Critik der reinen Vernunft (1781)/Des ersten Hauptstücks Zweiter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs.


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Des ersten Hauptstücks
Zweiter Abschnitt.
Die
Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung
ihres polemischen Gebrauchs.
Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Critik unterwerfen und kan der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, daß sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kent, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht so gar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch iederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren ieglicher seine Bedenklichkeiten,| ia sogar sein veto, ohne Zurückhalten muß äussern können.

 Ob nun aber gleich die Vernunft sich der Critik niemals verweigern kan, so hat sie doch nicht iederzeit Ursache, sie zu scheuen. Aber die reine Vernunft in ihrem dogmatischen (nicht mathematischen) Gebrauche ist sich nicht so sehr der genauesten Beobachtung ihrer obersten Gesetze bewust, daß sie nicht mit Blödigkeit, ia mit gänzlicher Ablegung alles angemaßten dogmatischen Ansehens, vor dem critischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen müßte.

 Ganz anders ist es bewandt, wenn sie es nicht mit der Censur des Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu thun hat und sich dagegen blos vertheidigen soll. Denn, da diese eben sowol dogmatisch seyn wollen, obzwar im Verneinen, als iene im Beiahen: so findet eine Rechtfertigung κατ’ ἀνθρωπον statt, die wider alle Beeinträchtigung sichert und einen titulirten Besitz verschaft, der keine fremde Anmassungen scheuen darf, ob er gleich selbst κατ’ αληθειαν nicht hinreichend bewiesen werden kan.

 Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Vernunft verstehe ich nun die Vertheidigung ihrer Sätze gegen die dogmatische Verneinungen derselben. Hier komt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht vielleicht auch falsch seyn möchten, sondern nur, daß niemand das Gegentheil iemals mit apodictischer Gewißheit (ia auch| nur mit grösserem Scheine) behaupten könne. Denn wir sind alsdenn doch nicht bittweise in unserem Besitz, wenn wir einen, obzwar nicht hinreichenden Titel derselben vor uns haben und es völlig gewiß ist, daß niemand die Unrechtmässigkeit dieses Besitzes iemals beweisen könne.

 Es ist etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes: daß es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit gerathen soll. Zwar hatten wir oben eine solche scheinbare Antithetik derselben vor uns, aber es zeigte sich, daß sie auf einem Mißverstande beruhete, da man nemlich, dem gemeinen Vorurtheile gemäß, Erscheinungen vor Sachen an sich selbst nahm und denn eine absolute Vollständigkeit ihrer Synthesis, auf eine oder andere Art (die aber auf beiderley Art gleich unmöglich war), verlangte, welches aber von Erscheinungen gar nicht erwartet werden kan. Es war also damals kein wirklicher Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst bey den Sätzen: die Reihe an sich gegebener Erscheinungen hat einen absolutersten Anfang und: diese Reihe ist schlechthin und an sich selbst ohne allen Anfang; denn beide Sätze bestehen gar wol zusammen, weil Erscheinungen nach ihrem Daseyn (als Erscheinungen) an sich selbst gar nichts, d. i. etwas widersprechendes sind und also deren Voraussetzung natürlicher Weise widersprechende Folgerungen nach sich ziehen muß.

|  Ein solcher Mißverstand kan aber nicht vorgewandt und dadurch der Streit der Vernunft beygelegt werden, wenn etwa theistisch behauptet würde: es ist ein höchstes Wesen und dagegen atheistisch: es ist kein höchstes Wesen, oder, in der Psychologie: alles was da denkt, ist von absoluter beharrlicher Einheit und also von aller vergänglichen materiellen Einheit unterschieden, welchem ein anderer entgegensezte: die Seele ist nicht immaterielle Einheit und kan von der Vergänglichkeit nicht ausgenommen werden. Denn der Gegenstand der Frage ist hier von allem fremdartigen, das seiner Natur widerspricht, frey und der Verstand hat es nur mit Sachen an sich selbst und nicht mit Erscheinungen zu thun. Es würde also hier freilich ein wahrer Widerstreit anzutreffen seyn, wenn nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte, was dem Grunde einer Behauptung nahe käme; denn was die Critik der Beweisgründe des Dogmatischbeiahenden betrift, die kan man ihm sehr wol einräumen, ohne darum diese Sätze aufzugeben, die doch wenigstens das Interesse der Vernunft vor sich haben, darauf sich der Gegner gar nicht berufen kan.
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 Ich bin zwar nicht der Meinung, welche vortrefliche und nachdenkende Männer (z. B. Sulzer) so oft geäussert haben, da sie die Schwäche der bisherigen Beweise fühlten: daß man hoffen könne, man werde dereinst noch evidente Demonstrationen der zween Cardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben,| erfinden. Vielmehr bin ich gewiß, daß dieses niemals geschehen werde. Denn, wo will die Vernunft den Grund zu solchen synthetischen Behauptungen, die sich nicht auf Gegenstände der Erfahrung und deren innerer Möglichkeit beziehen, hernehmen? Aber es ist auch apodictisch gewiß, daß niemals irgend ein Mensch auftreten werde, der das Gegentheil mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch behaupten könne. Denn, weil er dieses doch blos durch reine Vernunft darthun könte, so müßte er es unternehmen, zu beweisen: daß ein höchstes Wesen, daß das in uns denkende Subiect, als reine Intelligenz, unmöglich sey. Wo will er aber die Kentnisse hernehmen, die ihn, von Dingen über alle mögliche Erfahrung hinaus so synthetisch zu urtheilen, berechtigen. Wir können also darüber ganz unbekümmert seyn: daß uns iemand das Gegentheil einstens beweisen werde, daß wir darum eben nicht nöthig haben, auf schulgerechte Beweise zu sinnen, sondern immerhin dieienigen Sätze annehmen können, welche mit dem speculativen Interesse unserer Vernunft im empirischen Gebrauch ganz wol zusammenhängen und überdem, es mit dem practischen Interesse zu vereinigen die einzige Mittel sind. Vor den Gegner (der hier nicht blos als Critiker betrachtet werden muß), haben wir unser non liquet in Bereitschaft, welches ihn unfehlbar verwirren muß, indessen daß wir die Retorsion desselben auf uns nicht weigeren, indem wir die subiective Maxime der Vernunft beständig im Rückhalte| haben, die dem Gegner nothwendig fehlt, und unter deren Schutz, wir alle seine Luststreiche mit Ruhe und Gleichgültigkeit ansehen können.

 Auf solche Weise giebt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen Vernunft. Denn der einzige Kampfplatz vor sie würde auf dem Felde der reinen Theologie und Psychologie zu suchen seyn; dieser Boden aber trägt keinen Kämpfer in seiner ganzen Rüstung und mit Waffen, die zu fürchten wären. Er kan nur mit Spott oder Großsprecherey[WS 1] auftreten, welches als ein Kinderspiel belacht werden kan. Das ist eine tröstende Bemerkung, die der Vernunft wieder Muth giebt, denn, worauf wolte sie sich sonst verlassen, wenn sie, die allein alle Irrungen abzuthun berufen ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Besitz hoffen zu können?

 Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut. Selbst Gifte dienen dazu, andere Gifte, welche sich in unseren eigenen Säften erzeugen, zu überwältigen und dürfen daher in einer vollständigen Sammlung von Heilmitteln (Officin) nicht fehlen. Die Einwürfe, wider die Ueberredungen und den Eigendünkel unserer blos speculativen Vernunft, sind selbst durch die Natur dieser Vernunft aufgegeben und müssen also ihre gute Bestimmung und Absicht haben, die man nicht in den Wind schlagen[WS 2] muß. Wozu hat uns die Vorsehung manche Gegenstände, ob sie gleich mit unserem höchsten Interesse zusammenhängen, so hoch gestellt, daß uns fast| nur vergönnet ist, sie in einer undeutlichen und von uns selbst bezweifelten Wahrnehmung anzutreffen, dadurch ausspähende Blicke mehr gereizt, als befriedigt werden. Ob es nützlich sey, in Ansehung solcher Aussichten dreuste Bestimmungen zu wagen, ist wenigstens zweifelhaft, vielleicht gar schädlich. Allemal aber und ohne allen Zweifel ist es nützlich, die forschende sowol, als prüfende Vernunft in völlige Freiheit zu versetzen, damit sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen könne, welches eben so wol dadurch befördert wird, dadurch, daß sie ihren Einsichten Schranken sezt, als daß sie solche erweitert und welches allemal leidet, wenn sich fremde Hände einmengen, um sie wider ihren natürlichen Gang nach erzwungenen Absichten zu lenken.
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 Lasset demnach euren Gegner nur Vernunft sagen und bekämpfet ihn blos mit Waffen der Vernunft. Uebrigens seyd wegen der guten Sache (des practischen Interesse) ausser Sorgen, denn die komt im blos speculativen Streite niemals mit ins Spiel. Der Streit entdeckt alsdenn nichts, als eine gewisse Antinomie der Vernunft, die, da sie auf ihrer Natur beruhet, nothwendig angehört und geprüft werden muß. Er cultivirt dieselbe durch Betrachtung ihres Gegenstandes auf zweien Seiten und berichtigt ihr Urtheil dadurch, daß er solches einschränkt. Das, was hiebey strittig wird, ist nicht die Sache, sondern der Ton. Denn es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Vernunft gerechtfertigte Sprache eines festen| Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich die des Wissens habt aufgeben müssen.
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 Wenn man den kaltblütigen, zum Gleichgewichte des Urtheils eigentlich geschaffenen David Hume fragen solte: was bewog euch, durch mühsam ergrübelte Bedenklichkeiten, die vor den Menschen so tröstliche und nützliche Ueberredung, daß ihre Vernunfteinsicht zur Behauptung und dem bestimten Begriff eines höchsten Wesens zulange, zu untergraben? so würde er antworten: nichts, als die Absicht, die Vernunft in ihrer Selbsterkentniß weiter zu bringen und zugleich ein gewisser Unwille über den Zwang, den man der Vernunft anthun will, indem man mit ihr groß thut und sie zugleich hindert, ein freimüthiges Geständniß ihrer Schwächen abzulegen, die ihr bey der Prüfung ihrer selbst offenbar werden. Fragt ihr dagegen den, den Grundsätzen des empirischen Vernunftgebrauchs allein ergebenen, und aller transscendenten Speculation abgeneigten Priestley, was er vor Bewegungsgründe gehabt habe, unserer Seele Freiheit und Unsterblichkeit (die Hoffnung des künftigen Lebens ist bey ihm nur die Erwartung eines Wunders der Wiedererweckung), zwey solche Grundpfeiler aller Religion niederzureissen, er, der selbst ein frommer und eifriger Lehrer der Religion ist, so würde er nichts anders antworten können, als: das Interesse der Vernunft, welche dadurch verliert, daß man gewisse Gegenstände den Gesetzen der materiellen Natur, den einzigen, die wir genau kennen und bestimmen können,| entziehen will. Es würde unbillig scheinen, den lezteren, der seine paradoxe Behauptung mit der Religionsabsicht zu vereinigen weiß, zu verschreien und einem woldenkenden Manne wehe zu thun, weil er sich nicht zurechte finden kan, so bald er sich aus dem Felde der Naturlehre verlohren hatte. Aber diese Gunst muß dem nicht minder gutgesinnten und seinem sittlichen Character nach untadelhaften Hume eben so wol zu Statten kommen, der seine abgezogene Speculation darum nicht verlassen kan, weil er mit Recht davor hält, daß ihr Gegenstand ganz ausserhalb den Gränzen der Naturwissenschaft im Felde reiner Ideen liege.
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 Was ist nun hiebey zu thun, vornemlich in Ansehung der Gefahr, die daraus dem gemeinen Besten zu drohen scheinet? Nichts ist natürlicher, nichts billiger, als die Entschliessung, die ihr deshalb zu nehmen habt. Laßt diese Leute nur machen; wenn sie Talent, wenn sie tiefe und neue Nachforschung, mit einem Worte, wenn sie nur Vernunft zeigen, so gewint iederzeit die Vernunft. Wenn ihr andere Mittel ergreift, als die einer zwangslosen Vernunft, wenn ihr über Hochverrath schreiet, das gemeine Wesen, das sich auf so subtile Bearbeitungen gar nicht versteht, gleichsam als zum Feuerlöschen zusammen ruft, so macht ihr euch lächerlich. Denn es ist die Rede gar nicht davon, was dem gemeinen Besten hierunter vortheilhaft, oder nachtheilig sey, sondern nur, wie weit die Vernunft es wol in ihrer von allem Interesse abstrahirenden| Speculation bringen könne und, ob man auf diese überhaupt etwas rechnen, oder sie lieber gegen das Practische gar aufgeben müsse. Anstatt also mit dem Schwerdte darein zu schlagen, so sehet vielmehr von dem sicheren Sitze der Critik diesem Streite geruhig zu, der vor die Kämpfende mühsam, vor euch unterhaltend und bey einem, gewiß unblutigen Ausgange, vor eure Einsichten ersprießlich ausfallen muß. Denn es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie nothwendig ausfallen müsse. Ueberdem wird Vernunft schon von selbst durch Vernunft so wol gebändigt und in Schranken gehalten, daß ihr gar nicht nöthig habt, Schaarwachen aufzubieten, um demienigen Theile, dessen besorgliche Obermacht euch gefährlich scheint, bürgerlichen Widerstand entgegen zu setzen. In dieser Dialectik giebts keinen Sieg, über den ihr besorgt zu seyn Ursache hättet.

 Auch bedarf die Vernunft gar sehr eines solchen Streits und es wäre zu wünschen, daß er eher und mit uneingeschränkter öffentlicher Erlaubniß wäre geführt worden. Denn um desto früher wäre eine reife Critik zu Stande gekommen, bey deren Erscheinung alle diese Streithändel von selbst wegfallen müssen, indem die Streitenden ihre Verblendung und Vorurtheile, welche sie veruneinigt haben, einsehen lernen.

 Es giebt eine gewisse Unlauterkeit in der menschlichen Natur, die am Ende doch, wie alles, was von der| Natur komt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß, nemlich eine Neigung, seine wahre Gesinnungen zu verheelen und gewisse angenommene, die man vor gut und rühmlich hält, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die Menschen durch diesen Hang, so wol sich zu verheelen, als auch einen ihnen vortheilhaften Schein anzunehmen, sich nicht blos civilisirt, sondern nach und nach, in gewisser Maasse, moralisirt, weil keiner durch die Schmincke der Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit durchdringen konte, also an vermeintlich ächten Beispielen des Guten, die er um sich sahe, eine Schule der Besserung vor sich selbst fand. Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als man ist und Gesinnungen zu äussern, die man nicht hat, dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kent, annehmen zu lassen; denn nachher, wenn die ächte Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß iene Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen, unter dem Wucherkraute des schönen Scheins, nicht aufkommen läßt.
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 Es thut mir leid, eben dieselbe Unlauterkeit, Verstellung und Heucheley sogar in den Aeusserungen der speculativen Denkungsart wahrzunehmen, worin doch Menschen, das Geständniß ihrer Gedanken billiger Maassen offen und unverholen zu entdecken, weit weniger Hindernisse und| gar keinen Vortheil haben. Denn was kan den Einsichten nachtheiliger seyn, als so gar blosse Gedanken verfälscht einander mitzutheilen, Zweifel, die wir wider unsere eigene Behauptungen fühlen, zu verheelen, oder Beweisgründen, die uns selbst nicht gnug thun, einen Anstrich von Evidenz zu geben. So lange indessen blos die Privateitelkeit diese geheime Ränke anstiftet (welches in speculativen Urtheilen, die kein besonderes Interesse haben und nicht leicht einer apodictischen Gewißheit fähig sind, gemeiniglich der Fall ist), so widersteht denn doch die Eitelkeit anderer mit öffentlicher Genehmigung und die Sachen kommen zulezt dahin, wo die lauterste Gesinnung und Aufrichtigkeit, obgleich weit früher, sie gebracht haben würde. Wo aber das gemeine Wesen davor hält: daß spitzfindige Vernünftler mit nichts minderem umgehen, als die Grundveste der öffentlichen Wolfahrt wankend zu machen, da scheint es nicht allein der Klugheit gemäß, sondern auch erlaubt und wol gar rühmlich, der guten Sache eher durch Scheingründe zu Hülfe zu kommen, als den vermeintlichen Gegnern derselben auch nur den Vortheil zu lassen, unseren Ton zur Mässigung einer blos practischen Ueberzeugung herabzustimmen, und uns zu nöthigen, den Mangel der speculativen und apodictischen Gewißheit zu gestehen. Indessen sollte ich denken: daß sich mit der Absicht, eine gute Sache zu behaupten, in der Welt wol nichts übler, als Hinterlist, Verstellung und Betrug vereinigen lasse. Daß es in der Abwiegung der Vernunftgründe| einer blossen Speculation alles ehrlich zugehen müsse, ist wol das Wenigste, was man fodern kan. Könte man aber auch nur auf dieses Wenige sicher rechnen, so wäre der Streit der speculativen Vernunft über die wichtigen Fragen von Gott, der Unsterblichkeit (der Seele) und der Freiheit, entweder längst entschieden, oder würde sehr bald zu Ende gebracht werden. So steht öfters die Lauterkeit der Gesinnung im umgekehrten Verhältnisse der Gutartigkeit der Sache selbst und diese hat vielleicht mehr aufrichtige und redliche Gegner, als Vertheidiger.
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 Ich setze also Leser voraus, die keine gerechte Sache mit Unrecht vertheidigt wissen wollen. In Ansehung deren ist es nun entschieden, daß, nach unseren Grundsätzen der Critik, wenn man nicht auf dasienige sieht, was geschieht, sondern was billig geschehen sollte, es eigentlich gar keine Polemik der reinen Vernunft geben müsse. Denn wie können zwey Personen einen Streit über eine Sache führen, deren Realität keiner von beiden in einer wirklichen, oder auch nur möglichen Erfahrung darstellen kan, über deren Idee er allein brütet, um aus ihr etwas mehr als Idee, nemlich, die Wirklichkeit des Gegenstandes selbst heraus zu bringen? Durch welches Mittel wollen sie aus dem Streite heraus kommen, da keiner von beiden seine Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, sondern nur die seines Gegners angreifen und widerlegen kan? Denn dieses ist das Schicksal aller Behauptungen der reinen| Vernunft: daß, da sie über die Bedingungen aller möglichen Erfahrung hinausgehen, ausserhalb welchen kein Document der Wahrheit irgendwo angetroffen wird, sich aber gleichwol der Verstandesgesetze, die blos zum empirischen Gebrauch bestimt sind, ohne die sich aber kein Schritt im synthetischen Denken thun läßt, bedienen müssen, sie dem Gegner iederzeit Blössen geben und sich gegenseitig die Blösse ihres Gegners zu Nutzen machen können.

 Man kan die Critik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof vor alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die leztere, als welche auf Obiecte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesezt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurtheilen.

 Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kan ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Critik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimt, deren Ansehen keiner bezweifeln kan, verschaft uns die Ruhe eines gesezlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Proceß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Theile rühmen, auf den mehrentheils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich| ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trift, einen ewigen Frieden gewähren muß. Auch nöthigen die endlosen Streitigkeiten einer blos dogmatischen Vernunft, endlich in irgend einer Critik dieser Vernunft, selbst und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sey ein Stand des Unrechts und der Gewaltthätigkeit und man müsse ihn nothwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin einschränkt, daß sie mit iedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne.
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 Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kan, öffentlich zur Beurtheilung auszustellen, ohne darüber vor einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrieen zu werden. Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkent, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein ieder seine Stimme hat und, da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß: so ist ein solches Recht heilig, und darf nicht geschmälert werden. Auch ist es sehr unweise, gewisse gewagte Behauptungen oder vermessene Angriffe, auf die, welche schon die Beistimmung des größten und besten Theils des gemeinen Wesens auf ihrer Seite haben, vor gefährlich auszuschreien; denn das heißt, ihnen eine| Wichtigkeit geben, die sie gar nicht haben solten. Wenn ich höre: daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menschlichen Willen, die Hoffnung eines künftigen Lebens, und das Daseyn Gottes wegdemonstrirt haben solte, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, daß er meine Einsichten weiter bringen werde. Das weis ich schon zum voraus völlig gewiß: daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht darum, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Beweise dieser wichtigen Sätze zu seyn glaubete, sondern weil mich die transscendentale Critik, die mir den ganzen Vorrath unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig überzeugt hat, daß, so wie sie zu beiahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger werde sie wissen, um über diese Fragen etwas verneinend behaupten zu können. Denn, wo will der angebliche Freigeist seine Kentniß hernehmen, daß es z. B. kein höchstes Wesen gebe. Dieser Satz liegt ausserhalb dem Felde möglicher Erfahrung, und darum auch ausser den Gränzen aller menschlichen Einsicht. Den dogmatischen Vertheidiger der guten Sache gegen diesen Feind würde ich gar nicht lesen, weil ich zum voraus weis: daß er nur darum die Scheingründe des anderen angreifen werde, um seinen eigenen Eingang zu verschaffen, über dem ein alltägiger Schein doch nicht so viel Stoff zu neuen Bemerkungen giebt, als ein befremdlicher und sinnreich ausgedachter. Hingegen würde der, nach seiner Art, auch dogmatische| Religionsgegner, meiner Critik gewünschte Beschäftigung und Anlaß zu mehrerer Berichtigung ihrer Grundsätze geben, ohne daß seinetwegen im mindesten etwas zu befürchten wäre.

 Aber die Jugend, welche dem academischen Unterrichte anvertrauet ist, soll doch wenigstens vor dergleichen Schriften gewarnet, und von der frühen Kentniß so gefährlicher Sätze abgehalten werden, ehe ihre Urtheilskraft gereift, oder vielmehr die Lehre, welche man in ihnen gründen will, fest gewurzelt ist, um aller Ueberredung zum Gegentheil, woher sie auch kommen möge, kräftig zu widerstehen?

 Müßte es bey dem dogmatischen Verfahren in Sachen der reinen Vernunft bleiben und die Abfertigung der Gegner eigentlich polemisch, d. i. so beschaffen seyn, daß man sich ins Gefechte einliesse, und mit Beweisgründen zu entgegengesezten Behauptungen bewaffnete, so wäre freilich nichts rathsamer vor der Hand, aber zugleich nichts eiteler und fruchtloser auf die Dauer, als die Vernunft der Jugend eine zeitlang unter Vormundschaft zu setzen, und wenigstens so lange vor Verführung zu bewahren. Wenn aber in der Folge entweder Neugierde, oder der Modeton des Zeitalters ihr dergleichen Schriften in die Hände spielen: wird alsdann iene iugendliche Ueberredung noch Stich halten? Derienige, der nichts als dogmatische Waffen mitbringt, um den Angriffen seines Gegners zu widerstehen und die verborgene Dialectik, die nicht minder| in seinem eigenen Busen, als in dem des Gegentheils liegt, nicht zu entwickeln weis, sieht Scheingründe, die den Vorzug der Neuigkeit haben, gegen Scheingründe, welche dergleichen nicht mehr haben, sondern vielmehr den Verdacht einer mißbrauchten Leichtgläubigkeit der Jugend erregen, auftreten. Er glaubt nicht besser zeigen zu können, daß er der Kinderzucht entwachsen sey, als wenn er sich über iene wolgemeinte Warnungen wegsezt und, dogmatisch gewohnt, trinkt er das Gift, das seine Grundsätze dogmatisch verdirbt, in langen Zügen in sich.
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 Gerade das Gegentheil von dem, was man hier anräth, muß in der academischen Unterweisung geschehen, aber freilich nur unter der Voraussetzung eines gründlichen Unterrichts in der Critik der reinen Vernunft. Denn, um die Principien derselben so früh als möglich in Ausübung zu bringen und ihre Zulänglichkeit, bey dem größten dialectischen Scheine, zu zeigen, ist es durchaus nöthig, die vor den Dogmatiker so furchtbare Angriffe wider seine, obzwar noch schwache, aber durch Critik aufgeklärte Vernunft zu richten und ihn den Versuch machen zu lassen, die grundlose Behauptungen des Gegners Stück vor Stück an ienen Grundsätzen zu prüfen. Es kan ihm gar nicht schwer werden, sie in lauter Dunst aufzulösen, und so fühlt er frühzeitig seine eigene Kraft, sich wider dergleichen schädliche Blendwerke, die vor ihn zulezt allen Schein verliehren müssen, völlig zu sichern. Ob nun zwar eben dieselbe| Streiche, die das Gebäude des Feindes niederschlagen, auch seinem eigenen speculativen Bauwerke, wenn er etwa dergleichen zu errichten gedächte, eben so verderblich seyn müssen: so ist er darüber doch gänzlich unbekümmert, indem er es gar nicht bedarf, darinnen zu wohnen, sondern noch eine Aussicht in das practische Feld vor sich hat, wo er mit Grunde einen festeren Boden hoffen kan, um darauf sein vernünftiges und heilsames System zu errichten.

 So giebts demnach keine eigentliche Polemik im Felde der reinen Vernunft. Beide Theile sind Luftfechter, die sich mit ihrem Schatten herumbalgen, denn sie gehen über die Natur hinaus, wo vor ihre dogmatische Griffe nichts vorhanden ist, was sich fassen und halten liesse. Sie haben gut kämpfen; die Schatten, die sie zerhauen, wachsen, wie die Helden in Valhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um sich aufs neue in unblutigen Kämpfen belustigen zu können.

 Es giebt aber auch keinen zulässigen sceptischen Gebrauch der reinen Vernunft, welchen man den Grundsatz der Neutralität bey allen ihren Streitigkeiten nennen könte. Die Vernunft wider sich selbst zu verhetzen, ihr auf beiden Seiten Waffen zu reichen und alsdenn ihrem hitzigsten Gefechte ruhig und spöttisch zuzusehen, sieht aus einem dogmatischen Gesichtspuncte nicht wol aus, sondern hat das Ansehen einer schadenfrohen und hämischen Gemüthsart an sich. Wenn man indessen die unbezwingliche Verblendung und das Großthun der Vernünftler, die sich| durch keine Critik will mässigen lassen, ansieht, so ist doch wirklich kein anderer Rath, als der Großsprecherey auf einer Seite, eine andere, welche auf eben dieselbe Rechte fusset, entgegen zu setzen, damit die Vernunft durch den Widerstand eines Feindes wenigstens nur stutzig gemacht werde, um in ihre Anmassungen einigen Zweifel zu setzen, und der Critik Gehör zu geben. Allein es bey diesen Zweifeln gänzlich bewenden zu lassen und es darauf auszusetzen, die Ueberzeugung und das Geständniß seiner Unwissenheit, nicht blos als ein Heilmittel wider den dogmatischen Eigendünkel, sondern zugleich als die Art, den Streit der Vernunft mit sich selbst zu beendigen, empfehlen zu wollen, ist ein ganz vergeblicher Anschlag und kan keinesweges dazu tauglich seyn, der Vernunft einen Ruhestand zu verschaffen, sondern ist höchstens nur ein Mittel, sie aus ihrem süssen dogmatischen Traume zu erwecken, um ihren Zustand in sorgfältigere Prüfung zu ziehen. Da indessen diese sceptische Manier, sich aus einem verdrießlichen Handel der Vernunft zu ziehen, gleichsam der kurze Weg zu seyn scheint, zu einer beharrlichen philosophischen Ruhe zu gelangen, wenigstens die Heeresstrasse, welche dieienigen gern einschlagen, die sich in einer spöttischen Verachtung aller Nachforschungen dieser Art ein philosophisches Ansehen zu geben meinen, so finde ich es nöthig, diese Denkungsart in ihrem eigenthümlichen Lichte darzustellen.


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Von der
Unmöglichkeit einer sceptischen Befriedigung
der mit sich selbst veruneinigten reinen
Vernunft.
 Das Bewustseyn meiner Unwissenheit, (wenn diese nicht zugleich als nothwendig erkant wird) statt, daß sie meine Untersuchungen endigen solte, ist vielmehr die eigentliche Ursache, sie zu erwecken. Alle Unwissenheit ist entweder die der Sachen, oder der Bestimmung und Gränzen meiner Erkentniß. Wenn die Unwissenheit nun zufällig ist, so muß sie mich antreiben, im ersteren Falle den Sachen (Gegenständen) dogmatisch, im zweiten den Gränzen meiner möglichen Erkentniß critisch nachzuforschen. Daß aber meine Unwissenheit schlechthin nothwendig sey, und mich daher von aller weiteren Nachforschung freispreche, läßt sich nicht empirisch, aus Beobachtung, sondern allein critisch, durch Ergründung der ersten Quellen unserer Erkentniß ausmachen. Also kan die Gränzbestimmung unserer Vernunft nur nach Gründen a priori geschehen, die Einschränkung derselben aber, welche eine, obgleich nur unbestimte Erkentniß einer nie völlig zu hebenden Unwissenheit ist, kan auch a posteriori, durch das, was uns bey allem Wissen immer noch zu wissen übrig bleibt, erkant werden. Jene, durch Critik der Vernunft selbst allein mögliche Erkentniß seiner Unwissenheit ist also Wissenschaft, diese ist nichts als Wahrnehmung, von der| man nicht sagen kan, wie weit der Schluß aus selbiger reichen möge. Wenn ich mir die Erdfläche (dem sinnlichen Scheine gemäß), als einen Teller vorstelle, so kan ich nicht wissen, wie weit sie sich erstrecke. Aber das lehrt mich die Erfahrung: daß, wohin ich nur komme, ich immer einen Raum um mich sehe, dahin ich weiter fortgehen könte, mithin erkenne ich Schranken meiner iedesmal wirklichen Erdkunde, aber nicht die Gränzen aller möglichen Erdbeschreibung. Bin ich aber doch soweit gekommen, zu wissen: daß die Erde eine Kugel und ihre Fläche eine Kugelfläche sey, so kan ich auch aus einem kleinen Theil derselben, z. B. der Grösse eines Grades, den Durchmesser und, durch diesen, die völlige Begränzung der Erde, d. i. ihre Oberfläche bestimt und, nach Principien a priori erkennen und, ob ich gleich in Ansehung der Gegenstände, die diese Fläche enthalten mag, unwissend bin, so bin ich es doch nicht in Ansehung des Umfanges, der sie enthält, der Grösse und Schranken derselben.
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 Der Inbegriff aller möglichen Gegenstände vor unsere Erkentniß scheint uns eine ebene Fläche zu seyn, die ihren scheinbaren Horizont hat, nemlich das, was den ganzen Umfang derselben befasset und ist von uns der Vernunftbegriff der unbedingten Totalität genant worden. Empirisch denselben zu erreichen, ist unmöglich, und nach einem gewissen Princip ihn a priori zu bestimmen, dazu sind alle Versuche vergeblich gewesen. Indessen gehen doch| alle Fragen unserer reinen Vernunft auf das, was ausserhalb diesem Horizonte, oder allenfalls auch in seiner Gränzlinie liegen möge.

 Der berühmte David Hume war einer dieser Geographen der menschlichen Vernunft, welcher iene Fragen insgesamt dadurch hinreichend abgefertigt zu haben vermeinte, daß er sie ausserhalb den Horizont derselben verwies, den er doch nicht bestimmen konte. Er hielte sich vornemlich bey dem Grundsatze der Caussalität auf und bemerkte von ihm ganz richtig: daß man seine Wahrheit (ia nicht einmal die obiective Gültigkeit des Begriffs einer wirkenden Ursache überhaupt) auf gar keine Einsicht, d. i. Erkentniß a priori fusse, daß daher auch nicht im mindesten die Nothwendigkeit dieses Gesetzes, sondern eine blosse allgemeine Brauchbarkeit desselben in dem Laufe der Erfahrung und eine daher entspringende subiective Nothwendigkeit, die er Gewohnheit nent, sein ganzes Ansehen ausmache. Aus dem Unvermögen unserer Vernunft nun, von diesem Grundsatze einen über alle Erfahrung hinausgehenden Gebrauch zu machen, schloß er die Nichtigkeit aller Anmassungen der Vernunft überhaupt über das Empirische hinaus zu gehen.

 Man kan ein Verfahren dieser Art, die Facta der Vernunft der Prüfung und, nach Befinden, dem Tadel zu unterwerfen, die Censur der Vernunft nennen. Es ist ausser Zweifel: daß diese Censur unausbleiblich auf Zweifel gegen allen transscendenten Gebrauch der Grundsätze| führe. Allein dies ist nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet. Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt ist sceptisch und zeugt von Vorsichtigkeit, der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nöthig, der nur der gereiften und männiglichen Urtheilskraft, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat, nemlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkentnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen, welches nicht die Censur, sondern Critik der Vernunft ist, wodurch nicht blos Schranken, sondern die bestimte Gränzen derselben, nicht blos Unwissenheit an einem oder anderen Theil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art und zwar nicht etwa nur vermuthet, sondern aus Principien bewiesen wird. So ist der Scepticism ein Ruheplatz vor die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kan, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte; denn dieser kan nur in einer völligen Gewißheit angetroffen werden, es sey nun der Erkentniß der Gegenstände selbst, oder der Gränzen, innerhalb denen| alle unsere Erkentniß von Gegenständen eingeschlossen ist.

 Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimbarweit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkent, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begränzung derselben mit Sicherheit angeben läßt. Ausser dieser Sphäre (Feld der Erfahrung) ist nichts vor ihr Obiect, ia selbst Fragen über dergleichen vermeintliche Gegenstände betreffen nur subiective Principien einer durchgängigen Bestimmung der Verhältnisse, welche unter den Verstandesbegriffen innerhalb dieser Sphäre vorkommen können.

 Wir sind wirklich im Besitz synthetischer Erkentniß a priori, wie dieses die Verstandesgrundsätze, welche die Erfahrung anticipiren, darthun. Kan iemand nun die Möglichkeit derselben sich gar nicht begreiflich machen, so mag er zwar anfangs zweifeln, ob sie uns auch wirklich a priori beiwohnen, er kan dieses aber noch nicht vor eine Unmöglichkeit derselben, durch blosse Kräfte des Verstandes, und alle Schritte, die die Vernunft nach der Richtschnur derselben thut, vor nichtig ausgeben. Er kan nur sagen: wenn wir ihren Ursprung und Aechtheit einsähen, so würden wir den Umfang und die Gränzen unserer Vernunft bestimmen können; ehe aber dieses geschehen ist,| sind alle Behauptungen der lezten blindlings gewagt. Und auf solche Weise wäre ein durchgängiger Zweifel an alle dogmatische Philosophie, die ohne Critik der Vernunft selbst ihren Gang geht, ganz wol gegründet; allein darum könte doch der Vernunft nicht ein solcher Fortgang, wenn er durch bessere Grundlegung vorbereitet und gesichert würde, gänzlich abgesprochen werden. Denn, einmal liegen alle Begriffe, ia alle Fragen, welche uns die reine Vernunft vorlegt, nicht etwa in der Erfahrung, sondern selbst wiederum nur in der Vernunft und müssen daher können aufgelöset und ihrer Gültigkeit oder Nichtigkeit nach begriffen werden. Wir sind auch nicht berechtigt, diese Aufgaben, als läge ihre Auflösung wirklich in der Natur der Dinge, doch unter dem Vorwande unseres Unvermögens abzuweisen und uns ihrer weiteren Nachforschung zu weigern, da die Vernunft in ihrem Schoße allein diese Ideen selbst erzeugt hat, von deren Gültigkeit oder dialectischen Scheine sie also Rechenschaft zu geben gehalten ist.
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 Alles sceptische Polemisiren ist eigentlich nur wider den Dogmatiker gekehrt, der, ohne ein Mißtrauen auf seine ursprüngliche obiective Principien zu setzen, d. i. ohne Critik gravitätisch seinen Gang fortsezt, blos um ihm das Concept zu verrücken und zur Selbsterkentniß zu bringen. An sich macht sie in Ansehung dessen, was wir wissen und was wir dagegen nicht wissen können, ganz und gar nichts aus. Alle fehlgeschlagene dogmatische Versuche| der Vernunft sind Facta, die der Censur zu unterwerfen immer nützlich ist. Dieses aber kan nichts über die Erwartungen der Vernunft entscheiden, einen besseren Erfolg ihrer künftigen Bemühungen zu hoffen und darauf Ansprüche zu machen; die blosse Censur kan also die Streitigkeit über die Rechtsame der menschlichen Vernunft niemals zu Ende bringen.

 Da Hume, vielleicht der geistreichste unter allen Sceptikern und ohne Widerrede der vorzüglichste in Ansehung des Einflusses ist, den das sceptische Verfahren auf die Erweckung einer gründlichen Vernunftprüfung haben kan, so verlohnt es wol der Mühe, den Gang seiner Schlüsse und die Verirrungen eines einsehenden und schätzbaren Mannes, die doch auf der Spur der Wahrheit angefangen haben, so weit es zu meiner Absicht schicklich ist, vorstellig zu machen.

 Hume hatte es vielleicht in Gedanken, wiewol er es niemals völlig entwickelte: daß wir in Urtheilen von gewisser Art, über unseren Begriff vom Gegenstande hinaus gehen. Ich habe diese Art von Urtheilen synthetisch genant. Wie ich aus meinem Begriffe, den ich bis dahin habe, vermittelst der Erfahrung hinausgehen könne, ist keiner Bedenklichkeit unterworfen. Erfahrung ist selbst eine solche Synthesis der Wahrnehmungen, welche meinen Begriff, den ich vermittelst einer Wahrnehmung habe, durch andere hinzukommende vermehrt. Allein wir glauben auch a priori aus unserem Begriffe hinausgehen und| unser Erkentniß erweitern zu können. Dieses versuchen wir entweder durch den reinen Verstand, in Ansehung desienigen, was wenigstens ein Obiect der Erfahrung seyn kan, oder sogar durch reine Vernunft, in Ansehung solcher Eigenschaften der Dinge, oder auch wol des Daseyns solcher Gegenstände, die in der Erfahrung niemals vorkommen können. Unser Sceptiker unterschied diese beide Arten der Urtheile nicht, wie er es doch hätte thun sollen und hielt geradezu diese Vermehrung der Begriffe aus sich selbst und, so zu sagen, die Selbstgebährung unseres Verstandes (samt der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu seyn, vor unmöglich, mithin alle vermeintliche Principien derselben a priori vor eingebildet, und fand, daß sie nichts als eine, aus Erfahrung und deren Gesetzen entspringende Gewohnheit, mithin blos empirische, d. i. an sich zufällige Regeln seyn, denen wir eine vermeinte Nothwendigkeit und Allgemeinheit beimessen. Er bezog sich aber zu Behauptung dieses befremdlichen Satzes auf den allgemein anerkanten Grundsatz, von dem Verhältniß der Ursache zur Wirkung. Denn da uns kein Verstandesvermögen von dem Begriffe eines Dinges zu dem Daseyn von etwas anderem, was dadurch allgemein und nothwendig gegeben sey, führen kan: so glaubte er daraus folgern zu können, daß wir ohne Erfahrung nichts haben, was unsern Begriff vermehren und uns zu einem solchen a priori sich selbst erweiternden Urtheile berechtigen könte. Daß das Sonnenlicht, welches das Wachs beleuchtet, es| zugleich schmelze, indessen es den Thon härtet, könne kein Verstand aus Begriffen, die wir vorher von diesen Dingen hatten, errathen, viel weniger gesetzmässig schliessen, und nur Erfahrung könne uns ein solches Gesetz lehren. Dagegen haben wir in der transscendentalen Logik gesehen: daß, ob wir zwar niemals unmittelbar über den Inhalt des Begriffs, der uns gegeben ist, hinausgehen können, wir doch völlig a priori, aber in Beziehung auf ein drittes, nemlich mögliche Erfahrung, also doch a priori, das Gesetz der Verknüpfung mit andern Dingen erkennen können. Wenn also vorher festgewesenes Wachs schmilzt, so kan ich a priori erkennen, daß etwas voraus gegangen sein müsse, (z. B. Sonnenwärme) worauf dieses nach einem beständigen Gesetze gefolgt ist, ob ich zwar, ohne Erfahrung, aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung, a priori und ohne Belehrung der Erfahrung bestimt erkennen könte. Er schloß also fälschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze, auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst, und das Herausgehen aus dem Begriffe eines Dinges auf mögliche Erfahrung (welches a priori geschieht und die obiective Realität desselben ausmacht), verwechselte er mit der Synthesis der Gegenstände wirklicher Erfahrung, welche freilich iederzeit empirisch ist; dadurch machte er aber aus einem Princip der Affinität, welches im Verstande seinen Sitz hat, und nothwendige Verknüpfung aussagt, eine Regel der Association, die blos in der nachbildenden Einbildungskraft| angetroffen wird, und nur zufällige, gar nicht obiective Verbindungen darstellen kan.
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 Die sceptische Verirrungen aber dieses sonst äusserst scharfsinnigen Mannes entsprangen vornemlich aus einem Mangel, den er doch mit allen Dogmatikern gemein hatte, nemlich, daß er nicht alle Arten der Synthesis des Verstandes a priori systematisch übersah. Denn da würde er, ohne der übrigen hier Erwähnung zu thun z. B. den Grundsatz der Beharrlichkeit als einen solchen gefunden haben, der eben sowol, als der der Caussalität, die Erfahrung anticipirt. Dadurch würde er auch dem a priori sich erweiternden Verstande und der reinen Vernunft bestimte Gränzen haben vorzeichnen können. Da er aber unsern Verstand nur einschränkt, ohne ihn zu begränzen und zwar ein allgemeines Mißtrauen, aber keine bestimte Kentniß der uns unvermeidlichen Unwissenheit zu Stande bringt, da er einige Grundsätze des Verstandes unter Censur bringt, ohne diesen Verstand in Ansehung seines ganzen Vermögens auf die Probirwage der Critik zu bringen und, indem er ihm dasienige abspricht, was er wirklich nicht leisten kan, weiter geht und ihm alles Vermögen, sich a priori zu erweitern, streitet, unerachtet er dieses ganze Vermögen nicht zur Schätzung gezogen, so wiederfährt ihm das, was iederzeit den Scepticism niederschlägt, nemlich, daß er selbst bezweifelt wird, indem seine Einwürfe nur auf Factis, welche zufällig sind, nicht aber auf Principien| beruhen, die eine nothwendige Entsagung auf das Recht dogmatischer Behauptungen bewirken könten.

 Da er auch zwischen den gegründeten Ansprüchen des Verstandes und den dialectischen Anmassungen der Vernunft, wider welche doch hauptsächlich seine Angriffe gerichtet sind, keinen Unterschied kent: so fühlt die Vernunft, deren ganz eigenthümlicher Schwung hiebey nicht im mindesten gestöhret, sondern nur gehindert worden, den Raum zu ihrer Ausbreitung nicht verschlossen und kan von ihren Versuchen, unerachtet sie hie oder da gezwackt wird, niemals gänzlich abgebracht werden. Denn wider Angriffe rüstet man sich zur Gegenwehr und sezt noch um desto steifer seinen Kopf drauf, um seine Foderungen durchzusetzen. Ein völliger Ueberschlag aber seines ganzen Vermögens und die daraus entspringende Ueberzeugung der Gewißheit eines kleinen Besitzes, bey der Eitelkeit höherer Ansprüche, hebt allen Streit auf und bewegt, sich an einem eingeschränkten, aber unstrittigen Eigenthume friedfertig zu begnügen.

 Wider den uncritischen Dogmatiker, der die Sphäre seines Verstandes nicht gemessen, mithin die Gränzen seiner möglichen Erkentniß nicht nach Principien bestimt hat, der also nicht schon zum voraus weis, wie viel er kan, sondern es durch blosse Versuche ausfindig zu machen denkt, sind diese sceptische Angriffe nicht allein gefährlich, sondern ihm sogar verderblich. Denn, wenn er auf einer einzigen Behauptung betroffen wird, die er nicht rechtfertigen,| deren Schein er aber auch nicht aus Principien entwickeln kan, so fällt der Verdacht auf alle, so überredend sie auch sonst immer seyn mögen.

 Und so ist der Sceptiker der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers auf eine gesunde Critik des Verstandes und der Vernunft selbst. Wenn er dahin gelangt ist, so hat er weiter keine Anfechtung zu fürchten; denn er unterscheidet alsdenn seinen Besitz von dem, was gänzlich ausserhalb demselben liegt, worauf er keine Ansprüche macht und darüber auch nicht in Streitigkeiten verwickelt werden kan. So ist das sceptische Verfahren zwar an sich selbst für die Vernunftfragen nicht befriedigend, aber doch vorübend, um ihre Vorsichtigkeit zu erwecken und auf gründliche Mittel zu weisen, die sie in ihren rechtmässigen Besitzen sichern können.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Grossprecherey
  2. Vorlage: schagen
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