlange, schon so lange zurückgezogen hatte. Robert Fürst war sehr ausgelassen; die Nase juckte ihm fortwährend, und er knüpfte daran, daß ihm der Sage nach aus diesem vulgären Umstand „etwas Neues“ kommen müsse, ein paar kleine Berichte von Erlebnissen, die er bei derselben Gelegenheit gehabt hatte. Sie waren sehr komischer Natur, riefen große Heiterkeit hervor und die Zeit zur Abendmahlzeit war auf diese Art schneller herangekommen als sonst. Die Boule war zu Ende, und als wir in das Speisezimmer traten, fanden wir zwar den Tisch gedeckt, aber nichts [724] von den kalten Speisen darauf, die uns sonst so einladend begrüßten.

„Oho!“ rief Eduard Sandow lachend, „die Frauensleute haben wieder die Uhr nicht im Kopf. Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Herren!“ und er ging, um nach der Ursache der Verzögerung zu sehen.

Ich war mit einem der Gäste bei einem interessanten Thema und bemerkte nicht, daß der Schöngeist ebenfalls das Zimmer verlassen hatte. Unser Wirth blieb ziemlich lange aus, und kurz vor ihm sah ich Robert Fürst zurückkommen. Er machte mir ein kleines, fast unmerkliches Zeichen und flüsterte mir im Vorübergehen zu: „Gesehen! in Lebensgröße; ein selten schönes Exemplar!“

Gleich darauf trat Eduard in das Zimmer und sagte lachend: „Es ist, wie ich gesagt habe – die Uhr geht nach, ist sogar stehen geblieben. Sie müssen sich schon noch ein Viertelstündchen gedulden. Wir wollen noch fünfzig zuschreiben.“

Es würde mir unter anderen Umständen vielleicht nichts an seinem Benehmen aufgefallen sein. Aber darauf vorbereitet, daß etwas passirt sei, bemerkte ich, daß er auffallend blaß war und daß sein Lachen einen seltsamen unheimlichen Klang hatte. Als wir wieder in das Billardzimmer zurückgegangen waren, um noch eine kurze Partie zu machen, zitterte seine Hand so heftig, daß seine Queue eine Zeitlang den Ball umfuhr, ohne ihn zu treffen. Er bat seinen Vetter für ihn zu stoßen, indem er seine linke Hand auf seine Brust legte.

„Mein Herzklopfen wieder einmal und besonders heftig!“ sagte er schwach; „entschuldigt mich! Es geht gleich vorüber.“

Es ging vorüber, nachdem er ein Glas Wasser hinuntergestürzt hatte, und bald daraus rief man uns zu Tische. Wir hatten Alle tüchtigen Appetit, nur unser Wirth aß wenig. Er trank dafür mehr als die Anderen, was ich früher nie bei ihm bemerkt hatte. – – –

„Es ist schlimmer als ich glaubte,“ sagte der Schöngeist, als er seinen Schlaftrunk bestellt hatte, der an dem Abend ausnahmsweise aus einem Glas Punsch bestand. „Es ist verachtungswürdig, daß ich lauschte, ich weiß es; aber warum juckte diese unglückliche Nase so, und warum sagte sie mir noch außerdem ganz deutlich, daß die Neuigkeit von ‚dieser‘ Seite kommen müsse!? Als mein Vetter das Zimmer verließ, drängte es mich, mir ein Reservetaschentuch aus meinem Ueberzieher zu holen. Die Garderobe stößt dicht an die Küche, und als ich die ersten Worte dessen hörte, was dort verhandelt wurde, da war jeder Rest von Scham in mir erstorben. Ich fuhr fort zu lauschen.

‚Was soll das heißen, Emilie,‘ sagte die Stimme meines Vetters unmuthig; ‚es ist zehn Minuten über Neun! woran liegt es?‘

‚Es ist nicht meine Schuld, Herr Sandow,‘ antwortete das Mädchen, und seine Stimme klang ängstlich und trostlos, ‚es ist nicht meine Schuld – werden Sie nicht böse – ich habe mich selbst schon so sehr abgeängstigt.‘

‚Nicht Ihre Schuld? abgeängstigt? Was reden Sie für Unsinn, Emilie!?‘ rief Eduard zornig.

‚Ich hätte gewiß Alles besorgt, wie immer – wenn Madame – sie wollte Geld schicken – aber sie schickte keins und – werden Sie nicht böse, Herr Sandow! Es ist nicht meine Schuld; der Fleischwaarenhändler wollte nicht mehr – borgen.‘

‚Emilie!‘ donnerte die Stimme des unglücklichen Mannes; sie donnerte wirklich, und es war wohl nicht zu verwundern. ‚Emilie! wie können Sie so schamlos sein, mir in’s Gesicht zu sagen, daß – meine Frau Sie bei den Lieferanten borgen heißt?‘

Das arme Mädchen schluchzte vernehmlich: ‚Ich hätte es Ihnen gern erspart, so gern, aber ich konnte nicht mehr auslegen, weil ich meinen Lohn – o, werden Sie nicht böse! Es ist nicht meine Schuld.‘

Das Mädchen weinte heftig, und ich hörte einen Augenblick nichts weiter als ihr Schluchzen und das Klopfen von meines Vetters Herzen, was aber von meinem eigenen herrührte, wie ich im nächsten Moment entdeckte.

‚Hier ist Geld, Emilie,‘ sagte der Unglückliche nach einer kurzen Pause, und ich werde den Klang seiner Stimme nie vergessen ‚hier ist Geld! Weinen Sie nicht! Seien Sie still und besorgen Sie Alles schnell, und seien Sie ein gutes Mädchen und machen kein Aufsehen, und – o, o!‘ ich sah ihn deutlich nach seinem armen Kopfe fassen, ‚und nun ein vergnügtes Gesicht machen, mein Gott! nun ein ver–‘

Einen Augenblick später streifte ich an Ihnen vorüber, mit den Worten: ‚Gesehen, in Lebensgröße!!‘“ –

Wir saßen eine Weile schweigend da, und ich versuchte, mich schaudernd in die Lage des unglücklichen Mannes zu versetzen.

„Es ist grauenhaft,“ fuhr Robert Fürst dann fort, „viel grauenhafter noch, als es selbst Ihnen den Eindruck macht. Man muß den armen Mann kennen, wie ich ihn kenne, um es ganz zu fassen; er ist so stolz. Selbst als junger Mensch hat er nie einen Groschen Schulden gehabt; er hatte darüber mehr als philiströse Ansichten; er nannte es geradezu unanständig. Und nun beim Fleischwaarenhändler, also auch bei anderen keinen Leuten. Wenn es eine Rechnung von fünfhundert Thalern bei Gerson oder Friedberg wäre, er würde sie mit Freuden doppelt bezahlen. Beim Fleischwaarenhändler, in seiner Gegend natürlich – er ist verloren! Er kann es unmöglich ertragen; er läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach den Bart abschneiden, damit ihn Niemand kennt. In jedem Menschen, der ihn von heute an ansieht, wird er einen Gläubiger seiner Frau wittern – im Betrage von zwölf und ’nem halben Sibergroschen. Es ist grauenhaft, grauenhaft, und wenn ich auch manchmal dachte, daß ihm etwas nicht schaden könne, das ist bei Gott zu viel, zu viel. Der arme Mann, der arme Mann.“



4.

Ich hatte Berlin im Frühling des Jahres 186* verlassen und den ganzen Sommer auf dem Lande zugebracht. Erst im September kehrte ich nach der Stadt zurück, die mir in den ersten Tagen jenen traurigen, die Brust beklemmenden Eindruck machte, den wir immer empfinden, wenn wir lange die entzückende Luft von Feld und Wald geathmet haben. Ich konnte mich nicht hineinfinden, und machte in der ersten Woche noch täglich Excursionen in die Umgegend, um mich nach und nach einzuwohnen in das dunstige Babel.

Gleich in den ersten Tagen hatte ich Robert Fürst meinen Besuch machen wollen. Ich traf ihn nicht; auch er hatte einen Ausflug gemacht und wurde erst Ende der Woche zurückerwartet. Aber ich traf früher mit ihm zusammen.

Es war auf einem der kleinen Dampfer, welche die Oberspree nach Köpnick zu befahren. Ein grauer, aber noch recht warmer Herbsttag; die Luft weich und ein wenig neblig, so daß die wunderlichen pittoresk-alterthümlichen Hintergebäude, welche die Spree jenseits der Jannowitzbrücke einfassen, sich, in ihr verlierend, seltsame, burgähnliche Gestalten annahmen, die sich in dem leise dampfenden Wasser spiegelten, wo es nicht dicht bedeckt war von eng beieinanderliegenden Fahrzeugen aller Art. Der Dampfer war wenig besetzt, und in der frühen Morgenstunde waren die Brücke, das Geländer und die äußeren Wände der Kajüte etwas feucht. Alles war übersäet mit Millionen kleiner mikroskopischer Thautropfen. Acht Uhr hatte es ausgeschlagen auf dem Glockenthurm der Stralauer Kirche, und der Capitain war im Begriff das Zeichen zur Abfahrt zu geben, als er noch gewohnheitsmäßig einen Blick auf die höher liegende Brücke warf, um nach einigen, vielleicht verspäteten Passagieren zu sehen. Wirklich kamen noch mehrere die Treppe athemlos herab und sprangen auf den Dampfer, der sich schon bewegte, und der letzte von diesen war Robert Fürst. Als er mich bemerkte, kam er, ohne besonders erstaunt zu sein, auf mich zu, aber es war etwas in seinem Wesen, das mich betroffen machte.

„Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind,“ sagte er, mir die Hand reichend; „es ist angenehmer bei solcher Gelegenheit zu Zweien zu sein.“

„Bei welcher Gelegenheit?“ fragte ich verwundert.

„Sie wissen nichts? sind also zufällig auf dem Dampfer?“ sagte er schwer athmend.

„Ich will einfach einen Tag im Freien zubringen, in Treptow oder auf dem Eierhäuschen,“ antwortete ich; „aber was ist es?“

„Es ist nur – – ich glaubte Sie wüßten es,“ und er starrte bei diesen Worten in seltsamer Art in die Wellen, welche die Schraube des Schiffes aufwarf; „es ist nur – Eduard Sandow, [725] mein Vetter, ist gestern auf dem Müggelsee beim Segeln – ertrunken.“

Ich wußte nicht, in welcher Art die Umstände mich darauf vorbereitet hatten; ich hörte das Wort, ehe es ausgesprochen war, und als es wirklich erklang, schien es mir eine Täuschung zu sein.

„Ertrunken?“ sagte ich endlich, und auch mein Athem brach sich jetzt schwer Bahn; „ertrunken? wirklich ertrunken?“

„Ja,“ erwiderte der Schöngeist, „so heißt es, und ich glaube es auch – und im Seglercasino in Stralow glauben sie es auch.“

Und er sah immer noch in die Wellen, die, zu beiden Seiten des Schiffes aufsteigend, sich hinter ihm in eine breite, durcheinander wirbelnde Furche fügten.

„Weiß die arme Frau schon davon?“ fragte ich nach einer Weile.

„Meine Mutter ist in diesem Augenblick wohl dabei, sie vorzubereiten. Ich kam gestern Abend von der Reise, und heute Nacht vier Uhr wurde ich herausgeholt durch den Ueberbringer der Depesche. Ein Bekannter von ihm, der ein paar hundert Schritt von ihm segelte, sandte mir die Nachricht von dem Unglück.“

„Ich war länger als vier Monate von Berlin entfernt. Sind noch besondere Umstände hinzugetreten?“

„Es konnte nicht gut schlimmer werden,“ antwortete er mir, „aber es wurde es dennoch. Sie vernachlässigte sich immer mehr und die Wirthschaft dazu. Es ist in dieser Stimmung peinlich, davon zu sprechen; nehmen Sie deshalb mit ganz kurzen Sätzen vorlieb. Ein Diner bei Sandow zu Ehren eines auswärtigen Geschäftsfreundes. Nur Kaufleute, darunter ein Neider seines Glücks, der schon oft versucht hatte, ihm Ungelegenheiten zu bereiten. Mein Vetter sieht ihn auffallender Art sein Besteck untersuchen. Sie essen Alle mit Alfenide; das Silberzeug war – versetzt. Wechsel von ihr, auf seinen Namen ausgestellt, coursirten in den Händen der berüchtigtsten Halsabschneider, und er glaubte seinen kaufmännischen Credit untergraben.“

„Hat man eine Ahnung, wo das entsetzliche Weib – das Geld gelassen hat?“ fragte ich kopfschüttelnd.

„Eine Ahnung, ja! Gewisses? nein! Die Familie, ihre eigene schlechte Wirthschaft, der Bruder, der saubere Bursche mit dem ‚Ende vom Liede‘, mögen sich wohl darin getheilt haben. Auch munkelt man“, setzte er nach einer Weile leiser hinzu, „von einer Jugendliebe. Ein langhaariger Musikant, der ihr ein Heft Lieder gewidmet und der sie drei Jahre vor ihrer Verbindung mit Eduard heimlich hatte entführen wollen. Es wurde unglücklicher Weise durch einen Zufall verhindert, und er soll seitdem sehr heruntergekommen sein.“

„Hat das Schicksal Ihrem armen Vetter auch die Kenntniß dieses Umstandes nicht erspart?“ fragte ich weiter.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Schöngeist; „aber es wäre unlogisch, wenn es das gethan hätte, und das Schicksal ist niemals unlogisch.“

„Das Ende vom Liede ist grausam, lieber Freund,“ rang es sich aus meiner gepreßten Brust, „fürchterlich grausam!“

„Das Leben ist immer grausam,“ antwortete er nachdenkend; „sehen Sie, wohin Sie wollen! Unerbittlich, Zoll für Zoll treiben die Ereignisse den Menschen dahin, wo sie ihn haben wollen. Und wenn er gebrochen und widerstandslos daliegt am Boden, dann kommen die Menschen und sagen achselzuckend: ‚Er verschuldete es selbst!‘ Von wo ihm aber die Eigenschaften gekommen, denen folgend oder widerstrebend er seinem Schicksal anheimfiel – danach fragt Niemand – es ist ganz gleich, der Arme unterlag. Glauben Sie mir, wenn mein armer Vetter den Augenblick, den wir Alle einmal durchleben müssen, allein mit unserem Gott, früher herbeiführte, als er ihm körperlich vielleicht bestimmt war, so that er es, es klingt paradox, nur aus Furcht. Ein normaler Mann würde sich von – von der Person haben scheiden lassen; das war ein Ausweg, der für Eduard verschlossen blieb. Eine Scheidung, das Gerede, die Umstände, die dabei an’s Licht kommen mußten, das war ein Gedanke, dem er nicht in die Augen sehen konnte. Und so setzte er seinen Fuß tastend in die Leere, in das Nichts, vor dem die muthigsten Männer beben, er, der Schwächling.“

„Woher kam ihm die Furcht, der all seine Fehler, der all sein Leid entsprang? Sagen Sie es mir! Es peinigt mich; woher kam sie ihm?“

Das Dampfboot war unterdeß an den verschiedenen Stationen nach kurzem Aufenthalt vorüber geglitten und ging jetzt seinem Ziele, dem Städtchen, entgegen, dessen Thürme bei dieser Wendung des Flusses uns zu Gesicht kamen. Ohne daß wir es weiter berührten, war ich entschlossen, den Vetter Eduard Sandow’s zu begleiten. Es galt ja, ihn aufzufinden, aufzufinden in dem großen, eine halbe Meile langen See, in dem so viel Wasser ist, daß man ganz Berlin darin versenken könnte.

Robert Fürst schien meine Gedanken zu errathen, denn er sagte plötzlich: „Ich weiß es auch nicht, wie wir es anstellen sollen. Wenn nicht einige von den befreundeten Bootsbesitzern da sind, bin ich so rathlos, wie ein Kind. Der große See, und …“

„Hatte Sandow früher schon eine Leidenschaft für das Segeln?“ fragte ich, als wir im Begriff waren, anzulegen.

„Nein,“ antwortete mein Begleiter, „sie kam erst im vorigen Herbst. Es zog ihn wohl hinaus, oder er wollte es dadurch einleiten. Sie hätten ihn in den letzten Monaten sehen sollen! Er fing schon an, seiner Frau ähnlich zu werden, war häufig unbarbiert und gar nicht mehr so ängstlich, wenn sein Oberhemd einmal grauer war als gewöhnlich. Im vorigen Jahre begann er mit einem Freunde zu segeln, um sich die nöthige Kenntniß zu erwerben. Im Frühjahre kaufte er selbst ein Boot und fuhr noch mehrere Monate mit einem tüchtigen Gehülfen zusammen. Seit acht Wochen soll er immer allein hinausgegangen sein, und zwar oft bei Wetter, bei dem Alle zu Hause blieben. Davor hatte er keine Furcht.“ – –

Wir stiegen aus, da das Dampfboot wegen niedrigen Wasserstandes seine Fahrt nicht weiter fortsetzen konnte, und gingen durch die kleine Stadt in der Richtung des Müggelsees. Ich kannte den Weg von Ferienexcursionen her, die ich als Knabe gemacht, und es war mir zuweilen, als sähe ich mich vor mir her gehen mit der grünen Botanisirtrommel und dem heimlichen Streichschwamm zu der verbotenen Cigarre. Als wir die letzten Häuser des Städtchens hinter uns hatten und nur ein paar hundert Schritte sandigen Weges uns von der Kiefernhaide trennten, hatte sich der Nebel langsam in einen feinen, aber dichten Sprühregen aufgelöst, ähnlich dem, der an Sandow’s Hochzeitstage in den Kranz der Braut gefallen war. Nur war die Luft warm und mild heute, und die Erde hauchte den balsamischen Duft aus, den der Regen ihr nach langer Dürre so reich entlockt. Das Bild begann mehr und mehr sich in einen Localton umzustimmen, aus dem nur im Vordergrunde ein wenig spärliches Grün am Boden und die röthlichen Kiefernstämme mit ihren dunkeln Kronen hervorstachen. Als wir an den Saum des Waldes gekommen waren, erhob sich von den ersten Bäumen eine Schaar schwarzer Krähen schreiend und durcheinanderschießend in die Luft und flog ein Stück Weges uns voran, einen neuen Ruheplatz zu suchen. Es durchschauerte mich, als wir, unsern Weg fortsetzend, die dunkle Gesellschaft zum zweiten und dritten Male aufjagten und sie uns immer mit ihrem heisern Geschrei voranflog und uns dann wieder erwartete, als wollte sie uns den Weg zeigen. Es wurde mir fast leichter um’s Herz, als sie sich endlich von uns trennte, und ihren Weg in gerader Linie fortsetzte, während wir links nach unserm Ziel, der Müggelbude, abbogen. – –

Ich komme nun zu traurigen Bildern, und ich möchte bei ihrer Ausführung den Grundsatz der alten Meister befolgen, im Schatten so wenig wie möglich zu zeichnen.

Es waren mehrere von Eduard’s Bekannten mit ihren Booten an Ort und Stelle, als wir ankamen, und auch Fischer aus der Umgegend hatten sich eingefunden, weil sie wußten, daß sie gebraucht würden. Sie hatten ihn Alle gern gehabt und schüttelten Alle den Kopf, als wollte ihnen die Sache nicht klar werden. Das Boot, das nur gekentert, nicht untergegangen war, hatten sie schon an’s Land gebracht und auch nach seinem Besitzer hatten sie zu suchen angefangen. Die Fischer in ihren langen schmalen Kähnen, die Boote, die sie forschend umkreuzten, die langen Stangen, die langsam in das Wasser hineinfuhren und wieder emporkamen, und alles Das in dem feuchten, grauen Nebel, halb sich abzeichnend, halb verschwimmend, – es war ein trauriger Anblick. Sie mühten sich den ganzen Tag, aber vergebens. Gegen Abend war ein starker Südost aufgesprungen, der sich bald zu einem tobenden Sturme [726] umwandelte; der Regen fiel jetzt in Strömen; die Wellen gingen hoch auf der Müggel und trieben sich gegenseitig in toller Jagd dem sandigen Ufer zu. Es war ein vollständiges Unwetter geworden, und wir waren Alle in das Haus des Fährmanns eingekehrt, wo Robert Fürst und ich ein Unterkommen für die Nacht suchten und fanden. –

Der andere Morgen sah uns nicht so früh auf den Beinen, als wir verabredet hatten. Der Schlaf mußte spät, aber um so fester zu uns gekommen sein, denn als ich beinahe zugleich mit Robert Fürst erwachte, schien die Morgensonne goldig in’s Zimmer und hatte schon Zeit gehabt, die kleinen trüben Fensterscheiben zu trocknen, an die ich im Halbschlafe den Regen unaufhörlich hatte schlagen hören. Wie Alles glänzte und leuchtete, als wir bald darauf hinaustraten in’s Freie. Wie jedes Grashälmchen mit Silber eingefaßt zu sein schien und in seiner schmalen Höhlung einen funkelnden Diamanten barg und ihn hin- und herwiegte, bis er bei dem fröhlichen Spiel noch einmal aufleuchtend hinunterglitt und erlosch! Welche Ruhe, welcher Frieden nun in der ganzen Natur! Die große unendliche Wasserfläche nicht spiegelglatt zwar, aber sich leise melodisch wiegend und zauberhaft erglänzend in Millionen hüpfender und glitzernder Spitzchen. Die Wellen langsam und etwas träge hinaufgleitend auf den Sand, ihn dunkler färbend und mit einem gelblich weißen Saume einfassend, aus welchem breitschaftiges Schilf und die großen runden Blätter der Mummeln smaragdgrün hervorleuchten. Die alten Kiefern, die den sandigen Abhang rechts krönen, in süßer Ruhe nach so vieler Mühe; kein Laut, kein Mißklang in dem harmonischen Bilde; Ruhe überall, Ruhe – nach dem Sturme.

Schweigend und in tiefes Sinnen versunken folgten wir dem schmalen Uferpfade. Da, plötzlich, bei einer Wendung, die er machte, erhob sich von einem alten morschen Weidenstamme die wartende unheimliche Schaar und rauschte schwarz empor in die noch leuchtender erscheinende Luft. Schreiend und durcheinanderschießend schwebten sie einen Augenblick über dem Ufer, als wollten sie sich niederlassen; dann stiegen sie mißtrauisch und sich dichter sammelnd wieder empor und zogen, fliehend vor unserem Schritte, dem Saume des Waldes zu. Unwillkürlich waren wir näher aneinander getreten und hatten gegenseitig des Anderen Hand erfaßt. Einen Augenblick noch folgten wir dem schmalen Pfade; dann waren wir da, und auch da – auch da war Ruhe nach dem Sturme.


Als die Trauerbotschaft zu der jungen Wittwe Eduard’s kam, soll sie aus einer Ohnmacht in die andere gefallen sein und bei ihrem jedesmaligen Erwachen irre Worte gestammelt haben, von ihren Trauerkleidern, wie sie wohl getragen würden jetzt, und ob die Schneiderin auch noch damit fertig werden würde. Sie soll sogar in einem heftigen Anfalle von Verzweiflung etwas von ihrem schönen aschblonden Haar geopfert haben und zwar in dem Augenblicke, als sie erfuhr, daß die tiefgebeugte Mutter sich plötzlich emporgerafft hatte aus ihrem schmerzlich dumpfen Sinnen, um zu verhindern, daß die leblose Hülle ihres todten Lieblings die Schwelle des Hauses überschritte, das er mit dem unabweisbaren Gedanken verlassen hatte, es nicht wieder zu betreten. Sie hatten ihn in das Vaterhaus getragen, und dieser Umstand, verbunden mit dem gar nicht zweideutigen Betragen der Verwandten ihres Mannes, mag Marie Sandow den glücklichen Gedanken eingegeben haben, in irgend eine heftige Krankheit zu verfallen, deren Verlauf ihr das ärztliche Verbot jeder Aufregung als willkommenen Rettungsanker zuwarf. Sie löste dadurch einen bangen Zweifel, der uns Alle beherrscht hatte – wie sie sich wohl in der letzten Stunde benehmen würde und was möglicher Weise aus ihrer Anwesenheit entspringen könne.

Der traurige Tag war gekommen und wir umstanden ihn, um Abschied von ihm zu nehmen. Es war das Zimmer, in welchem die lebensgroßen Bilder seiner Eltern hingen; da schlief er in seinem schwarzen Kleide, von dem man nichts gewahrte vor den unzähligen Kränzen, die es bedeckten. Der Schein der Lichter auf den dunkeln Candelabern kroch flackernd und schwankend an den hohen Palmen und Cypressen empor, die sich von jenseits des Katafalks nach dieser Seite hin die Hände reichten. Ernst und feierlich tönte die Stimme des Predigers, und er mußte ergreifende Worte sprechen, denn der weibliche Theil der Trauerversammlung schluchzte ohne Aufhören. Ergreifender jedoch als diese Worte, die nur undeutlich an mein Ohr schlugen, waren für mich die vier Augen, die stumm und still aus ihren Goldrahmen heraus auf das gebrochene Leben unter sich sahen, das in demselben Zimmer so frisch zu ihren Füßen erblüht war. Ergreifender als Alles aber schien mir die Frau mit den dicken schwarzen Locken, die wieder zweimal da war und deren lebende Ausgabe, gramgefurcht nun und gebeugt, mit thränenlosen und doch so schmerzerfüllten Blicken, einer Niobe gleich in das düstere Bild hineinstarrte.

Als wir eine halbe Stunde später den Kirchhof verließen, wo er nun warm gebettet aller Furcht entrückt war, schlugen wir schweigend den Weg nach der Stadt ein, wohin wir unsern Wagen vorausgeschickt hatten. Als wir durch das altersgraue Thor traten, warf uns gleich das erste Haus eine Schaar tobender Knaben in den Weg, die jauchzend der Nachmittagsschule den Rücken drehten. Melancholisch schob sich der Schöngeist durch den Schwarm hindurch, und melancholisch sagte er, als wir dem dichtesten Schwarm entronnen waren:

„Ist das Lied nun zu Ende, bitte, so sagen Sie es mir!“

Ich sah nicht ab, was noch etwa geschehen könne, und drückte diese Meinung aus.

„Es ist möglich, daß Sie Recht haben,“ antwortete er ernst, „aber es ist so unbefriedigend, so unbefriedigend, und deshalb,“ fügte er nach einem kurzen Nachdenken hinzu, „halte ich es für das Beste, wir nehmen noch einen Schlaftrunk, ehe wir nach Hause gehen.“ – – –

Drei Jahre später – ich hatte mich nach Beendigung einer längeren Studienreise auf eine Zeit in Paris niedergelassen – fand ich, spät in der Nacht nach Hause kommend, einen Brief mit dem Stempel meiner Vaterstadt vor. War es, daß er ungewöhnlich stark und die Handschrift mir unbekannt war, war es ein gewisser feuchter Duft, den er aushauchte (es hatte den Tag über geregnet und die nasse Luft mochte die Tasche des Briefträgers durchdrungen haben), genug, noch ehe ich ihn erbrach, stand jene Nacht und der darauffolgende Morgen in der Müggelbude vor meinen Augen. Ich hatte mich nicht getäuscht; der Brief war von Robert Fürst und lautete kurz:

„Es fehlte noch etwas am Ende vom Liede; ich fühlte es damals genau. Es ist jetzt eingetroffen, nach und nach, und ich habe es kurz und tagebuchartig für Sie aufgezeichnet. Ich glaube, es wird auch Sie befriedigen. Mir wenigstens zieht sich das Herz nicht mehr krampfhaft zusammen, wenn ich an die traurige Geschichte Eduard Sandow’s denke, mit ihrer unerbittlichen Logik, die ihn in den Tod trieb. Es scheint ganz genau gewußt zu haben, was es wollte, das arme, so oft verlästerte Schicksal. Es scheint es überhaupt immer zu wissen. Beste Grüße von Ihrem

Robert Fürst.“

[752] Die Tagebuchblätter, welche, nur auf einer Seite beschrieben, aneinandergeheftet waren und die ich nicht eher aus der Hand legte, als bis ich zu Ende gelesen, lasse ich in der Reihe folgen, die der Schöngeist ihnen gab.




Eduard Sandow hat ein Testament hinterlassen, in welchem er Frau und Mutter zu gleichen Theilen zu Erbinnen seines Vermögens eingesetzt hat. Die junge Wittwe hat nach Verlauf ihres Trauerjahres (die damalige Mode war sehr hübsch, und der schwarze Krepp stand sehr gut zu ihrem feinen Teint) einen jener Privatstallmeister geheirathet, welche eine Reitbahn halten und Unterricht geben. Sie hatte ihn kennen gelernt, als sie sechs Wochen nach dem Tode ihres Mannes zur Stärkung ihrer angegriffenen Gesundheit mit einer gleichgestimmten Freundin einen Cursus bei ihm begann. Er soll ein sehr schöner stolzer Mann gewesen sein, der damals bei den Damen sehr in Mode war und um dessen Besitz sich eine große Concurrenz eröffnete. Sie erinnern sich, daß Concurrenzen eine schwache Seite Marie Sandow’s waren; sie bewarb sich und erhielt in diesem Falle den Preis. Sie ist nun Frau von Fennstein (er ist adelig und war früher Officier; Sie wissen, was das sagen will, und man kann sie häufig im Thiergarten an der Seite ihres Gatten auf einem sehr schönen silbergrauen Zelter sehen.

In der Familie ihrer Mutter sieht es nicht ganz so erfreulich aus. Die zweite Tochter ist (in Folge einer Liebschaft mit einem Schauspieler) ohne Talent zum Theater gegangen. Die beiden Söhne – der Engländer ist schon lange heimgekehrt – liegen der Mutter zur Last und jagen ihr nach und nach das letzte Bischen ihres geringen Vermögens ab. Den jüngern, den von der Hochzeit, sehe ich häufig Abends in diesem oder jenem Wirthshause. Er ist regelmäßig angetrunken und ewig in Geldverlegenheiten.




Meine Tante, die Kriegsräthin, hat schwer durch den Verlust ihres Sohnes gelitten. Sie ist sehr alt geworden, und es hat lange gedauert, ehe sie etwas zur Ruhe gekommen ist. Mit Hülfe des L’hombres ist es endlich einigermaßen gelungen. Nur an den Geburts- und Sterbetagen des Verlorenen war sie regelmäßig in solcher Aufregung gewesen, daß die Partie abbestellt wurde. Sie werden gleich hören, warum. Drei Jahre waren seit Eduard’s Tode vergangen und der traurige Tag wieder vor der Thür, als die Kriegsräthin meine älteste Schwester bat, sie „morgen“ nach dem Kirchhofe zu begleiten, da ihre alte Gesellschaftsdame krank sei.

„Gern, Tantchen!“ antwortete meine Schwester. „Ich wollte so wie so hinausgehen.“

„So sei um sieben Uhr früh am Fenster, mein Kind! Ich werde mit dem Wagen vorfahren,“ fuhr die Kriegsräthin fort.

„Aber um sieben Uhr, Tantchen, Ende September, in Ihren Jahren?“

„Sprich nicht, Kind!“ erwiderte die alte Dame. „Es muß sein. Wir müssen gleich nach sieben Uhr da sein. Vielleicht ist es noch nicht einmal früh genug.“

Als sie am Tage darauf um die genannte Zeit zusammen hinausgefahren waren, soll meine Tante auffallend erregt gewesen sein und fortwährend leise mit sich selbst gesprochen haben. Meine Schwester, deren Gegenwart sie so wenig beachtete, als wenn sie gar nicht da war, wollte die leise gemurmelten Worte, die sie oft wiederholte, endlich verstanden haben. Sie behauptete, sie hätten gelautet: „Ich muß es entdecken, – ich muß es entdecken – ich habe keine Ruhe eher, … und wenn ich den ganzen Tag auf seinem … Grabe bleiben soll.“

Als der Diener am Ende ihrer Fahrt den Wagenschlag geöffnet hatte und sie ausgestiegen und auf die kleine Kirchhofsthür zugegangen waren, verließ ein sehr einfach, aber sauber gekleidetes junges Mädchen den Friedhof und trat zu derselben Thür heraus. Meine Tante fuhr auf sie zu mit einem Schrei, und es soll sehr seltsam ausgesehen haben, wie sie ihre noch immer hohe Gestalt klein gemacht hat, um der Fremden unter den runden Hut zu sehen. Diese soll augenscheinlich den Wunsch gehabt haben, sich dem eindringlichen Examen zu entziehen, aber es gelang ihr nicht. Meine Tante hatte sie mit beiden Händen an den Schultern gefaßt, als wenn sie sie schütteln wollte; sie hatte es aber nicht gethan, sondern das junge Mädchen nur eine Zeitlang stumm angesehen und dann sehr schnell, obgleich mit zitternder Stimme, die Worte hervorgestoßen: „Sie waren es! … Sie waren es! … ich wußte es … ich danke Ihnen … Sie waren es!“ Dann hatte sie ihren Arm unter den der Fremden geschoben und in einem bei ihr seltenen weichen Tone hinzugefügt: „Machen Sie mir die Freude, mein Kind – einer alten Frau – mich noch einmal zu ihm zu begleiten!“ und hatte das junge Mädchen, das noch immer schwieg, willenlos mit sich fortgezogen.

Meine Schwester sagt, daß sie, ihnen folgend, das unbehagliche Gefühl eines Menschen gehabt habe, der deutlich empfindet, daß er mehr als überflüssig ist. Diese Lage war dadurch noch gesteigert worden, daß sie sich von den Beiden nicht entfernen konnte, weil sie den größeren Theil der frischen Kränze trug, deretwegen sie doch hinausgekommen waren. So war sie langsam hinterher gegangen und hatte die Tante noch ein paar Mal wiederholen hören: „Sie waren es! … ich wußte es!“ Weiter war nichts gesprochen worden. Als sie an der Stelle angekommen waren, wo sie ihn vor vier Jahren gebettet hatten, lag der Grabhügel vor ihnen im schönsten Blüthenschmuck, und die alte Dame soll davorgestanden haben mit stummen Thränen im Auge, und ihre Stimme soll immer noch gezittert haben, als sie sagte: „Wie im vorigen Jahr, und vor zweien … Sie waren es – ich danke Ihnen – ich wußte es.“ Darauf hat sie meiner Schwester die Kränze abgenommen, als wenn sie auf einem Nagel aufgehängt wären, und hat sie, sich bückend, an den Seiten des Grabhügels befestigt, augenscheinlich, um nichts zu ändern an dem Schmuck seiner oberen Fläche. Dann war sie auf die Bank gesunken, die zu Seiten des Hügels stand, und hatte die Fremde, auf deren Arm sie sich wieder gelehnt, mit sich niedergezogen.

Meine Schwester wollte den günstigen Moment erfassen, um eine in der Nähe ruhende Freundin zu besuchen, aber ein herrischer Blick der alten Dame hatte sie fest an die Stelle gebannt, wo sie gerade stand. Ein ganz kurzes Schweigen war noch gefolgt, dann hatte meine Tante sich aufgerichtet und mit volltönender Stimme gesagt, als wenn sie zu einer größeren Versammlung spräche und es auch Die hören sollten, die nicht da waren: „Ich bin hart gestraft worden, liebes Kind, sehr hart, und ich trage schwer daran, glauben Sie mir! Welch ein glücklicher Mann könnte er jetzt sein, welch glückliche Mutter ich, wenn ich diesen erbärmlichen Stolz nicht gehabt hätte! Worauf war ich stolz, mein Gott! worauf? War es mein Verdienst, daß Er mich so reich gesegnet hatte!? Er zog zürnend seine Hand von mir, und ich wußte es an dem – Tage, es war die Strafe für meine Schuld, meine Schuld, die uns – Alle unglücklich gemacht hat! Es muß heute herunter von meinem [753] Herzen, ich kann es nicht länger tragen. Lindern Sie mein Leid, Emma, so weit Menschenworte es lindern können! Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir, was ich – Ihnen that!“

Die arme gebeugte Frau nahm so die Schuld auf sich, die doch Der nur trug, welcher da unter dem blumigen Hügel schlief. Das junge Mädchen mußte die Opferfreudigkeit dieses treuen Mutterherzens empfinden, denn es überkam sie plötzlich eine tiefe Rührung, der sie bis dahin glücklich widerstanden hatte. Ihre Thränen stürzten unaufhaltsam hervor, und sie beugte sich nieder zu der alten zitternden Hand, die in der ihren ruhte. Aber sie berührte sie nicht mit den Lippen, wie sie es doch wohl thun wollte, denn die Mutter zog sie an die Brust und hielt die Schluchzende dicht umfangen. Sie merkte jetzt nicht, daß meine Schwester sich nun doch zu ihrer Freundin geschlichen hatte.

Als sie eine Viertelstunde später in den Wagen stiegen, der draußen gewartet hatte, wollte das junge Mädchen den Heimweg fortsetzen, in dem sie auf so seltsame Art unterbrochen war. Aber ohne zu wissen wie, saß sie plötzlich auf den sammtenen Kissen, und noch ein herrischer, nicht mißzuverstehender Blick hatte es bewirkt, daß meine Schwester sich auf dem Rücksitz wiederfand. Im Fond saß die kleine Näherin neben der stolzen Frau.


Das ärmliche, in einer entlegenen Straße stehende Haus hatte sich von seiner Erregung noch nicht erholt und sprach noch immer von der glänzenden Equipage und dem reich galonnirten Diener, der die Näherin aus dem vierten Stock aus dem Wagen gehoben und sie mit dem Hut in der Hand zur Thür geleitet hatte. Die Leute drinnen drehten die Sache nach allen Seiten und konnten nicht in’s Klare darüber kommen, als am andern Tage die Equipage wieder angerollt kam und vor ihrer Thür stillhielt. Eine alte Dame stieg heraus und machte sich langsam daran, die vier Treppen zu ersteigen. Die Geduld der weiblichen Conferenz, welche sich allsobald auf dem Flur eröffnete, wurde auf eine harte Probe gestellt. Eine Stunde war nun schon verflossen, und die dampfenden Pferde warfen noch immer auf derselben Stelle den Kopf in die Höhe und scharrten das Straßenpflaster, daß zuweilen Funken am hellen lichten Tage aufsprühten. Endlich öffnete sich die Thür, die das Geheimniß verbarg, und die alte Dame stieg die Treppe hinunter. An ihrer Seite ging stützend das junge Mädchen; es hatte rothgeweinte Augen und trug in seiner linken Hand ein großes Bündel, das in sehr weißes Linnen geschlagen war. Emma stieg mit der Dame in den Wagen, und ein Zettel an der Hausthür kündigte ein paar Tage darauf an, daß vier Treppen hoch eine kleine Wohnung mit Kochgelaß zu vermiethen sei.

Die große Neuigkeit kam bald auch zu uns, und ich kann Ihnen sagen, ich freute mich wie ein Kind darüber. Ich höre, daß Emma Schulz zu der Kriegsräthin „Mutter“ sagt, und daß diese sie selbst am L’hombretisch nie anders als „meine Tochter“ nennt. Ich erwarte mit Bestimmtheit, daß meine Tante sie adoptirt, und ich gönne es dem braven Mädchen von ganzem Herzen. Nun male ich mir aus, wie der Wiederschein dieser Jugend und das süße Bewußtsein des gesühnten Unrechts neuen Sonnenschein in das dunkle Leben der alten Frau bringen wird. Zuweilen wird wohl die Erinnerung mit ihrer grauen Stiefschwester, der Reue, an der Hand in das Zimmer schweben, und die alte Frau wird ihnen zunickend sagen: „Ich weiß es wohl, ich weiß es, wir könnten so glücklich sein, wenn ich ihrer Verbindung nichts in den Weg gelegt hätte!“ Dann wird das junge Mädchen, wie ich es kenne, wieder zu den Füßen der noch immer Träumenden liegen, und wird, die alten Hände streichelnd, mit gläubigem Lächeln sagen: „Weine nicht, Mutter, weine nicht! Laß uns geduldig warten, bis Gott uns einst vereint, um uns nie wieder zu trennen.“


Vor acht Tagen, als ich aus dem Theater kam, führte mich meine alte, unbesiegbare Gewohnheit in eines der Kaffeehäuser unter den Linden. Das Licht strömte mir beim Eintreten blendend entgegen, und ich irrte rathlos, meine beschlagene Brille putzend, durch das Gewirr der dicht besetzten Tische, als ich mich plötzlich am Arme erfaßt fühlte mit den Worten: „Oho, alter Sohn, rennen Sie die Leute nicht um! Kommen Sie! Hier ist ein Platz frei für Sie.“ Es war Otto Mannstein, den ich erkannte und an dessen Tisch ich schon saß, ehe ich den Gebrauch meiner Augen wieder erhalten hatte. Er sah ziemlich reducirt aus und freute sich außerordentlich mich zu sehen.

„Sie haben mir einen tüchtigen Stein vom Herzen genommen,“ sagte er, dicht zu mir heranrückend. Leiser sprechend fuhr er fort: „Ich bin hier versetzt; ein Freund, der einen andern Freund hier suchte und nicht fand, ist fortgegangen, um Geld zu holen; aber ich fürchte, daß er nichts aufgetrieben hat, und so sitze ich schon seit drei Stunden hier und trinke ein Glas nach dem andern, obgleich die Kellner anfangen, verdammt bedenkliche Gesichter zu schneiden. Es mußte geradezu ein Wunder geschehen, und es war da, als Sie eintraten und auf mich zukamen. Nur zwei Thaler bis morgen oder übermorgen.“

Ich schob ihm erstaunt das Gewünschte in die Hand, und er bestellte augenblicklich sehr lärmend zwei Gläser Grog.

„Sie erlauben doch?“ sagte er, sich wieder zu mir wendend, „er ist vortrefflich, aber theuer. Ich bin schon bei dem fünften Glase.“

Man merkte es. Er widerte mich an, denn er duftete nach Alkohol, wie ein Sonnenbruder. Sein lärmendes Wesen zog Aller Blicke auf uns, und ich machte schon Miene, mich wieder zu entfernen. Aber ich vermochte es nicht, ohne nach seiner Schwester, der Frau von Fennstein, gefragt zu haben.

„Oho!“ rief er lachend, „der geht es gut, sehr gut. Sie wissen ja: ‚Je größer der Strick – je größer das Glück.‘ Sie hat das schöne Geld bekommen, und ihr zweiter Mann ist ein ganzer Kerl, der sich vor dem Teufel nicht fürchtet. Sie selbst ist noch ganz die Alte; noch ebenso salope wie früher, ebenso. Nur Eines fiel mir als neu an ihr auf, als ich sie das letzte Mal sah, ha ha ha! und ich wünschte ihr aufrichtig Glück dazu, ha ha! Sie hatte – verweinte Augen.“


  1. Vorlage: „Freudinnen“