Critik der reinen Vernunft (1781)/Des ersten Hauptstücks Zweiter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs.
« Des ersten Hauptstücks Erster Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche. | Immanuel Kant Critik der reinen Vernunft (1781) Inhalt |
Des ersten Hauptstücks Dritter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen. » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Ob nun aber gleich die Vernunft sich der Critik niemals verweigern kan, so hat sie doch nicht iederzeit Ursache, sie zu scheuen. Aber die reine Vernunft in ihrem dogmatischen (nicht mathematischen) Gebrauche ist sich nicht so sehr der genauesten Beobachtung ihrer obersten Gesetze bewust, daß sie nicht mit Blödigkeit, ia mit gänzlicher Ablegung alles angemaßten dogmatischen Ansehens, vor dem critischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen müßte.
Ganz anders ist es bewandt, wenn sie es nicht mit der Censur des Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu thun hat und sich dagegen blos vertheidigen soll. Denn, da diese eben sowol dogmatisch seyn wollen, obzwar im Verneinen, als iene im Beiahen: so findet eine Rechtfertigung κατ’ ἀνθρωπον statt, die wider alle Beeinträchtigung sichert und einen titulirten Besitz verschaft, der keine fremde Anmassungen scheuen darf, ob er gleich selbst κατ’ αληθειαν nicht hinreichend bewiesen werden kan.
Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Vernunft verstehe ich nun die Vertheidigung ihrer Sätze gegen die dogmatische Verneinungen derselben. Hier komt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht vielleicht auch falsch seyn möchten, sondern nur, daß niemand das Gegentheil iemals mit apodictischer Gewißheit (ia auch| nur mit grösserem Scheine) behaupten könne. Denn wir sind alsdenn doch nicht bittweise in unserem Besitz, wenn wir einen, obzwar nicht hinreichenden Titel derselben vor uns haben und es völlig gewiß ist, daß niemand die Unrechtmässigkeit dieses Besitzes iemals beweisen könne.Es ist etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes: daß es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit gerathen soll. Zwar hatten wir oben eine solche scheinbare Antithetik derselben vor uns, aber es zeigte sich, daß sie auf einem Mißverstande beruhete, da man nemlich, dem gemeinen Vorurtheile gemäß, Erscheinungen vor Sachen an sich selbst nahm und denn eine absolute Vollständigkeit ihrer Synthesis, auf eine oder andere Art (die aber auf beiderley Art gleich unmöglich war), verlangte, welches aber von Erscheinungen gar nicht erwartet werden kan. Es war also damals kein wirklicher Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst bey den Sätzen: die Reihe an sich gegebener Erscheinungen hat einen absolutersten Anfang und: diese Reihe ist schlechthin und an sich selbst ohne allen Anfang; denn beide Sätze bestehen gar wol zusammen, weil Erscheinungen nach ihrem Daseyn (als Erscheinungen) an sich selbst gar nichts, d. i. etwas widersprechendes sind und also deren Voraussetzung natürlicher Weise widersprechende Folgerungen nach sich ziehen muß.
| Ein solcher Mißverstand kan aber nicht vorgewandt und dadurch der Streit der Vernunft beygelegt werden, wenn etwa theistisch behauptet würde: es ist ein höchstes Wesen und dagegen atheistisch: es ist kein höchstes Wesen, oder, in der Psychologie: alles was da denkt, ist von absoluter beharrlicher Einheit und also von aller vergänglichen materiellen Einheit unterschieden, welchem ein anderer entgegensezte: die Seele ist nicht immaterielle Einheit und kan von der Vergänglichkeit nicht ausgenommen werden. Denn der Gegenstand der Frage ist hier von allem fremdartigen, das seiner Natur widerspricht, frey und der Verstand hat es nur mit Sachen an sich selbst und nicht mit Erscheinungen zu thun. Es würde also hier freilich ein wahrer Widerstreit anzutreffen seyn, wenn nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte, was dem Grunde einer Behauptung nahe käme; denn was die Critik der Beweisgründe des Dogmatischbeiahenden betrift, die kan man ihm sehr wol einräumen, ohne darum diese Sätze aufzugeben, die doch wenigstens das Interesse der Vernunft vor sich haben, darauf sich der Gegner gar nicht berufen kan.Auf solche Weise giebt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen Vernunft. Denn der einzige Kampfplatz vor sie würde auf dem Felde der reinen Theologie und Psychologie zu suchen seyn; dieser Boden aber trägt keinen Kämpfer in seiner ganzen Rüstung und mit Waffen, die zu fürchten wären. Er kan nur mit Spott oder Großsprecherey[WS 1] auftreten, welches als ein Kinderspiel belacht werden kan. Das ist eine tröstende Bemerkung, die der Vernunft wieder Muth giebt, denn, worauf wolte sie sich sonst verlassen, wenn sie, die allein alle Irrungen abzuthun berufen ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Besitz hoffen zu können?
Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut. Selbst Gifte dienen dazu, andere Gifte, welche sich in unseren eigenen Säften erzeugen, zu überwältigen und dürfen daher in einer vollständigen Sammlung von Heilmitteln (Officin) nicht fehlen. Die Einwürfe, wider die Ueberredungen und den Eigendünkel unserer blos speculativen Vernunft, sind selbst durch die Natur dieser Vernunft aufgegeben und müssen also ihre gute Bestimmung und Absicht haben, die man nicht in den Wind schlagen[WS 2] muß. Wozu hat uns die Vorsehung manche Gegenstände, ob sie gleich mit unserem höchsten Interesse zusammenhängen, so hoch gestellt, daß uns fast| nur vergönnet ist, sie in einer undeutlichen und von uns selbst bezweifelten Wahrnehmung anzutreffen, dadurch ausspähende Blicke mehr gereizt, als befriedigt werden. Ob es nützlich sey, in Ansehung solcher Aussichten dreuste Bestimmungen zu wagen, ist wenigstens zweifelhaft, vielleicht gar schädlich. Allemal aber und ohne allen Zweifel ist es nützlich, die forschende sowol, als prüfende Vernunft in völlige Freiheit zu versetzen, damit sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen könne, welches eben so wol dadurch befördert wird, dadurch, daß sie ihren Einsichten Schranken sezt, als daß sie solche erweitert und welches allemal leidet, wenn sich fremde Hände einmengen, um sie wider ihren natürlichen Gang nach erzwungenen Absichten zu lenken.Auch bedarf die Vernunft gar sehr eines solchen Streits und es wäre zu wünschen, daß er eher und mit uneingeschränkter öffentlicher Erlaubniß wäre geführt worden. Denn um desto früher wäre eine reife Critik zu Stande gekommen, bey deren Erscheinung alle diese Streithändel von selbst wegfallen müssen, indem die Streitenden ihre Verblendung und Vorurtheile, welche sie veruneinigt haben, einsehen lernen.
Es giebt eine gewisse Unlauterkeit in der menschlichen Natur, die am Ende doch, wie alles, was von der| Natur komt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß, nemlich eine Neigung, seine wahre Gesinnungen zu verheelen und gewisse angenommene, die man vor gut und rühmlich hält, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die Menschen durch diesen Hang, so wol sich zu verheelen, als auch einen ihnen vortheilhaften Schein anzunehmen, sich nicht blos civilisirt, sondern nach und nach, in gewisser Maasse, moralisirt, weil keiner durch die Schmincke der Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit durchdringen konte, also an vermeintlich ächten Beispielen des Guten, die er um sich sahe, eine Schule der Besserung vor sich selbst fand. Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als man ist und Gesinnungen zu äussern, die man nicht hat, dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kent, annehmen zu lassen; denn nachher, wenn die ächte Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß iene Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen, unter dem Wucherkraute des schönen Scheins, nicht aufkommen läßt.Man kan die Critik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof vor alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die leztere, als welche auf Obiecte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesezt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurtheilen.
Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kan ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Critik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimt, deren Ansehen keiner bezweifeln kan, verschaft uns die Ruhe eines gesezlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Proceß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Theile rühmen, auf den mehrentheils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich| ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trift, einen ewigen Frieden gewähren muß. Auch nöthigen die endlosen Streitigkeiten einer blos dogmatischen Vernunft, endlich in irgend einer Critik dieser Vernunft, selbst und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sey ein Stand des Unrechts und der Gewaltthätigkeit und man müsse ihn nothwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin einschränkt, daß sie mit iedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne.Aber die Jugend, welche dem academischen Unterrichte anvertrauet ist, soll doch wenigstens vor dergleichen Schriften gewarnet, und von der frühen Kentniß so gefährlicher Sätze abgehalten werden, ehe ihre Urtheilskraft gereift, oder vielmehr die Lehre, welche man in ihnen gründen will, fest gewurzelt ist, um aller Ueberredung zum Gegentheil, woher sie auch kommen möge, kräftig zu widerstehen?
Müßte es bey dem dogmatischen Verfahren in Sachen der reinen Vernunft bleiben und die Abfertigung der Gegner eigentlich polemisch, d. i. so beschaffen seyn, daß man sich ins Gefechte einliesse, und mit Beweisgründen zu entgegengesezten Behauptungen bewaffnete, so wäre freilich nichts rathsamer vor der Hand, aber zugleich nichts eiteler und fruchtloser auf die Dauer, als die Vernunft der Jugend eine zeitlang unter Vormundschaft zu setzen, und wenigstens so lange vor Verführung zu bewahren. Wenn aber in der Folge entweder Neugierde, oder der Modeton des Zeitalters ihr dergleichen Schriften in die Hände spielen: wird alsdann iene iugendliche Ueberredung noch Stich halten? Derienige, der nichts als dogmatische Waffen mitbringt, um den Angriffen seines Gegners zu widerstehen und die verborgene Dialectik, die nicht minder| in seinem eigenen Busen, als in dem des Gegentheils liegt, nicht zu entwickeln weis, sieht Scheingründe, die den Vorzug der Neuigkeit haben, gegen Scheingründe, welche dergleichen nicht mehr haben, sondern vielmehr den Verdacht einer mißbrauchten Leichtgläubigkeit der Jugend erregen, auftreten. Er glaubt nicht besser zeigen zu können, daß er der Kinderzucht entwachsen sey, als wenn er sich über iene wolgemeinte Warnungen wegsezt und, dogmatisch gewohnt, trinkt er das Gift, das seine Grundsätze dogmatisch verdirbt, in langen Zügen in sich.So giebts demnach keine eigentliche Polemik im Felde der reinen Vernunft. Beide Theile sind Luftfechter, die sich mit ihrem Schatten herumbalgen, denn sie gehen über die Natur hinaus, wo vor ihre dogmatische Griffe nichts vorhanden ist, was sich fassen und halten liesse. Sie haben gut kämpfen; die Schatten, die sie zerhauen, wachsen, wie die Helden in Valhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um sich aufs neue in unblutigen Kämpfen belustigen zu können.
Es giebt aber auch keinen zulässigen sceptischen Gebrauch der reinen Vernunft, welchen man den Grundsatz der Neutralität bey allen ihren Streitigkeiten nennen könte. Die Vernunft wider sich selbst zu verhetzen, ihr auf beiden Seiten Waffen zu reichen und alsdenn ihrem hitzigsten Gefechte ruhig und spöttisch zuzusehen, sieht aus einem dogmatischen Gesichtspuncte nicht wol aus, sondern hat das Ansehen einer schadenfrohen und hämischen Gemüthsart an sich. Wenn man indessen die unbezwingliche Verblendung und das Großthun der Vernünftler, die sich| durch keine Critik will mässigen lassen, ansieht, so ist doch wirklich kein anderer Rath, als der Großsprecherey auf einer Seite, eine andere, welche auf eben dieselbe Rechte fusset, entgegen zu setzen, damit die Vernunft durch den Widerstand eines Feindes wenigstens nur stutzig gemacht werde, um in ihre Anmassungen einigen Zweifel zu setzen, und der Critik Gehör zu geben. Allein es bey diesen Zweifeln gänzlich bewenden zu lassen und es darauf auszusetzen, die Ueberzeugung und das Geständniß seiner Unwissenheit, nicht blos als ein Heilmittel wider den dogmatischen Eigendünkel, sondern zugleich als die Art, den Streit der Vernunft mit sich selbst zu beendigen, empfehlen zu wollen, ist ein ganz vergeblicher Anschlag und kan keinesweges dazu tauglich seyn, der Vernunft einen Ruhestand zu verschaffen, sondern ist höchstens nur ein Mittel, sie aus ihrem süssen dogmatischen Traume zu erwecken, um ihren Zustand in sorgfältigere Prüfung zu ziehen. Da indessen diese sceptische Manier, sich aus einem verdrießlichen Handel der Vernunft zu ziehen, gleichsam der kurze Weg zu seyn scheint, zu einer beharrlichen philosophischen Ruhe zu gelangen, wenigstens die Heeresstrasse, welche dieienigen gern einschlagen, die sich in einer spöttischen Verachtung aller Nachforschungen dieser Art ein philosophisches Ansehen zu geben meinen, so finde ich es nöthig, diese Denkungsart in ihrem eigenthümlichen Lichte darzustellen.
Der berühmte David Hume war einer dieser Geographen der menschlichen Vernunft, welcher iene Fragen insgesamt dadurch hinreichend abgefertigt zu haben vermeinte, daß er sie ausserhalb den Horizont derselben verwies, den er doch nicht bestimmen konte. Er hielte sich vornemlich bey dem Grundsatze der Caussalität auf und bemerkte von ihm ganz richtig: daß man seine Wahrheit (ia nicht einmal die obiective Gültigkeit des Begriffs einer wirkenden Ursache überhaupt) auf gar keine Einsicht, d. i. Erkentniß a priori fusse, daß daher auch nicht im mindesten die Nothwendigkeit dieses Gesetzes, sondern eine blosse allgemeine Brauchbarkeit desselben in dem Laufe der Erfahrung und eine daher entspringende subiective Nothwendigkeit, die er Gewohnheit nent, sein ganzes Ansehen ausmache. Aus dem Unvermögen unserer Vernunft nun, von diesem Grundsatze einen über alle Erfahrung hinausgehenden Gebrauch zu machen, schloß er die Nichtigkeit aller Anmassungen der Vernunft überhaupt über das Empirische hinaus zu gehen.
Man kan ein Verfahren dieser Art, die Facta der Vernunft der Prüfung und, nach Befinden, dem Tadel zu unterwerfen, die Censur der Vernunft nennen. Es ist ausser Zweifel: daß diese Censur unausbleiblich auf Zweifel gegen allen transscendenten Gebrauch der Grundsätze| führe. Allein dies ist nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet. Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt ist sceptisch und zeugt von Vorsichtigkeit, der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nöthig, der nur der gereiften und männiglichen Urtheilskraft, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat, nemlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkentnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen, welches nicht die Censur, sondern Critik der Vernunft ist, wodurch nicht blos Schranken, sondern die bestimte Gränzen derselben, nicht blos Unwissenheit an einem oder anderen Theil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art und zwar nicht etwa nur vermuthet, sondern aus Principien bewiesen wird. So ist der Scepticism ein Ruheplatz vor die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kan, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte; denn dieser kan nur in einer völligen Gewißheit angetroffen werden, es sey nun der Erkentniß der Gegenstände selbst, oder der Gränzen, innerhalb denen| alle unsere Erkentniß von Gegenständen eingeschlossen ist.Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimbarweit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkent, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begränzung derselben mit Sicherheit angeben läßt. Ausser dieser Sphäre (Feld der Erfahrung) ist nichts vor ihr Obiect, ia selbst Fragen über dergleichen vermeintliche Gegenstände betreffen nur subiective Principien einer durchgängigen Bestimmung der Verhältnisse, welche unter den Verstandesbegriffen innerhalb dieser Sphäre vorkommen können.
Wir sind wirklich im Besitz synthetischer Erkentniß a priori, wie dieses die Verstandesgrundsätze, welche die Erfahrung anticipiren, darthun. Kan iemand nun die Möglichkeit derselben sich gar nicht begreiflich machen, so mag er zwar anfangs zweifeln, ob sie uns auch wirklich a priori beiwohnen, er kan dieses aber noch nicht vor eine Unmöglichkeit derselben, durch blosse Kräfte des Verstandes, und alle Schritte, die die Vernunft nach der Richtschnur derselben thut, vor nichtig ausgeben. Er kan nur sagen: wenn wir ihren Ursprung und Aechtheit einsähen, so würden wir den Umfang und die Gränzen unserer Vernunft bestimmen können; ehe aber dieses geschehen ist,| sind alle Behauptungen der lezten blindlings gewagt. Und auf solche Weise wäre ein durchgängiger Zweifel an alle dogmatische Philosophie, die ohne Critik der Vernunft selbst ihren Gang geht, ganz wol gegründet; allein darum könte doch der Vernunft nicht ein solcher Fortgang, wenn er durch bessere Grundlegung vorbereitet und gesichert würde, gänzlich abgesprochen werden. Denn, einmal liegen alle Begriffe, ia alle Fragen, welche uns die reine Vernunft vorlegt, nicht etwa in der Erfahrung, sondern selbst wiederum nur in der Vernunft und müssen daher können aufgelöset und ihrer Gültigkeit oder Nichtigkeit nach begriffen werden. Wir sind auch nicht berechtigt, diese Aufgaben, als läge ihre Auflösung wirklich in der Natur der Dinge, doch unter dem Vorwande unseres Unvermögens abzuweisen und uns ihrer weiteren Nachforschung zu weigern, da die Vernunft in ihrem Schoße allein diese Ideen selbst erzeugt hat, von deren Gültigkeit oder dialectischen Scheine sie also Rechenschaft zu geben gehalten ist.Da Hume, vielleicht der geistreichste unter allen Sceptikern und ohne Widerrede der vorzüglichste in Ansehung des Einflusses ist, den das sceptische Verfahren auf die Erweckung einer gründlichen Vernunftprüfung haben kan, so verlohnt es wol der Mühe, den Gang seiner Schlüsse und die Verirrungen eines einsehenden und schätzbaren Mannes, die doch auf der Spur der Wahrheit angefangen haben, so weit es zu meiner Absicht schicklich ist, vorstellig zu machen.
Hume hatte es vielleicht in Gedanken, wiewol er es niemals völlig entwickelte: daß wir in Urtheilen von gewisser Art, über unseren Begriff vom Gegenstande hinaus gehen. Ich habe diese Art von Urtheilen synthetisch genant. Wie ich aus meinem Begriffe, den ich bis dahin habe, vermittelst der Erfahrung hinausgehen könne, ist keiner Bedenklichkeit unterworfen. Erfahrung ist selbst eine solche Synthesis der Wahrnehmungen, welche meinen Begriff, den ich vermittelst einer Wahrnehmung habe, durch andere hinzukommende vermehrt. Allein wir glauben auch a priori aus unserem Begriffe hinausgehen und| unser Erkentniß erweitern zu können. Dieses versuchen wir entweder durch den reinen Verstand, in Ansehung desienigen, was wenigstens ein Obiect der Erfahrung seyn kan, oder sogar durch reine Vernunft, in Ansehung solcher Eigenschaften der Dinge, oder auch wol des Daseyns solcher Gegenstände, die in der Erfahrung niemals vorkommen können. Unser Sceptiker unterschied diese beide Arten der Urtheile nicht, wie er es doch hätte thun sollen und hielt geradezu diese Vermehrung der Begriffe aus sich selbst und, so zu sagen, die Selbstgebährung unseres Verstandes (samt der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu seyn, vor unmöglich, mithin alle vermeintliche Principien derselben a priori vor eingebildet, und fand, daß sie nichts als eine, aus Erfahrung und deren Gesetzen entspringende Gewohnheit, mithin blos empirische, d. i. an sich zufällige Regeln seyn, denen wir eine vermeinte Nothwendigkeit und Allgemeinheit beimessen. Er bezog sich aber zu Behauptung dieses befremdlichen Satzes auf den allgemein anerkanten Grundsatz, von dem Verhältniß der Ursache zur Wirkung. Denn da uns kein Verstandesvermögen von dem Begriffe eines Dinges zu dem Daseyn von etwas anderem, was dadurch allgemein und nothwendig gegeben sey, führen kan: so glaubte er daraus folgern zu können, daß wir ohne Erfahrung nichts haben, was unsern Begriff vermehren und uns zu einem solchen a priori sich selbst erweiternden Urtheile berechtigen könte. Daß das Sonnenlicht, welches das Wachs beleuchtet, es| zugleich schmelze, indessen es den Thon härtet, könne kein Verstand aus Begriffen, die wir vorher von diesen Dingen hatten, errathen, viel weniger gesetzmässig schliessen, und nur Erfahrung könne uns ein solches Gesetz lehren. Dagegen haben wir in der transscendentalen Logik gesehen: daß, ob wir zwar niemals unmittelbar über den Inhalt des Begriffs, der uns gegeben ist, hinausgehen können, wir doch völlig a priori, aber in Beziehung auf ein drittes, nemlich mögliche Erfahrung, also doch a priori, das Gesetz der Verknüpfung mit andern Dingen erkennen können. Wenn also vorher festgewesenes Wachs schmilzt, so kan ich a priori erkennen, daß etwas voraus gegangen sein müsse, (z. B. Sonnenwärme) worauf dieses nach einem beständigen Gesetze gefolgt ist, ob ich zwar, ohne Erfahrung, aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung, a priori und ohne Belehrung der Erfahrung bestimt erkennen könte. Er schloß also fälschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze, auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst, und das Herausgehen aus dem Begriffe eines Dinges auf mögliche Erfahrung (welches a priori geschieht und die obiective Realität desselben ausmacht), verwechselte er mit der Synthesis der Gegenstände wirklicher Erfahrung, welche freilich iederzeit empirisch ist; dadurch machte er aber aus einem Princip der Affinität, welches im Verstande seinen Sitz hat, und nothwendige Verknüpfung aussagt, eine Regel der Association, die blos in der nachbildenden Einbildungskraft| angetroffen wird, und nur zufällige, gar nicht obiective Verbindungen darstellen kan.Da er auch zwischen den gegründeten Ansprüchen des Verstandes und den dialectischen Anmassungen der Vernunft, wider welche doch hauptsächlich seine Angriffe gerichtet sind, keinen Unterschied kent: so fühlt die Vernunft, deren ganz eigenthümlicher Schwung hiebey nicht im mindesten gestöhret, sondern nur gehindert worden, den Raum zu ihrer Ausbreitung nicht verschlossen und kan von ihren Versuchen, unerachtet sie hie oder da gezwackt wird, niemals gänzlich abgebracht werden. Denn wider Angriffe rüstet man sich zur Gegenwehr und sezt noch um desto steifer seinen Kopf drauf, um seine Foderungen durchzusetzen. Ein völliger Ueberschlag aber seines ganzen Vermögens und die daraus entspringende Ueberzeugung der Gewißheit eines kleinen Besitzes, bey der Eitelkeit höherer Ansprüche, hebt allen Streit auf und bewegt, sich an einem eingeschränkten, aber unstrittigen Eigenthume friedfertig zu begnügen.
Wider den uncritischen Dogmatiker, der die Sphäre seines Verstandes nicht gemessen, mithin die Gränzen seiner möglichen Erkentniß nicht nach Principien bestimt hat, der also nicht schon zum voraus weis, wie viel er kan, sondern es durch blosse Versuche ausfindig zu machen denkt, sind diese sceptische Angriffe nicht allein gefährlich, sondern ihm sogar verderblich. Denn, wenn er auf einer einzigen Behauptung betroffen wird, die er nicht rechtfertigen,| deren Schein er aber auch nicht aus Principien entwickeln kan, so fällt der Verdacht auf alle, so überredend sie auch sonst immer seyn mögen.Und so ist der Sceptiker der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers auf eine gesunde Critik des Verstandes und der Vernunft selbst. Wenn er dahin gelangt ist, so hat er weiter keine Anfechtung zu fürchten; denn er unterscheidet alsdenn seinen Besitz von dem, was gänzlich ausserhalb demselben liegt, worauf er keine Ansprüche macht und darüber auch nicht in Streitigkeiten verwickelt werden kan. So ist das sceptische Verfahren zwar an sich selbst für die Vernunftfragen nicht befriedigend, aber doch vorübend, um ihre Vorsichtigkeit zu erwecken und auf gründliche Mittel zu weisen, die sie in ihren rechtmässigen Besitzen sichern können.
Anmerkungen (Wikisource)
« Des ersten Hauptstücks Erster Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche. | Immanuel Kant Critik der reinen Vernunft (1781) Inhalt |
Des ersten Hauptstücks Dritter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen. » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |