Das Berliner Verbrecher-Album

Textdaten
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Autor: Gustav Schubert
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Titel: Das Berliner Verbrecher-Album
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[251] Das Berliner Verbrecher-Album.

 „Ha! … hamm! hammer dich emol, emol, emol
 An dei’m verrissene Camisol,
 Du schlechter Kerl.“
 Victor von Scheffel („Gaudeamus“).

Wenn in früheren Zeiten Häscher, Waibel, Stadtsoldaten, Constabler, Polizeidiener oder wie die Greiforgane der Justiz sonst hießen, einen Uebertreter der Gesetze festnahmen, so mögen sie wohl oft triumphirend in die Tonart des oben angeführten Citats eingestimmt haben, denn es gehört nun einmal zu den berechtigten oder unberechtigten Eigenthümlichkeiten der Mitglieder der Spitzbubenzunft, sich nicht immer „kriegen“ zu lassen, im „Betretungsfalle“ aber auch nach Möglichkeit wieder zu entweichen. Wie Rübezahl seiner entflohenen Emma Blitze des Aergers nachschleuderte, so verfolgte einst der starke Arm der Gerechtigkeit den Entsprungenen durch Steckbriefe nebst dem ominösen Signalement, ein Modus, welcher in Ermangelung eines besseren auch heute noch vielfach zur Anwendung gelangt. Wie es indeß um eine solche kurze Personalbeschreibung beschaffen ist, weiß Jeder, der schon in die ernste Lage gekommen, nach einem solchen Signalement ein bestimmtes Individuum ausfindig zu machen und zu erkennen. „Blaue Augen“, „blondes Haar“, „mittlere Statur“ sind innerhalb der deutschen Grenzen nichts ungewöhnliches, und figurirt unter „besonderen Kennzeichen“ nicht wenigstens ein sichtbares Deficit an Gliedmaßen oder Sinnen, so ist mit der Rubrik nichts „besonderes“ anzufangen. Neuerdings ist aber den „schlechten Kerlen“ in der Photographie ein Feind erwachsen, der in seinen Erfolgen das beste Signalement weit hinter sich zurückläßt.

Verbrecher-Album – wer hätte je gedacht, daß das Album, jener moderne Familientempel, der in seinen Hallen nur geliebte Personen, Freunde und Geistesheroen versammelt, auch in den Dienst der Criminalpolizei treten und auf den grünen Tischen derselben, ganz wie bei uns in der guten Stube, „zur gefälligen Ansicht“ ausgelegt werden würde.

Betreten wir die melancholisch-düsteren Räume des Berliner Criminalcommissariats am Molkenmarkt, wir brauchen trotz der Inschrift über der [252] Eingangspforte zur Hölle in Dante’s „Göttlicher Komödie“ nicht jede Hoffnung hinter uns zu lassen, sind wir doch „unbescholten“, „unverdächtig“, „in Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte“ mit welchen Eigenschaften man am „Molkenmarkte“ immerhin nach der positiven Seite noch Eindruck machen kann.

„Gallerie berüchtigter Persönlichkeiten, Bilderbuch in zwanglosen Bänden, herausgegeben von der Berliner Crimmalpolizei“, würde der Titel des vor uns liegenden Verbrecher-Albums heißen können, wenn es je auf dem Büchermarkte erscheinen sollte. Gleich den meisten Sammelwerken ist auch dieses Opus weit über den ursprünglichen Rahmen hinausgewachsen und mußte wegen Theilung der Arbeit in verschiedene Gruppen gebracht werden: A männliche, B weibliche Personen. Blättern wir in dem Album des stärkeren Geschlechts, das hier in den feinsten Standesunterschieden zur Anschauung gebracht ist. Schwindler, Fälscher, Bauernfänger, Leichenfledderer (solche, welche im Freien schlafende Personen berauben), Raufbolde, Hochstapler, Todtschläger, Kinderfreunde, Flatterfahrer (Wäschediebe), Hehler, Einbrecher, Gelegenheits-, Corridor-, Rollwagen-, Schlafstellen-, Boden-, Eisenbahn-, Taschen- und andere Diebe, Ueberziehermarder, Räuber, Mörder, Schmieresteher (Aufpasser) – eine feine Familie! Es ist ein weit verbreiteter Irrthum, daß der Verbrecher an irgend einem „Kainszeichen“, verstörtem oder furchterregendem Aussehen zu ernennen sein soll. Wir finden unter den circa zweitausend Photographien treuherzig und harmlos dreinschauende, oft schöne Männer, von denen man wohl eine größere Vertrautheit mit der Feder oder dem Pinsel, als gerade mit Brechstangen, Centrumsbohrern und Dietrichen voraussetzen könnte.

Jener noble Herr im modernsten Promenadenanzug, Klemmer und kunstgerecht gedrehtem Schnurrbart hat den Anschein, den besten Kreisen anzugehören, und doch ist es einer der schwersten und gefürchtetsten Einbrecher und Todtschläger; dieser Jüngling mit der Schülermütze könnte soeben das Abiturientenexamen abgelegt haben, wenn er nicht wegen Raubes auf offener Straße eine Reihe von Semestern – Zuchthaus hinter sich hätte. Eine auffallende Persönlichkeit ist „der Mann ohne Nase“; an der Stelle, wo andere Sterbliche das Riechorgan haben, befindet sich bei dem Verbrecher ein häßliches, entstellendes Loch, das als „besonderes Kennzeichen“ treffliche Dienste leisten würde, wenn der Betreffende es nicht verstünde, die Natur zu corrigiren; auf einem zweiten Bilde erscheint er mit einer prächtigen, von einer Brille gehaltenen künstlichen Nase, die den Träger kaum wieder erkennen läßt. Daß der Bösewicht „mit Nase“ und „ohne Nase“ je nach Befinden „arbeitet“, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Wir sehen ferner würdige Greise in Silberhaaren, fromme Apostelköpfe, imponirende Patriarchen, Cavaliere, langgelockte Jünglinge mit Sammetröcken, Biedermänner, Ritter hoher (selbstverliehener) Orden, uniformirte Pseudobeamte – Alles Hyänen, Tiger und Wölfe in Schafskleidern. Allerdings fehlt auch das skophulöse Gesindel nicht, schlechtgenährte Gestalten, die ihren Beruf kaum verfehlt haben, niederträchtigen Blickes, in kurzem Haare und – rasirten Gesichtern. Letzteres ist meist eine kleine Erinnerung an den Aufenthalt im Zuchthause, da dort bekanntlich die Toiletten- und Bartfrage in der einfachsten Weise gelöst wird.

Wenden wir uns jetzt zu dem ewig Weiblichen; auch hier die übersichtlichste Classificirung. Schwindlerinnen, Hochstaplerinnen, Taschen-, Schlafstellen-, Omnibus-, Theater- und Eisenbahndiebinnen. Die Wahrheit des alten Sprüchworts: Gelegenheit macht Diebe, scheint in der überraschend großen Zahl von Ladendiebinnen zum Ausdruck zu kommen; wir begegnen darunter Damen, die thatsächlich geachtete Lebensstellungen einnehmen, trotzdem aber an Kleptomanie (entschuldigendes Fremdwort für Hang zum Stehlen) leiden.

Aus der Gallerie bildschöner Mädchen und Frauen in den geschmackvollsten Roben, mit Schleier, Pincenez und vielknöpfigen Handschuhen mögen nur einige besondere Erwähnung finden. Da ist eine junonische Gestalt mit gefährlichen Augen, die nach ihren Antecedentien die „Hochzeiterin“ heißt. Die Dame übt nämlich die seltene Gewohnheit, in gewissen Zeitabschnitten in den verschiedensten Stadtgegenden mit ihrem „Bräutigam“ (unverfängliche Bezeichnung für eine überaus gefährliche Species von Verbrechern) aufzutauchen, um in der neugemietheten reizenden Wohnung – Polterabend zu feiern. Die angeblich soeben vom Standesamt kommenden Liebesleute empfangen aus befreundeten und gesinnungstüchtigen Kreisen reiche Geschenke der seltensten und wunderlichsten Art, leicht transportabel und verkäuflich. Ein halbes Dutzend goldene Uhren, eine Schachtel Ringe und Ketten, ein Taschentuch voll silberner Löffel, Messer und Gabeln in den verschiedensten Mustern und – Monogramms, Kleiderstoffe für mindestens hundert Personen, feine Wäsche mit ausgetrennten Namen, ein Faß Butter, Säcke, gefüllt mit Kaffee, Zucker, Seife, Räucherwaren und andern Scherzartikeln, sodaß die für das glückliche Paar angeblich eingerichtete Hütte schließlich ein dicht gefüllter Gabentempel ist. Daß das Ganze eine Komödie, die Hochzeitsgeschenke sämmtlich gestohlen sind, die Wohnung ein Hehlernest ist, alle Festgenossen trotz ihrer weißen Binden eitel Einbrecher und Spitzbuben, kennt man in eingeweihten Kreisen nur zu genau. Die Partie geht, wie immer, zurück, Gold- und Silberwaaren, Teppiche und Stoffe werden deshalb zu Schleuderpreisen verkauft – wenn nicht die Criminalpolizei Kehraus macht.

Wie kommen jene zwölf- bis dreizehnjährigen Mädchen in das Verbrecher-Album? Sie wurden wiederholt dabei betroffen, als sie kleinen Kindern im Hausflur die Ohrringe abnahmen, jedenfalls ein bedeutsamer Anfang auf der Bahn des Bösen. Eine preisgekrönte Schönheit in ganzer Figur, edlen Formen und gewählter Toilette erregt das Interesse jedes Unbefangenen, die schwärmerischen Augen, die feingeschnittene Nase und das zierliche Mündchen können nur einem „Ideale“ angehören, jene zarten Hände greifen gewiß nur in die Tasten des Coucertflügels … Welche Täuschung! Die vielbewunderte Dame ist ein – Mann, der sein gefälliges Aeußere zu Räubereien und anderen Schandthaten benutzt.

Es entsteht die Frage: Wem wird die zweifelhafte Ehre zu Theil, in das Verbrecher-Album aufgenommen zu werden? Allen Personen, von denen die Behörde annimmt, daß sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach ihrer Bestrafung das Verbrechen in Berlin oder außerhalb der Stadt fortsetzen. Unser Strafsystem würde indeß eine herbe Kritik erfahren, wenn sämmtliche „Albumler“ die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit machten. Viele der hier conterfeiten Personen haben nach gesühnter That längst den Pfad des Guten wieder betreten und sind tüchtige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden; daß sie trotzdem in der Gallerie weitergeführt werden, ist ein bedauerlicher, aber unvermeidlicher Uebelstand. Aus diesen und anderen Gründen ist das Verbrecher-Album Unberufenen verschlossen. Kein Portrait zeigt einen Namen, und die Sammlung wird nur denjenigen Personen vorgelegt, die an der Ermittelung eines Missethäters gegründetes Interesse haben. In solchen Fällen rief schon mancher von Bauernfängern arg gerupfte Provinziale oder sonstwie Betrogene und Geschädigte sein „Heureka“ (Gefunden)!

Das Album versagt seinen Dienst selten und wird zum Schrecken der Verbrecherwelt ein öffentlicher Angeber. Von welcher Bedeutung es für die allgemeine Sicherheit ist, möge die Thatsache erhellen, daß durch diese Photographien jährlich circa 200 „Gesuchte“ ermittelt werden. Zwischen verschiedenen auswärtigen und den Berliner Behörden findet ein Austausch eigens angefertigter Doubletten statt, ja man beschenkt sich gegenseitig mit Albums in Taschenformat, welche auserlesene „Specialitäten“ enthalten. Wo immer ein großer Menschenzusammenfluß stattfindet, bei Sänger-, Turn-, Schützenfesten, Messen etc., trifft die ortsangehörige Polizei ihre Vorbereitungen zum Empfang ihrer oft angemeldeten Gäste, das heißt Spitzbuben, und veranlaßt die Beamten zu eingehenden Studien im Fest-Album; daß sich hieran manche für den Ankömmling unerwünschte Erkennungs-, Begrüßungs- und „Schub“-Scene knüpft, spricht eben wieder für die Wunderkraft des Bilderbuches. Brauchbarkeit und Erfolg des letzteren hängen wesentlich von der Qualität und Herstellung des photographischen Portraits ab, mit welcher Aufgabe die bekannte Firma Zielsdorff und Adler seit dem achtjährigen Bestehen des Albums betraut ist.

Nur wenige der Photographirten unterschätzen die Tragweite der Aufnahme, die meisten wissen vielmehr recht genau zu beurtheilen, welche Consequenzen das Stillsitzen vor der Camera obscura nach sich zieht. Man hat beobachtet, daß das weibliche Geschlecht der Procedur nicht die geringsten Schwierigkeiten entgegensetzt. Jung und Alt wird sichtlich von der Eitelkeit bewegt und sucht sich in der vortheilhaftesten Stellung und mit dem brillantesten Augenaufschlag verewigen zu lassen; mögen doch unter den Vorgeführten manche sein, welche nicht zum ersten Male ein photographisches Atelier betreten und ihre Erfahrungen im „Sitzen“ hier gern zur Anwendung bringen.

Anders gestaltet sich der criminal-künstlerische Act bei dem starken Geschlecht; ein bestimmter Procentsatz fühlt sich geehrt, hält still und läßt sich ruhig und stolz abnehmen, als wäre das Bild für die Mutter oder Braut bestimmt. Gewiegte Verbrecher versuchen aber mit allen nur denkbaren Mitteln die bildliche Fixirung zu verhindern oder das Resultat fragwürdig zu machen. Da geht es denn nicht ohne erheiternde Scenen und komische Zwischenfälle ab.

Einige Renitente blasen die Backen auf und verdrehen die Augen, andere machen lange Gesichter, runzeln die Stirn, wackeln mit der herausgesteckten Zunge, „rümpfen“ die Nase oder verzerren in unglaublicher Beweglichkeit die Muskeln. Oft müssen die begleitenden Beamten das „Object“ beim Schopf nehmen, um es „mit Gewalt“ photographiren zu lassen. Das Resultat derartiger Zwangsmaßregeln ist denn auch ein sehr komisches, so erscheinen auf den Bildern dreier des Diamantendiebstahls und der Beraubung eines Cassenbotens bezichtigter englischer Hochstapler an Schultern, Armen, Brust und Schenkeln eine Menge kräftiger, festhaltender Hände, deren Eigenthümer zweifellos die ganze Bedeutung des Scheffel’schen „Hammer dich emol, an dei’m verrissene Camisol“ ermessen mögen.

Die Gauner verziehen trotz alledem das Gesicht in der fabelhaftesten Weise, sodaß das Bild von zwerchfellerschütternder Wirkung ist. In besonderen hartnäckigen Fällen wird dieses Fest- und Abnahmeverfahren eingestellt, man bringt den Verbrecher im Laufe eines Gesprächs in die erwünschte Stellung und benutzt den geeigneten Moment zur Anfertigung eines Augenblicksbildes, was bei dem heutigen Standpunkt der Technik und unter Anwendung der Trockenplatte keine Schwierigkeiten darbietet. Ganz „gerissene“ Gauner wissen auch diese Procedur zu vereiteln und meiden jede für eine etwaige Augenblicksaufnahme geeignete Situation, sie entgehen ihrem Schicksal aber doch nicht, denn in der nächsten gerichtlichen Verhandlung, in welcher der photographiescheue Spitzbube ausnahmsweise in vortheilhaftes Licht gesetzt wird, sitzt an dem grünen Tische neben dem Schreiber vor einem Haufen Acten ein eifrig arbeitender Herr (Portraitzeichner), dem der Inculpat diesmal nicht entschlüpft, das Bleistift- oder Kreidebild wird photographisch vervielfältigt und der „schlechte Kerl“ klebt im Verbrecher-Album. Gustav Schubert.