Textdaten
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Autor: Karl Kraus
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Titel: Das Ehrenkreuz
Untertitel:
aus: Die Fackel, Doppel-Nummer Nr. 272—273, X. Jahr, S. 2–5
Herausgeber: Karl Kraus
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 15. Februar 1909
Verlag: Die Fackel
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: scans auf commons
Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936«
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Das Ehrenkreuz.


[2] In Österreich gibt es für junge Mädchen, die sich dem Laster in die Arme werfen, eine Klimax der Strafbarkeit. Man unterscheidet Mädchen, die sich der unbefugten Ausübung der Prostitution schuldig machen, Mädchen, die fälschlich angeben, daß sie unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehen, und schließlich Mädchen, die zwar zur Ausübung der Prostitution, aber nicht zur Tragung eines Ehrenkreuzes befugt sind. Diese Einteilung wirkt auf den ersten Blick verwirrend, aber sie entspricht durchaus den tatsächlichen Verhältnissen. Ein Mädchen, das einem Detektiv bedenklich schien — nichts scheint in Wien einem Detektiv bedenklicher als ein Mädchen —, gab an, sie stehe unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Sie hatte sich einen Scherz erlaubt, aber man ging der Sache nach. Da sich ihre Angabe als unrichtig herausstellte, wurde sie wegen unbefugter Ausübung der Prostitution in polizeiliche Untersuchung gezogen. Da sich aber dieser Verdacht als ungerechtfertigt erwies und sich also herausstellte, daß das Mädchen überhaupt nicht Prostitution treibe, so erhob die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen Falschmeldung. Das Mädchen hatte sich, wie es in [3] der Anklage hieß, »gegenüber dem Detektiv eine soziale Stellung angemaßt, die ihr nicht zukam«. Sie trieb weder erlaubte noch unerlaubte Prostitution, sie war also eine Schwindlerin, und nur weil sie bei der Verhandlung auf die Frage des Richters, was sie sich dabei gedacht habe, die Antwort gab: »Nichts«, entging sie der Verurteilung. Um also zu rekapitulieren: Sie hatte behauptet, sie stehe unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Da das eine Unwahrheit war, wurde sie unter dem Verdachte des unsittlichen Lebenswandels in Untersuchung gezogen. Sie konnte nun zwar beweisen, daß sie nicht unsittlich genug sei, um einen unsittlichen Lebenswandel zu führen, aber sie konnte doch wieder nicht beweisen, daß sie sittlich genug sei, um unter sittenpolizeilicher Kontrolle zu stehen. So blieb nichts übrig, als sie wegen Falschmeldung anzuklagen, wegen deren ja schließlich auch die Mörder in Österreich verurteilt werden, wenn man ihnen den Mord nicht nachweisen kann. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Wenn ein Mädchen zur Ausübung der Prostitution befugt ist, so könnte es vorkommen, daß sie es verschweigt und schwindelhafter Weise vorgibt, sie sei zur Ausübung der Prostitution nicht befugt. Sie würde sich also einen unsittlichen Lebenswandel anmaßen, den sie nicht deshalb führt, weil sie dazu berechtigt ist, sondern den sie führt, wiewohl sie dazu nicht berechtigt ist, während sie in Wahrheit bloß berechtigt ist, einen unsittlichen Lebenswandel zu führen, den zu führen sie berechtigt ist. Solche Fälle kommen in der Praxis selten vor, und die Judikatur des Obersten Gerichtshofes ist schwankend. Am schwierigsten ist aber der Fall, der sich kürzlich in Wiener-Neustadt zugetragen hat. In einem dortigen Freudenhause lebt ein Mädchen, das zur Ausübung der Prostitution befugt ist und bisher noch keinen Anstand gehabt hat. Sie hat sich nie einen unsittlichen Lebenswandel angemaßt, den sie nicht führt, und es ist ihr noch nicht einmal nachgewiesen worden, daß sie fälschlich angegeben hat, eine Prostitution [4] nicht zu treiben, zu der sie befugt ist. Aber der Teufel reitet das bisher unbescholtene Mädchen, und sie geht eines Abends im Salon mit einem Militärjubiläumsehrenkreuz an der Brust herum. »Dadurch erregte sie bei den Gästen — —«, ja was glaubt man, hat sie dadurch bei den Gästen erregt? Nicht das, was man glaubt, sondern im Gegenteil: Ärgernis. Und wenn ein Freudenmädchen bei den Gästen eines Bordells Ärgernis erregt, dann ist es wirklich höchste Zeit, daß die Staatsanwaltschaft einschreitet. Tatsächlich wurde das Mädchen wegen einer Erregung, zu der sie nicht befugt war, angeklagt. Der erste Richter sprach sie frei. Er sagte, das Militärjubiläumsehrenkreuz sei kein Orden und das Ärgernis sei bloß ein solches Ärgernis, das von der Polizei zu ahnden sei. Damit gab er freilich zu, daß das Mädchen schuldig gewesen wäre, wenn sie etwa den Takowa-Orden getragen hätte. Es liegt zwar auf der Hand, daß das unbefugte Tragen eines Ordens immer nur einen Journalisten und kein Freudenmädchen strafbar machen kann, aber in Wiener-Neustadt scheint die Frauenbewegung bereits derartige Fortschritte gemacht zu haben, daß man dort beide Geschlechter in gleichem Maße der Ordensstreberei für fähig hält. Immerhin sagte der erste Richter, ein Jubiläumskreuz sei kein Orden. Aber der Staatsanwalt war anderer Ansicht, er berief und das Landesgericht verurteilte die Angeklagte zu zwanzig Kronen Geldstrafe. Ein Jubiläumskreuz, sagte das Landesgericht, sei als Ehrenzeichen jedem Orden gleichzustellen. Als besonders erschwerend nahm der Gerichtshof »das Tragen des Kreuzes im Freudenhause« an. Als die Angeklagte gefragt wurde, was sie sich dabei gedacht habe, gab sie zur Antwort: »Nichts«. Aber diesmal nützte die Antwort nichts. Denn eher noch dürfte sich ein anständiges Mädchen die Prostitution anmaßen als eine Prostituierte das Ehrenkreuz. Welche Entschuldigung hatte sie? Ein Zivilist, sagte sie, habe es ihr geschenkt. Er war nobel und gab [5] ihr das Ehrenzeichen als Schandlohn. Aber dann hätte sie es eben in den Strumpf stecken sollen. Das Tragen eines Ehrenzeichens im Freudenhause steht nur dessen Gästen zu, und wenn sie dadurch das Ärgernis der Mädchen erregen sollten, so würden sich die Mädchen einer strafbaren Handlung schuldig machen. Gibt aber ein Gast einem Mädchen statt zwanzig Kronen ein Ehrenkreuz, so darf sie das Ehrenkreuz nicht tragen und muß die zwanzig Kronen dem Gericht bezahlen. Denn die Justiz ist eine Hure, die sich nicht blitzen läßt und selbst von der Armut den Schandlohn einhebt.

Karl Kraus.