Das Bernsteingold des Samlandes und seine neueste Gewinnung
Wenn der Besucher der durch ihre malerische Uferschönheit ausgezeichneten westlichsten Hälfte des ostpreußischen Nordstrands Umschau hält von der thurmhoch aufragenden „Fuchsspitze“ des uralten Warnicker Parks voll tausendjähriger Baumwunder, so gewahrt er mit gutem Jägerauge eine starke Meile westwärts am Fuß der Brüsterorter Leuchtthurmspitze eine zumal im Abendstrahl scharf markirte Gruppe kleiner schwarzer Kähne, welche dort regungslos vor Anker zu liegen scheinen. Nahe kommend wird er jedoch bald eine rege Thätigkeit auf und unter ihnen gewahr, welche mit den sonst bekannten nautischen Verrichtungen wenig gemein hat. Es ist dies die Taucherflottille der jungen Königsberg-Memeler Bernstein-Firma Stantien u. Becker.
Bevor wir indeß auf die Schilderung des höchst interessanten neuen Tauchereiverfahrens auf Bernstein, welche zunächst den Zweck [363] dieser Zeilen bildet, eingehen, möge ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Bernsteinsucherei gestattet sein.
Wie im Mittelalter hochnothpeinliche Wegweiser in’s Jenseits, Galgen genannt, längs dem Bernsteinstrande aufgepflanzt, den ungestörten Naturgenuß dieser malerischen Gegend erschwerten, so wissen ältere Leute aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts mehr oder weniger Ergötzliches von den kläglichen Scherereien zu erzählen, die sie von den „Strandkosaken“ jener Tage, den Schutzleuten der damaligen Regalpächter erdulden mußten. Diesem die Badegäste oft in hohem Grade belästigenden Unwesen machte König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1837 ein Ende, indem er das Bernsteinregal den sehr bedürftigen Strandbauern und Fischern gegen geringe Vergütung zu überlassen befahl; ein Recht, welches diese fortan in den ihnen von Urväterzeiten her bekannten Weisen des Schöpfens, Grabens und Stechens ausbeuteten.
So standen die Dinge, als die Herren von der Königsberger Bezirksregierung im Jahre 1862 eines guten Tages durch das Erbieten überrascht wurden, man wolle die Klarmachung des Memeler Fahrwassers im kurischen Haff durch Baggerung, die bisher beträchtliche Summen gekostet, hinfort nicht nur gratis übernehmen, sondern sogar noch fünfundzwanzig Thaler pro Arbeitstag vergüten, wenn das Recht der Bernsteingewinnung darin inbegriffen sei. Dieses willig angenommene Erbieten ging von den Herren Stantien und Becker aus, damals kleine Gewerbtreibende Memels, von denen der erstere bis dahin Kahnschiffer gewesen war und Einsicht in die glückverheißende Situation gewonnen hatte. –
„Viel Geld verdienen ist eine Art Tapferkeit,“ sagt Graf Chlodwig in Auerbach’s neuestem Buch. Nun, an dieser Gattung modernster Ritterlichkeit haben es die eben genannten Herren, recht von der Pike auf gediente Industrie-Obersten, seither wahrlich nicht fehlen lassen.
Auf der Haffseite des Seebads Schwarzort, anderthalb Meilen von Memel auf der kurischen Nehrung gelegen, wo der schöne Rest des alten, unaufhaltsamem Versandungstod verfallenen Hochwalds uns grüßt, wurde das Hauptquartier aufgeschlagen, und rasch blühte hier das San Francisco des neuen ostpreußischen Californiens empor. Schnell wachsendem Bedürfniß folgend bedeckte sich alsbald ein ausgedehnter Bodenstrich mit den Etablistements der neuen Bernsteinfirma: Schiffszimmerplatz, Maschinenwerkstatt, Hafenanlagen, Magazin und Lagerräume, Inspectorwohnung wie Arbeiterbaracken.
Das Gewinnungsverfahren durch Baggerung selbst, nunmehr mit zwölf Dampfbaggermaschinen betrieben, ist der Sachlage angepaßt und völlig zweckentsprechend. Langsam vorrückend und allmählich tiefer dringend graben die zu beiden Selten der Bagger in spitzem Wlnkel gegen den Haffgrund gestellten Schöpfeimer- (Paternoster-)werke zunächst eine grabenartige Rinne in der Bernstein führenden Schicht, indem sie ihren Inhalt in die mit gitterartigem Deckel versehenen begleitenden Prahmkasten entleeren. Mit zunehmendem Tiefgang steigert sich der Bernsteingehalt des so zu Tage geförderten Haffschlammes, bis die Sohle der Bernsteinschicht erreicht ist. Sodann folgt die leichtere und zugleich lohnendere Thätigkeit dieser Schöpfwerke, welche abwechselnd aus dichtgeschmiedeten schweren und siebartig durchlöcherten leichten Eimern bestehen. In der nun fast schlammfreien, meist fünf, oft auch zehn bis fünfzehn Fuß tiefen Wasserrinne rascher sich drehend erzeugen die wuchtigen Eimer eine starke Strömung, welche den Stein lockert und ihn theils diesen, theils den unmittelbar folgenden Siebeimern zuführt, welche ihn wiederum auf jene Prahmgitter ausschütten. Hier wird der kostbare Fund von allem werthlosen Anhang befreit, um, in Säcke gethan, behufs gründlicher Sichtung und Sonderung in die Sortiranstalt zu Memel abzugehen.
In dieser Weise wird mit einem achtstündlich wechselnden Arbeiterpersonal von mehreren Hundert Köpfen Tag und Nacht bei jeder Witterung so lange fortgearbeitet, bis der scharf einsetzende Frost sein strenges Veto spricht.
Man begreift, daß eine solche Arbeit, zumal bei stürmischer Witterung und in rauher Jahreszeit, für die meist völlig durchnäßten Leute eine sehr harte, aufreibende sein muß. Die robusten Naturen des dortigen Litthauer Menschenschlags (Szamaiten oder Kuren) haben sich derselben bei ausreichender Löhnung indeß bisher gewachsen gezeigt. Wir werden diese Wassercyklopen noch bei unterseeischer Thätigkeit wiedersehen.
Fragen wir nun nach den Erfolgen einer so energisch angefaßten Erwerbsarbeit, so ergiebt sich als Durchschnittsertrag der Schwarzorter Baggerei in den letzten Jahren die hübsche Zahl von fünfundsiebenzigtausend Pfund Bernstein pro Jahr von circa dreißig Arbeitswochen. Der wirkliche Werth einer derartigen Menge des kostbaren Fossils entzieht sich jedoch aller Berechnung. Denn die Preise pro Pfund schwanken zwischen vier Silbergroschen für die geringste zur Räucherung und Firnißbereitung bestimmte Waare (Sandgemüll oder Schluck) und etwa fünfundzwanzig Thaler für großes „Sortiment“ (Pfeifenmundstücke und dergleichen), um alsdann, wie jedes Edelgestein abnormer Größe und Qualität, für „Cabinetsstücke“ edelsten hellstrohgelben Bernsteins (Kunstfarbe) bis in’s geradezu Unschätzbare zu steigen. Auch liegt es uns fern, die berechtigten Geheimnisse eines Handelshauses lüften zu wollen, welches unserm lang vernachlässigten Naturschutz nicht nur neue, ungeahnte Fundquellen erschlossen, sondern auch mit viel kaufmännischem Geschick für stets erweiterte Absatzwege sorgt, um mit der schnell wachsenden Erzeugung Schritt halten zu können, und somit ein dauernder Segen unserer gewerbarmen Provinz zu werden verspricht. Seine Agenten und Commanditen finden sich – ein wahrhaft erdumspannender Handelsapparat – zur Zeit bereits in Berlin, Wien, Paris, London, Constantinopel, Bombay, Calcutta, Hongkong, Jeddo, Mazatlan (Mexico) und anderen Orten.
Hat nun im vorliegenden Falle die wissenschaftliche Forschung sich wieder einmal von keck zugreifender Praxis den Vorsprung abgewinnen lassen, so darf dagegen nicht geleugnet werden, daß sie Versäumtes glänzend nachgeholt. Denn die sorgfältigste, eindringendsten geologischen Untersuchungen eines Zaddach, Berent und Anderer auf dem betreffenden Gebiet haben das „Bernsteinräthsel“ seiner völligen Lösung nahe gebracht und mit der Leuchte echter Wissenschaftlichkeit das Dunkel gelichtet, welches die Geburts-, vornehmlich aber die wissenswerthere heutige Lagerungsstätte des kostbaren Minerals lange genug umhüllt hielt.
Der Bernstein, das Elektron (Sonnenstein) der Odyssee, der lieblichen hellenischen Mythe nach, die versteinten Thränen der weinend in Bäume gewandelten Schwestern des Phaëthon, des unklugen Sonnenrosselenkers; jener uralte Fabelstein, dessen Handelsmonopol sich die Phönicier, des Alterthums schlaue Hebräer, durch abschreckende Sagenverbreitung über seinen Fundort Jahrhunderte hindurch zu sichern verstanden; dieser einst dem Golde gleich geachtete Naturschatz – er entströmte in der Schöpfungsperiode, die wir die Tertiärzeit nennen, als ein äußerst schnellfließendes Harz einigen Coniferen- (Fichten-) Arten des mächtigen, große Strecken des nördlichen Continents jener Zeit bedeckenden Bernsteinwaldes. Fortwährend, auch neuerdings vielfach vorgekommene Funde im Bernstein eingeschlossener, in den flüchtigsten Stellungen festgehaltener Thierchen, den Augenblicksbildern der heutigen Photographie vergleichbar, bekunden den raschen Fluß des massenhaft, vielleicht krankhaft, ausgesonderten Harzes. Mit dem Entzücken des eifrigen Archäologen, der heut’ in den einst jäh verschütteten Vesuvstädten ein bis in’s Kleinste erhaltenes Culturbild antiken Lebens vor sich sieht, erblickt der Naturforscher auf vorweltlichem Gebiet in jenen Petrefacten das nie und nirgend wiederholte Schauspiel einer bis in’s Subtilste bewahrten vielgestaltigen Kleinthierwelt; man zählt bis jetzt nicht weniger als tausendvierundzwanzig Arten des vor Jahrtausenden versunkenen reichen „Schöpfungstages“! –
Ihrer ersten Wiege, dem Waldboden des Bernsteinwaldes, sodann in Folge nicht völlig aufgeklärter Naturvorgänge (strömende Wasser) eine Strecke weit entführt, wurden jene Harzmassen auf dem Grunde des Tertiärmeeres abgelagert, welches sie nach und nach mit einer bläulichen Thonmergelschicht umschloß und ihren allmähliche Versteinerungsproceß vollzog. Diese jetzt eifrig verfolgte „blaue Erde“, die Bernsteingoldader der heutigen Welt, durchzieht nun, überlagert von den Bodenschichten der späteren Erdbildungs- (Diluvial- und Alluvial-) Zeiten, vermuthlich die ganze Samlandhalbinsel, die sie somit als eine „Meerentstiegene“ kennzeichnet. Im nordwestlichen Theil derselben ist ihr Vorhandensein auf etwa sechs Quadratmeilen Ausdehnung in verschiedener Tiefe, die sich an den Uferbergen bis zu vierzig Fuß unter’m Meeresspiegel steigert, wissenschaftlich constatirt. Bei etwa zehn Fuß Durchschnittsmächtigkeit eine unterirdische Schatzkammer von wahrhaft kolossalem Werth! Woher aber entnimmt das baltische Meer seinen, schon vor Kaiser Nero’s berühmtem Bernsteintriumph [364] auf dem Weltmarkt erschienenen und heute noch unerschöpflich scheinenden Seeauswurf?
Nirgend anders offenbar, als von derselben blauen Bernsteinschicht, die, sich nördlich sowohl, wie vielleicht zehn Meilen westlich bis gegen Danzig hin unter’m Meeresbecken fortsetzend, in Folge starker Absenkung des letztern bloßgelegt und von der Gewalt der stürmischen Wogen benagt wird. Diese thun dort, wenn man will, ungefähr dieselbe Wirkung im Großen, wie es die schweren Bagger in der Schwarzorter Sandschicht im Kleinen thun (die sich beiläufig als eine Bernsteinablagerung secundärer Art erwiesen). Bei günstiger Richtung der abstillenden Winde wird dann der vom Wogendrang seinem Lager entrissene Stein mit seinem steten Begleiter, dem Seetang (Bernsteinkraut) dem Lande zugetrieben und von den bei seinem Erscheinen eiligst am Strande versammelten Dörflern mit Sacknetzen (Käschern) aufgefischt (geschöpft), wobei die Männer, bis zur Brust im Wasser stehend, deren Inhalt den weiter zurückbleibenden Weibern und Kindern zur gründlichen Sichtung hinschütten. Eine Arbeit, die zumal im Spätherbst, wenn der steife Nordost den oft über die Köpfe spritzenden Wogengischt in Eis wandelt, wahrlich kein „Sport“ zu nennen ist!
Allein gerade die größeren Stücke des werthvollen Minerals sinken oft, in Tangmassen eingehüllt, weit vor der Brandung, von großen Steinen aufgehalten, zu Boden, und werden beim Spiel der Wellen von jenen bedeckt. Diese Beute zu erlangen, warten die Bernsteinfischer die völlig wiedergekehrte Meeresstille ab und beginnen dann die zweite bisher gebräuchliche Gewinnungsart: das Bernsteinstechen.
In der ersten Frühe eines Hochsommertages sieht man oft genug diese emsigen Schatzsucher in Booten zu fünf bis sechs Mann weit vorgeneigt die grünliche Salzfluth von zehn bis dreißig Fuß Grundtiefe mit gierigen Augen durchspähen. Vermittelst langer Spieße mit verschieden geformter Spitze, nöthigenfalls mit mächtigen gekrümmten zweizinkigen Gabeln, lockern die Einen den beschwerenden Stein, während die Anderen mit gleich langen Käschernetzen das Bernsteinkraut auffangen und emporziehen. Eine außerordentlich reiche Ablagerung ähnlicher Art, in diesem Fall wohl Jahrhunderte lang angetriebener, von mächtigen Steinen und Geschiebeblöcken beschwerter Bernstein, befindet sich auf einer Strecke von etwa sechshundert Schritt Länge und vierhundert Schritt Breite, am Fuß der allen kreuzenden Winden und Wogen ausgesetzten Nordwestspitze von Brüsterort.
Zur Erlangung dieses seiner schönen Farbe und Qualität halber sehr geschätzten „Reef“- oder „Riffsteins“ ist dort vielfach experimentirt worden. Auf Anordnung der königlichen Regierung wurden im vorigen Jahrhundert auch Versuche mit Tauchern (Halloren) gemacht; doch mußten diese alsbald der ungewohnten Rauhheit des Klimas, wie dem Brodneid ansässiger Arbeiter weichen. Da die eben geschilderte Manipulation des „Stechens“ sich den wuchtigen Decksteinen gegenüber als unzureichend erwies, so nahm man seine Zuflucht zu mächtigen Zangen und Flaschenzügen, mittelst deren man die Steinkolosse auf Flöße hob; ein höchst mühsames und nicht immer erfolgreiches Gewaltmittel gegenüber dem sich hartnäckig am Meeresschooß festklammernden Kleinod! So mußte denn den intelligenten Inhabern unserer Bernsteinfirma, welche inzwischen durch Abfindung der bisherigen „Stechereipächter“ auch die Pachtung des Wasserregals bei Brüsterort erworben, der sinnreich erfundene Taucherapparat des französischen Marine-Capitains Rouquayrol-Denayrouze hochwillkommen sein, von dessen praktischer Verwendbarkeit sie auf der Pariser Weltausstellung von 1867 Kenntniß gewonnen hatten. Unverzüglich wurden nun ein paar junge französische Mechaniker, zugleich des Tauchens kundig, nach Brüsterort entführt, und diese sind dann die Lehrmeister des nach und nach in Brüsterort herangebildeten Taucherpersonals nicht nur, sondern auch die Werkführer bei Anfertigung neuer Apparate etc. geworden.
Somit ständen wir denn nach einer zur gründlichen Orientirung unerläßlichen Abschweifung wieder bei unseren Tauchern, deren Verfahren wir in diesen Zeilen schildern wollen, da wohl nur die wenigsten unserer Leser Gelegenheit haben mochten, den Experimenten des Herrn Recher beizuwohnen, der sich vor Kurzem in
[365][366] einem sechszehn Fuß Höhe und neunzehn Fuß Durchmesser habenden Wasserbottich vor der Berliner Bevölkerung producirte.
Der von ihm benutzte Apparat war eben nach dem Muster des Capitains Rouquayrol-Denayrouze gebaut; dessen Tüchtigkeit zu erproben und des Tauchers Geschicklichkeit bewundern zu lassen, ist aber jedenfalls das wogende Meer geeigneter, und so möge uns denn der geneigte Leser, inmitten einer muntern, schaulustigen Badegesellschaft, mit den Zutrittskarten der gastlichen Bernsteinherren versehen, zu dem riffumragten Seegestade von Brüsterort begleiten. Der freundliche Inspector, Herr St., ein Memeler Kaufmann, der sich den größten Theil des Jahres auf das windgepeitschte Cap Landsend unter meist fremde Zungen redende Meermenschen gebannt sieht, hat uns sofort – Männlein und Fräulein bunt durch einander – in eine mächtige Ruderarche gepackt, und steuert uns der etwa tausend Schritt entfernten Taucherflotille entgegen, indem er unserem fröhlichen Geplauder, seinem geliebten Hochdeutsch, mit sichtlichem Behagen zuhört. Eben macht unser Boot eine Schwenkung, um sich breitseit gegen einen der luftpumpenden Taucherkähne zu legen, als eine von unserm Bug in die Fluth blickende Jungfrau einen jähen Aufschrei vernehmen läßt.
Aus „den bewegten Wassern“ war „ein feuchter Mann emporgerauscht“ und hatte ihr mit gespenstigen Augen zugewinkt. Und sieh! da taucht dicht vor unseren Augen wieder solch ein „Graulichmacher“ auf, durch einen leisen Ruck an seinem Rettungsseil von unserer Visite benachrichtigt; und wir müssen gestehen, daß er mit dem unförmlichen Kopf und den tellergroßen Glasaugen mehr einem vorweltlichen Saurier, als einem Exemplar der heutigen Species „homo sapiens“ gleicht.
Und athmete lang’ und athmete tief,
Und begrüßte das himmlische Licht!
Denn:
Aus dem Grab, aus der strudelnden Wasserhöhle
Hat der Brave gerettet die lebende Seele!
Betrachten wir indeß, um systematisch zu verfahren, zunächst den jungen Taucher, der soeben für sein unterseeisches Tagewerk eingekleidet wird; ein Verfahren, das unseren von der Schaukelbewegung wohl ein wenig elegisch herabgestimmten Gemüthern wie eine Art Henkertoilette erscheint.
Ueber einen den ganzen Körper warm umschließenden Wollenstoff wird der in einem Stück gefertigte Gummi-Anzug angelegt, der, sowie der Helm, eine den dortigen Verhältnissen – die Leute können fast nur liegend arbeiten – angepaßte veränderte Form erhalten hat. Während wir im vorigen Jahre noch den schweren kupfernen Vollhelm der französischen Erfindung im Gebrauch fanden, der gleich den ältesten plumpen Ritterhelmen Kopf und Hals umschließt, sahen wir jetzt ein Ding nach Art einer Kesselpauke, welches, an den kapuzenartig sich über den Scheitel des Tauchers fortsetzenden Gummistoff hermetisch festgeschraubt, vor dessen Gesicht hängt, ohne Kopf und Nacken zu beschweren. Hierdurch ist zugleich die Möglichkeit gegeben, daß der Taucher, der sonst nur durch den Mund allein ein- und ausathmen darf, vermittelst sechs- bis achtmaligen durch die Nase bewirkten Ausathmens den Raum innerhalb des Anzugs mit Luft erfüllen und sich so, wie wir gesehen, ohne fremde Hülfe empor bringen kann. Dieser neue Helm hat, wie der alte, drei Oeffnungen für Augen und Mund, welche durch luftdicht einzuschraubende Rundfenster, von starken Kreuzdrähten geschützt, verschließbar sind. Wie aber athmet der Taucher mit dem französischen Apparat? Nächst dem Helm ist des Tauchers wichtigstes Armaturstück jener kleine schwarze Kasten von starkem Eisenblech, welcher ihm jetzt wie ein Tornister auf den Rücken geschnallt wird. Es ist dies sein Luftreservoir, seine künstliche Luftröhre, wenn man will. Denn in diesem Behälter, in welchen von oben her der vierzig Fuß lange Gummischlauch der Luftpumpe mündet, wird die Athmung durch ein sinnreiches Ventil geregelt. Dies läßt nämlich beim jedesmaligen Einathmen nur das zu einem Athemzug erforderliche Luftquantum hindurch, beim Ausathmen hingegen schnellt es in die Höhe und öffnet der ausgestoßenen Luft den Weg, auf dem sie durch ein sich sofort wieder schließendes „Lippenventil“, in der obern Ecke des Luftkastens angebracht, entweichen kann.
Nun wird unserem Taucherlehrling das Mundstück des Gummischlauchs, welcher von hier aus, mit scharfer Biegung den Helm durchbrechend, seitlich in den Luftkasten tritt, fest zwischen die Zähne gesteckt, dann folgt seine Beschwerung mit einem halben Centner Blei an Füßen, Achseln und Helm, und:
„Geheimnißvoll über dem kühnen Schwimmer
Schließt sich der Rachen.“
[380] Die Bemannung des nunmehr in Wirksamkeit tretenden Taucherboots besteht aus acht Köpfen: zwei Taucher, zwei abwechselnd luftpumpende Arbeiterpaare, ein Mann, der die unter der Achsel der Taucher befestigten Rettungsleinen lose vor sich in der Hand hält, auf den leisesten Ruck daran achtend, und der Aufseher, welcher den gefundenen Bernstein aus der Gürteltasche des Auftauchenden in Empfang nimmt. Die Luftpumpe, welche hier die Erfindung des gelehrten Magdeburger Bürgermeisters wesentlich verbessert zeigt, besteht in zwei sauber gearbeiteten Messingcylindern (Stiefel genannt, ungefähr auch in der Größe solcher), in denen, um es kurz zu bezeichnen, ein am Boden angebrachtes Drehventil verhindert, daß der auf- und niedergehende Kolben nicht zugleich als Luftsauger wirke. Unverwandten Auges blicken die Arbeiter, während sie die Luftpumpe gleich einer Feuerspritze handhaben, auf das kleine Zifferblatt, welches wir in der Mitte des Taucherbootes über seinem Bordrand angebracht sehen. Es ist dies der Manometer (Luftdruckmesser), der vom Atmosphärendruck der durch ihn hindurch in den Gummischlauch tretenden Luftsäule Rechenschaft giebt. Ein Zuviel kann hier bekanntlich ebenso verderblich werden, als ein Zuwenig. Bei solcher Vorsicht wird es erklärlich, daß bei einem Taucherpersonal von etwa sechszig Mann und bei circa fünf Stunden unterseeischer Arbeitszeit bis jetzt nur zwei Unglücksfälle beim Tauchen in Brüsterort vorgekommen sein sollen. Freilich ist dabei die wahrhaft eiserne Natur dieser Leute wohl zunächst in Rechnung zu ziehen. Sie recrutiren zum Theil aus dem jungen Nachwuchs der umwohnenden, meervertrauten Fischerrace, ihr Hauptcontingent aber bilden jene die Küsten des kurischen Haffs umwohnenden Szamaiten, welche wir schon in Schwarzort sahen: Diese Enakssöhne, welche alljährlich manch’ baumstarken Mann zum ostpreußischen Panzer-Reiterregiment stellen, haben sich nicht nur „waterproof“, sondern oft auch als feuerfest bewährt. Die verwegensten Pascher – namentlich zu Schlitten – auf der „trocknen Grenze“ des versperrten Nachbarreichs, haben die Meisten von ihnen die Kugeln der Grenzkosaken nächtlicher Weile um ihre Köpfe pfeifen gehört, und manchen Lanzenstich mit Zinsen heimgezahlt. Hier scheinen die Riesen bei gutem Taglohn und Gewinnantheil für größere Funde mit ihrem Loose zufrieden, obgleich das Hinabtauchen in das feuchte Element bei mehreren Graden Winterkälte gewiß nicht zu des Lebens Annehmlichkeiten zählt. Und trotzdem steigen sie oft schweißtriefend aus der eisigen Fluth empor. Denn oft genug muß der Taucher zur Bewältigung der eng zusammenlastenden Steine die Hülfe starker gekrümmter Gabeln, sowie die Unterstützung seines am zweiten Schlauch desselben Boots arbeitenden Cameraden in Anspruch nehmen. Doch finden sich selbst Steinkolosse, die auch der vereinten Pferdekraft jener Athleten spotten.
„Tröstlich muß Ihnen hier wenigstens die Gewißheit sein,“ äußerten wir uns an Herrn St. wendend, „daß Sie von den so scharf controlirten Tauchern doch nicht bestohlen werden können!“
„Wo denken Sie hin!“ entgegnete er achselzuckend; „erst dieser Tage habe ich fast die Hälfte derselben entlassen müssen, weil sie – auf dem Meeresgrunde für sich statt für uns sammelten. Den durch eine Schwimmmarke bezeichneten Raub gingen sie sich bei der Nacht abholen, und nur durch Verrath bin ich dahinter gekommen!“
Als wir später des Inspectors Wohnzimmer betraten, sahen wir uns wie in Aladdin’s Schatzkammer rings von geschichteten Säcken des edlen Sonnensteins umgeben, noch ungeordnet, wie er dem Meeresschooß entrissen. Da lagen sie in buntem Gemenge friedlich bei einander! Der faustgroße hellstrohgelbe, wolkige „Bastardstein“, der, kaum beschliffen, des Seraskiers köstlichen Pfeifenschatz mehren sollte, jene knochenhell geaderten Flachstücke (Fliesen) für den classischen Weiberhals und Busen Albano’s, Frascati’s und der Ewigen Stadt selbst bestimmt, sowie auch die zahllose Menge gelb und rothblanken Corallensteins, deren weingoldigem Gefunkel gleich altem Tokayer und Malaga der dunkle Sammetnacken einer Otaheiti-, Timbuctu- oder Capland-Schönen als Folie dienen sollte.
Die geringeren Sorten zur Räucherung, zur Fabrication der pharmaceutisch verwandten Bernsteinsäure und des brillanten Bernsteinlacks kommen in Brüsterort, dem Fundort der „feinsten Waare“, wenig vor.
Zum Abschied – denn wir hatten noch den zwei Meilen entfernten Gräbereien einen Besuch zugedacht – erstanden wir ein kleines Sortiment des heimathlichen Edelsteins als Andenken, wie auch als Material, um ein paar Sächelchen daraus selbst zu fertigen. Und das giebt mir Gelegenheit, meinen schönen Leserinnen, die heutzutage ihre Laubsägen so fleißig durch die Holzplatten schwirren lassen, einen Vorschlag zu machen. Wie wär’s, wenn Sie denselben Versuch einmal mit dem werthvollen Bernstein machten?! Die Arbeit mit Säge, Feilen und Stecheisen ist durchaus nicht schwer und sehr lohnend; die Politur aber ist mittels Bimstein, Kreide und Wasser und zuletzt den eigenen zarten Daumen bald hergestellt! … Die Sortirung der Funde für den kaufmännischen Vertrieb geschieht in Königsberg in der Weise, daß von den auf langen bleigedeckten Tafeln ausgebreiteten Stücken mittels eines scharfen Spatels, ein kleines Eckstück der schwärzlich undurchsichtigen Kruste abgestoßen wird, um Farbe und Güte des Steins erkennen zu können.
Die Gräberei endlich, die letzte der noch zu nennenden Gewinnungsarten des Bernsteins, wird an verschiedenen Punkten der samländischen Nord- und Westküste betrieben, theils von den Dorfgemeinden auf eignem Grund und Boden, häufiger jedoch, da die Sache viel Anlage-Capital erfordert, für Rechnung Königsberger Firmen, worunter jetzt auch in erster Reihe die vielgenannte unsrer „Bernsteinkönige“ sich findet. Einer dieser „Gruben“, beim Stranddorf Sassan gelegen, galt unser Besuch; wir fanden einen Bergbau primitivster, kunstlosester Art.
[381] Um zur Bernsteinschicht, der gedachten „blauen Erde“ zu gelangen, werden die Uferberge, bald bloßer Sand, bald auch zäher Letten und Lehm, von oft mehreren Hundert Arbeitern, die damit im Frühjahr beginnen, in einer Länge und Breite von fünfzig bis achtzig Fuß und darüber abgetragen, das Abgeräumte sodann den Wellen zur Beute hingeschüttet.
Weil die „blaue Erde“, wie bemerkt, an den Uferrändern meist unter dem Meeresniveau liegt, so müssen die nachdringenden Wasser mittels Schöpfwerken (Pferdegöpel u. A.) oft unter großen Schwierigkeiten beseitigt werden. Ist die Schicht rechtzeitig, d. h. noch vor Eintritt der Winterstürme, welche mitunter die ganze Arbeit zu nichte machen, erreicht, so wird ihre Ausbeutung meist in wenig Wochen in folgender Weise beendet. Zwanzig bis dreißig Mann werden mit kleinen scharfen Spaten versehen auf der Decke der Schicht in einer Front aufgestellt, und stechen diese dann rückwärtsschreitend mit behutsam geführten Spatenstichen bis zu ihrer „Sohle“ aus. Der Bernstein, welcher sich durch Widerstand gegen den leise eingeführten Spaten verräth, wird dabei vorsichtig aus der umhüllenden Thonerde ausgeschält, und von den den Arbeitern vis à vis vorrückenden Aufsehern in Empfang genommen.
Der hohe Werthgehalt und die reiche Ergiebigkeit der oft nur
vier bis fünf Fuß mächtigen Bernsteinader offenbart sich wohl zur
Genüge durch die Thatsache, daß ihre Ausbeutung die dazu erforderliche
Abräumung solch gewaltiger Erdmassen (von zum
Theil über hundert Fuß Mächtigkeit) als lohnend erscheinen läßt.
Ein gediegener Fachmann, der Oberbergrath Runge in Breslau, im Jahre 1867 zur Sondirung der Bernsteinfrage nach Ostpreußen gesandt, hat nun unlängst in seinem sachlich sehr eingehend gehaltenen Exposé das Unwirthschaftliche, wenig Rationelle dieses Gräbereibetriebs zur Sprache gebracht, welcher um zweifelhafter Erfolge willen das ganze so nutzbringende, wie malerische [382] Terrain der Stranduferberge mit Verwüstung bedroht. Zugleich aber hat derselbe – und hier beginnt die Zukunftspoesie unsers Bernsteins – die praktische Ausführbarkeit eines rationell betriebenen Bergbaus beim heutigen Stande der betreffenden Technik als zweifellos, und überdem als, allem Vermuthen nach, höchst lohnend bezeichnet. Welch neue ungeahnte Perspective eröffnet sich da unsrer bisher so bodenarm geglaubten Provinz!
Vielleicht sehen wir schon in nächster Zukunft die hier nie – es sei denn als musikalische Siebenbrüder – geschauten schwarz beschurzten Gäste, die Genossen der Gnomen und Kobolde, der heiligen Anna schutzbefohlene Knappenschaar ihren Einzug halten und die jungfräuliche Samlanderde nach Schätzen durchwühlen, welche wir so lange nur als ein Geschenk der „vielbewegten“ Amphitrite anzusehen gewohnt waren!