Critik der reinen Vernunft (1781)/Des ersten Hauptstücks Erster Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche.

« 1. Hauptstück. Die Disciplin der reinen Vernunft Immanuel Kant
Critik der reinen Vernunft (1781)
Inhalt
Des ersten Hauptstücks Zweiter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs. »
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Des ersten Hauptstücks
Erster Abschnitt.
Die
Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen
Gebrauche.
Die Mathematik giebt das glänzendste Beispiel, einer sich ohne Beihülfe der Erfahrung, von selbst glücklich erweiternden reinen Vernunft. Beispiele sind ansteckend, vornehmlich vor dasselbe Vermögen, welches sich natürlicherweise schmeichelt, eben dasselbe Glück in anderen Fällen zu haben, welches ihm in einem Falle zu Theil worden. Daher hofft reine Vernunft im transscendentalen| Gebrauche sich eben so glücklich und gründlich erweitern zu können, als es ihr im mathematischen gelungen ist, wenn sie vornemlich dieselbe Methode dort anwendet, die hier von so augenscheinlichem Nutzen gewesen ist. Es liegt uns also viel daran, zu wissen: ob die Methode, zur apodictischen Gewißheit zu gelangen, die man in der lezteren Wissenschaft mathematisch nent, mit derienigen einerley sey, womit man eben dieselbe Gewißheit in der Philosophie sucht, und die daselbst dogmatisch genant werden müßte.
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 Die philosophische Erkentniß ist die Vernunfterkentniß aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine nicht empirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Obiect ist, aber nichts destoweniger als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß. So construire ich einen Triangel, indem ich den, diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch blosse Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beide male aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle. Die einzelne hingezeichnete Figur ist| empirisch, und dient gleichwol den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken, weil bey dieser empirischen Anschauung, immer nur auf die Handlung der Construction des Begriffs, welchem viele Bestimmungen, z. E. der Grösse, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahirt wird.

 Die philosophische Erkentniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ia gar im Einzelnen, gleichwol doch a priori und vermittelst der Vernunft, so daß, wie dieses Einzelne unter gewissen allgemeinen Bedingungen der Construction bestimt ist, eben so der Gegenstand des Begriffs, dem dieses Einzelne nur als sein Schema correspondirt, allgemein bestimt gedacht werden muß.

 In dieser Form besteht also der wesentliche Unterschied dieser beiden Arten der Vernunfterkentniß, und beruhet nicht auf dem Unterschiede ihrer Materie, oder Gegenstände. Dieienige, welche Philosophie von Mathematik dadurch zu unterscheiden vermeineten, daß sie von iener sagten, sie habe blos die Qualität, diese aber nur die Quantität zum Obiect, haben die Wirkung vor die Ursache genommen. Die Form der mathematischen Erkentniß ist die Ursache, daß diese lediglich auf Quanta gehen kan. Denn nur der Begriff von Grössen läßt sich construiren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen, Qualitäten| aber lassen sich in keiner anderen, als empirischen Anschauung darstellen. Daher kan eine Vernunfterkentniß derselben nur durch Begriffe möglich seyn. So kan niemand eine dem Begriff der Realität correspondirende Anschauung anders woher, als aus der Erfahrung nehmen, niemals aber a priori aus sich selbst und vor dem empirischen Bewustseyn derselben theilhaftig werden. Die conische Gestalt wird man ohne alle empirische Beihülfe, blos nach dem Begriffe anschauend machen können, aber die Farbe dieses Kegels wird in einer oder anderer Erfahrung zuvor gegeben seyn müssen. Den Begriff einer Ursache überhaupt kan ich auf keine Weise in der Anschauung darstellen, als an einem Beispiele, das mir Erfahrung an die Hand giebt, u. s. w. Uebrigens handelt die Philosophie eben sowol von Grössen, als die Mathematik, z. B. von der Totalität, der Unendlichkeit u. s. w. Die Mathematik beschäftiget sich auch mit dem Unterschiede der Linien und Flächen, als Räumen, von verschiedener Qualität, mit der Continuität der Ausdehnung, als einer Qualität derselben. Aber, obgleich sie in solchen Fällen, einen gemeinschaftlichen Gegenstand haben, so ist die Art, ihn durch die Vernunft zu behandeln, doch ganz anders in der philosophischen, als mathematischen Betrachtung. Jene hält sich blos an allgemeinen Begriffen, diese kan mit dem blossen Begriffe nichts ausrichten, sondern eilt sogleich zur Anschauung, in welcher sie den Begriff in concreto betrachtet, aber doch nicht empirisch, sondern blos in einer| solchen, die sie a priori darstellet, d. i. construiret hat, und in welcher dasienige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Construction folgt, auch von dem Obiecte des construirten Begriffs allgemein gelten muß.
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 Man gebe einem Philosophen den Begriff eines Triangels und lasse ihn nach seiner Art ausfündig machen, wie sich wol die Summe seiner Winkel zum rechten verhalten möge. Er hat nun nichts als den Begriff von einer Figur, die in drey geraden Linien eingeschlossen ist, und an ihr den Begriff von eben so viel Winkeln. Nun mag er diesem Begriffe nachdenken, so lange er will, er wird nichts Neues heraus bringen. Er kan den Begriff der geraden Linie, oder eines Winkels, oder der Zahl drey zergliedern und deutlich machen, aber nicht auf andere Eigenschaften kommen, die in diesen Begriffen gar nicht liegen. Allein der Geometer nehme diese Frage vor. Er fängt sofort davon an, einen Triangel zu construiren. Weil er weis, daß zwey rechte Winkel zusammen gerade so viel austragen, als alle berührende Winkel, die aus einem Puncte auf einer graden Linie gezogen werden können, zusammen, so verlängert er eine Seite seines Triangels und bekomt zwey berührende Winkel, die zweien rechten zusammen gleich seyn. Nun theilet er den äusseren von diesen Winkeln, indem er eine Linie mit der gegenüberstehenden Seite des Triangels parallel zieht, und sieht, daß hier ein äusserer berührender Winkel entspringe, der einem inneren gleich ist, u. s. w. Er gelangt auf solche Weise durch eine| Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage.

 Die Mathematik aber construiret nicht blos Grössen, (Quanta), wie in der Geometrie, sondern auch die blosse Grösse (Quantitatem), wie in der Buchstabenrechnung, wobey sie von der Beschaffenheit des Gegenstandes, der nach einem solchen Grössenbegriff gedacht werden soll, gänzlich abstrahirt. Sie wählt sich alsdenn eine gewisse Bezeichnung aller Constructionen von Grössen überhaupt (Zahlen, als der Addition, Subtraction u. s. w.), Ausziehung der Wurzel und, nachdem sie den allgemeinen Begriff der Grössen nach den verschiedenen Verhältnissen derselben auch bezeichnet hat, so stellet sie alle Behandlung, die durch die Grösse erzeugt und verändert wird, nach gewissen allgemeinen Regeln in der Anschauung dar: wo eine Grösse durch die andere dividiret werden soll, sezt sie beider ihre Charactere nach der bezeichnenden Form der Division zusammen u. s. w. und gelangt also vermittelst einer symbolischen Construction eben so gut, wie die Geometrie nach einer ostensiven oder geometrischen (der Gegenstände selbst) dahin, wohin die discursive Erkentniß vermittelst blosser Begriffe niemals gelangen könte.

 Was mag die Ursache dieser so verschiedenen Lage seyn, darin sich zwey Vernunftkünstler befinden, deren der eine seinen Weg nach Begriffen, der andere nach Anschauungen nimt, die er a priori den Begriffen gemäß darstellet.| Nach den oben vorgetragenen transscendentalen Grundlehren ist diese Ursache klar. Es komt hier nicht auf analytische Sätze an, die durch blosse Zergliederung der Begriffe erzeugt werden können, (hierin würde der Philosoph ohne Zweifel den Vortheil über seinen Nebenbuhler haben), sondern auf synthetische und zwar solche, die a priori sollen erkant werden. Denn ich soll nicht auf dasienige sehen, was ich in meinem Begriffe vom Triangel wirklich denke, (dieses ist nichts weiter, als die blosse Definition), vielmehr soll ich über ihn zu Eigenschaften, die in diesem Begriffe nicht liegen, aber doch zu ihm gehören, hinausgehen. Nun ist dieses nicht anders möglich, als daß ich meinen Gegenstand nach den Bedingungen, entweder der empirischen Anschauung, oder der reinen Anschauung bestimme. Das erstere würde nur einen empirischen Satz (durch Messen seiner Winckel), der keine Allgemeinheit, noch weniger Nothwendigkeit enthielte, abgeben und von dergleichen ist gar nicht die Rede. Das zweite Verfahren aber ist die mathematische und zwar hier die geometrische Construction, vermittelst deren ich in einer reinen Anschauung, eben so, wie in der empirischen, das Mannigfaltige, was zu dem Schema eines Triangels überhaupt, mithin zu seinem Begriffe gehöret, hinzusetze, wodurch allerdings allgemeine synthetische Sätze construirt werden müssen.
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 Ich würde also umsonst über den Triangel philosophiren, d. i. discursiv nachdenken, ohne dadurch im mindesten| weiter zu kommen, als auf die blosse Definition, von der ich aber billig anfangen müßte. Es giebt zwar eine transscendentale Synthesis aus lauter Begriffen, die wiederum allein dem Philosophen gelingt, die aber niemals mehr als ein Ding überhaupt betrift, unter welchen Bedingungen dessen Wahrnehmung zur möglichen Erfahrung gehören könne. Aber in den mathematischen Aufgaben ist hievon und überhaupt von der Existenz gar nicht die Frage, sondern von den Eigenschaften der Gegenstände an sich selbst, lediglich so fern diese mit dem Begriffe derselben verbunden sind.

 Wir haben in dem angeführten Beispiele nur deutlich zu machen gesucht, welcher grosse Unterschied zwischen dem discursiven Vernunftgebrauch nach Begriffen und dem intuitiven durch die Construction der Begriffe anzutreffen sey. Nun frägts sich natürlicher Weise, was die Ursache sey, die einen solchen zwiefachen Vernunftgebrauch nothwendig macht, und an welchen Bedingungen man erkennen könne, ob nur der erste, oder auch der zweite statt finde.

 Alle unsere Erkentniß bezieht sich doch zulezt auf mögliche Anschauungen: denn durch diese allein wird ein Gegenstand gegeben. Nun enthält ein Begriff a priori (ein nicht empirischer Begriff) entweder schon eine reine Anschauung in sich, und alsdenn kan er construirt werden, oder nichts, als die Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind, und alsdenn kan man| wol zwar durch ihn synthetisch und a priori urtheilen, aber nur discursiv, nach Begriffen, niemals aber intuitiv durch die Construction des Begriffes.
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 Nun ist von aller Anschauung keine a priori gegeben, als die blosse Form der Erscheinungen, Raum und Zeit und ein Begriff von diesen, als Quantis, läßt sich entweder zugleich mit der Qualität derselben (ihre Gestalt), oder auch blos ihre Quantität (die blosse Synthesis des Gleichartigmannigfaltigen) durch Zahl a priori in der Anschauung darstellen, d. i. construiren. Die Materie aber der Erscheinungen, wodurch uns Dinge im Raume und der Zeit gegeben werden, kan nur in der Wahrnehmung, mithin a posteriori vorgestellet werden. Der einzige Begriff, der a priori diesen empirischen Gehalt der Erscheinungen vorstellt, ist der Begriff des Dinges überhaupt, und die synthetische Erkentniß von demselben a priori kan nichts weiter, als die blosse Regel der Synthesis desienigen, was die Wahrnehmung a posteriori geben mag, niemals aber die Anschauung des realen Gegenstandes a priori liefern, weil diese nothwendig empirisch seyn muß.  Synthetische Sätze, die auf Dinge überhaupt, deren Anschauung sich a priori gar nicht geben läßt, gehen, sind transscendental. Demnach lassen sich transscendentale Sätze niemals durch Construction der Begriffe, sondern nur nach Begriffen a priori geben. Sie enthalten blos die Regel, nach der eine gewisse synthetische Einheit desienigen, was nicht a priori anschaulich vorgestellt werden| kan, (der Wahrnehmungen), empirisch gesucht werden soll. Sie können aber keinen einzigen ihrer Begriffe a priori in irgend einem Falle darstellen, sondern thun dieses nur a posteriori, vermittelst der Erfahrung, die nach ienen synthetischen Grundsätzen allererst möglich wird.  Wenn man von einem Begriffe synthetisch urtheilen soll, so muß man aus diesem Begriffe hinausgehen, und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist. Denn bliebe man bey dem stehen, was im Begriffe enthalten ist, so wäre das Urtheil blos analytisch und eine Erklärung des Gedanken, nach demienigen, was wirklich in ihm enthalten ist. Ich kan aber von dem Begriffe zu der ihm correspondirenden reinen, oder empirischen Anschauung gehen, um ihn in derselben in concreto zu erwägen und, was dem Gegenstande desselben zukomt, a priori oder a posteriori zu erkennen. Das erstere ist die rationale und mathematische Erkentniß durch die Construction des Begriffs, das zweite die blosse empirische (mechanische) Erkentniß, die niemals nothwendige und apodictische Sätze geben kan. So könte ich meinen empirischen Begriff vom Golde zergliedern, ohne dadurch etwas weiter zu gewinnen, als alles, was ich bey diesem Worte wirklich denke, herzählen zu können, wodurch in meinem Erkentniß zwar eine logische Verbesserung vorgeht, aber keine Vermehrung oder Zusatz erworben wird. Ich nehme aber die Materie, welche unter diesem Nahmen vorkomt, und stelle mit ihr Wahrnehmungen an, welche mir verschiedene synthetische,| aber empirische Sätze an die Hand geben werden. Den mathematischen Begriff eines Triangels würde ich construiren, d. i. a priori in der Anschauung geben und auf diesem Wege eine synthetische, aber rationale Erkentniß bekommen. Aber, wenn mir der transscendentale Begriff einer Realität, Substanz, Kraft etc. gegeben ist, so bezeichnet er weder eine empirische, noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können), und es kan also aus ihm, weil die Synthesis nicht a priori zu der Anschauung, die ihm correspondirt, hinausgehen kan, auch kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur ein Grundsatz der Synthesis[1] möglicher empirischer Anschauungen entspringen. Also ist ein transscendentaler Satz ein synthetisches Vernunfterkentniß nach blossen Begriffen und mithin discursiv, indem dadurch alle synthetische Einheit der empirischen Erkentniß allererst möglich, keine Anschauung aber dadurch a priori gegeben wird.
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|  So giebt es denn einen doppelten Vernunftgebrauch, der, unerachtet der Allgemeinheit der Erkentniß und ihrer Erzeugung a priori, welche sie gemein haben, dennoch im Fortgange sehr verschieden ist, und zwar darum, weil in der Erscheinung, als wodurch uns alle Gegenstände gegeben werden, zwey Stücke sind: die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkant und bestimt werden kan, und die Materie (das Physische) oder der Gehalt, welcher ein Etwas bedeutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Daseyn enthält und der Empfindung correspondirt. In Ansehung des lezteren, welches niemals anders auf bestimte Art, als empirisch gegeben werden kan, können wir nichts a priori haben, als unbestimte Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen, so fern sie zur Einheit der Apperception (in einer möglichen Erfahrung) gehören. In Ansehung der erstern können wir unsere Begriffe in der Anschauung a priori bestimmen, indem wir uns im Raume und der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie blos als Quanta betrachten. Jener heißt der Vernunftgebrauch nach Begriffen, indem wir nichts weiter thun können, als Erscheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe zu bringen, welche darauf nicht anders als empirisch, d. i. a posteriori, (aber ienen Begriffen als Regeln einer empirischen Synthesis gemäß) können bestimt werden; dieser ist der Vernunftgebrauch durch Construction der Begriffe,| indem diese, da sie schon auf eine Anschauung a priori gehen, auch eben darum a priori und ohne alle empirische data in der reinen Anschauung bestimt gegeben werden können. Alles, was da ist (ein Ding im Raum oder der Zeit) zu erwägen, ob und wie fern es ein Quantum ist oder nicht, daß ein Daseyn in demselben oder Mangel vorgestellt werden müsse, wie fern dieses Etwas (welches Raum oder Zeit erfüllt), ein erstes Substratum, oder blosse Bestimmung sey, eine Beziehung seines Daseyns auf etwas Anderes, als Ursache, oder Wirkung habe, und endlich isolirt oder in wechselseitiger Abhängigkeit mit andern in Ansehung des Daseyns stehe, die Möglichkeit dieses Daseyns, die Wirklichkeit und Nothwendigkeit, oder die Gegentheile derselben zu erwägen: dieses alles gehöret zum Vernunfterkentniß aus Begriffen, welches philosophisch genant wird. Aber im Raume eine Anschauung a priori zu bestimmen (Gestalt), die Zeit zu theilen (Dauer), oder blos das Allgemeine der Synthesis von einem und demselben in der Zeit und dem Raume und die daraus entspringende Grösse einer Anschauung überhaupt (Zahl) zu erkennen, das ist ein Vernunftgeschäfte durch Construction der Begriffe und heißt mathematisch.  Das grosse Glück, welches die Vernunft vermittelst der Mathematik macht, bringt ganz natürlicher Weise die Vermuthung zu Wege: daß es, wo nicht ihr selbst, doch ihrer Methode auch ausser dem Felde der Grössen, gelingen werde, indem sie alle ihre Begriffe auf Anschauungen| bringt, die sie a priori geben kan und wodurch sie, so zu reden, Meister über die Natur wird: da hingegen reine Philosophie mit discursiven Begriffen a priori in der Natur herum pfuscht, ohne die Realität derselben a priori anschauend und eben dadurch beglaubigt machen zu können. Auch scheint es den Meistern in dieser Kunst an dieser Zuversicht zu sich selbst und dem gemeinen Wesen an grossen Erwartungen von ihrer Geschicklichkeit, wenn sie sich einmal hiemit befassen solten, gar nicht zu fehlen. Denn da sie kaum iemals über ihre Mathematik philosophirt haben, (ein schweres Geschäfte), so komt ihnen der specifische Unterschied des einen Vernunftgebrauchs von dem andern gar nicht in Sinn und Gedanken. Gangbare und empirisch gebrauchte Regeln, die sie von der gemeinen Vernunft borgen, gelten ihnen denn statt Axiomen. Wo ihnen die Begriffe von Raum und Zeit, womit sie sich (als den einzigen ursprünglichen Quantis) beschäftigen, herkommen mögen, daran ist ihnen gar nichts gelegen und eben so scheint es ihnen unnütz zu seyn, den Ursprung reiner Verstandesbegriffe und hiemit auch den Umfang ihrer Gültigkeit zu erforschen, sondern nur sich ihrer zu bedienen. In allem diesen thun sie ganz recht, wenn sie nur ihre angewiesene Gränze, nemlich die der Natur nicht überschreiten. So aber gerathen sie unvermerkt, von dem Felde der Sinnlichkeit, auf den unsicheren Boden reiner und selbst transscendentaler Begriffe, wo der Grund (instabilis tellus, innabilis unda) ihnen weder zu stehen,| noch zu schwimmen erlaubt und sich nur flüchtige Schritte thun lassen, von denen die Zeit nicht die mindeste Spur aufbehält, da hingegen ihr Gang in der Mathematik eine Heeresstrasse macht, welche noch die späteste Nachkommenschaft mit Zuversicht betreten kan.

 Da wir es uns zur Pflicht gemacht haben, die Gränzen der reinen Vernunft im transscendentalen Gebrauche genau und mit Gewißheit zu bestimmen, diese Art der Bestrebung aber das besondere an sich hat, unerachtet der nachdrüklichsten und kläresten Warnungen, sich noch immer durch Hofnung hinhalten zu lassen, ehe man den Anschlag gänzlich aufgiebt, über Gränzen der Erfahrungen hinaus in die reitzende Gegenden des Intellectuellen zu gelangen: so ist es nothwendig, noch gleichsam den lezten Anker einer phantasiereichen Hoffnung wegzunehmen und zu zeigen, daß die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art Erkentniß nicht den mindesten Vortheil schaffen könne, es müßte denn der seyn, die Blössen ihrer selbst desto deutlicher aufzudecken, daß Meßkunst und Philosophie zwey ganz verschiedene Dinge seyn, ob sie sich zwar in der Naturwissenschaft einander die Hand bieten, mithin das Verfahren des einen niemals von dem andern nachgeahmt werden könne.

 Die Gründlichkeit der Mathematik beruht auf Definitionen, Axiomen, Demonstrationen. Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen: daß keines dieser Stücke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimt, von der| Philosophie könne geleistet, noch nachgeahmet werden. Daß der Meßkünstler, nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu Stande bringe, der Philosoph nach der seinigen in dem Antheil der Mathematik nur ein Geschwätz erregen könne, wiewol eben darin Philosophie besteht, seine Gränzen zu kennen, und selbst der Mathematiker, wenn das Talent desselben nicht etwa schon von der Natur begränzt und auf sein Fach eingeschränkt ist, die Warnungen der Philosophie nicht ausschlagen, noch sich über sie wegsetzen kan.
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 1. Von den Definitionen. Definiren soll, wie es der Ausdruck selbst giebt, eigentlich nur so viel bedeuten, als, den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seinen Gränzen ursprünglich darstellen[2]. Nach einer solchen Foderung kan ein empirischer Begriff gar nicht definirt, sondern nur explicirt werden. Denn, da wir an ihm nur einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne haben, so ist es niemals sicher, ob man unter dem Worte, der denselben Gegenstand bezeichnet, nicht einmal mehr, das andere mal weniger Merkmale| desselben denke. So kan der eine im Begriffe vom Golde sich ausser dem Gewichte, der Farbe, der Zähigkeit, noch die Eigenschaft, daß es nicht rostet, denken, der andere davon vielleicht nichts wissen. Man bedient sich gewisser Merkmale nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend seyn; neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und setzen einige hinzu, der Begriff steht also niemals zwischen sicheren Gränzen. Und wozu solte es auch dienen, einen solchen Begriff zu definiren, da, wenn z. B. von dem Wasser und dessen Eigenschaften die Rede ist, man sich bey dem nicht aufhalten wird, was man bey dem Worte Wasser denkt, sondern zu Versuchen schreitet und das Wort, mit den wenigen Merkmalen, die ihm anhängen, nur eine Bezeichnung und nicht einen Begriff der Sache ausmachen soll, mithin die angebliche Definition nichts anders als Wortbestimmung ist. Zweitens kan auch, genau zu reden, kein a priori gegebener Begriff definirt werden, z. B. Substanz, Ursache, Recht, Billigkeit etc. Denn ich kan niemals sicher seyn: daß die deutliche Vorstellung eines (noch verworren) gegebenen Begriffs ausführlich entwickelt worden, als wenn ich weis, daß dieselbe dem Gegenstande adäquat sey. Da der Begriff desselben aber, so wie er gegeben ist, viel dunkele Vorstellungen enthalten kan, die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung iederzeit brauchen: so ist die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft und kan nur durch vielfältig| zutreffende Beispiele vermuthlich, niemals aber apodictisch gewiß gemacht werden. Anstatt des Ausdrucks: Definition, würde ich lieber den der Exposition brauchen, der immer noch behutsam bleibt und bey dem der Critiker sie auf einen gewissen Grad gelten lassen und doch wegen der Ausführlichkeit noch Bedenken tragen kan. Da also weder empirisch- noch a priori gegebene Begriffe definirt werden können, so bleiben keine andere als willkührlich-gedachte übrig, an denen man dieses Kunststück versuchen kan. Meinen Begriff kan ich in solchem Falle iederzeit definiren; denn ich muß doch wissen, was ich habe denken wollen, da ich ihn selbst vorsezlich gemacht habe, und er mir weder durch die Natur des Verstandes, noch durch die Erfahrung gegeben worden, aber ich kan nicht sagen, daß ich dadurch einen wahren Gegenstand definirt habe. Denn, wenn der Begriff auf empirischen Bedingungen beruht, z. B. eine Schiffsuhr, so wird der Gegenstand und dessen Möglichkeit durch diesen willkührlichen Begriff noch nicht gegeben, ich weis daraus nicht einmal, ob er überall einen Gegenstand habe, und meine Erklärung kan besser eine Declaration (meines Proiects) als Definition eines Gegenstandes heissen. Also blieben keine andere Begriffe übrig, die zum definiren taugen, als solche, die eine willkührliche Synthesis enthalten, welche a priori construirt werden kan, mithin hat nur die Mathematik Definitionen. Denn, den Gegenstand, den sie denkt, stellt sie auch a priori in der Anschauung dar, und dieser kan sicher nicht| mehr noch weniger enthalten, als der Begriff, weil durch die Erklärung der Begriff von dem Gegenstande ursprünglich, d. i. ohne die Erklärung irgend wovon abzuleiten, gegeben wurde. Die deutsche Sprache hat vor die Ausdrücke der Exposition, Explication, Declaration und Definition nichts mehr, als das eine Wort: Erklärung, und daher müssen wir schon von der Strenge der Foderung, da wir nemlich den philosophischen Erklärungen den Ehrennahmen der Definition verweigerten, etwas ablassen und wollen diese ganze Anmerkung darauf einschränken: daß philosophische Definitionen nur als Expositionen gegebener, mathematische aber als Constructionen ursprünglich gemachter Begriffe, iene nur analytisch durch Zergliederung (deren Vollständigkeit nicht apodictisch gewiß ist), diese synthetisch zu Stande gebracht werden und also den Begriff selbst machen, dagegen die ersteren ihn nur erklären. Hieraus folgt
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 a) daß man es in der Philosophie der Mathematik nicht so nachthun müsse, die Definitionen voran zu schicken, als nur etwa zum blossen Versuche. Denn, da sie Zergliederungen gegebener Begriffe seyn, so gehen diese Begriffe, obzwar nur noch verworren, voran und die unvollständige Exposition geht vor der vollständigen, so, daß wir aus einigen Merkmalen, die wir aus einer noch unvollendeten Zergliederung gezogen haben, manches vorher schliessen können, ehe wir zur vollständigen Exposition, d. i. der Definition gelangt sind, mit einem Worte, daß in| der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schliessen als anfangen müsse[3]. Dagegen haben wir in der Mathematik gar keinen Begriff vor der Definition, als durch welche der Begriff allererst gegeben wird, sie muß also und kan auch iederzeit davon anfangen.
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 b) Mathematische Definitionen können niemals irren. Denn weil der Begriff durch die Definition zuerst gegeben wird, so enthält er gerade nur das, was die Definition durch ihn gedacht haben will. Aber, obgleich dem Inhalte nach nichts Unrichtiges darin vorkommen kan, so kan doch bisweilen, obzwar nur selten, in der Form (der Einkleidung) gefehlt werden, nemlich in Ansehung der Präcision. So hat die gemeine Erklärung der Kreislinie, daß sie eine krumme Linie sey, deren alle Puncte von einem| einigen (dem Mittelpuncte) gleich weit abstehen, den Fehler, daß die Bestimmung krumm unnöthiger Weise eingeflossen ist. Denn es muß einen besonderen Lehrsatz geben, der aus der Definition gefolgert wird und leicht bewiesen werden kan: daß eine iede Linie, deren alle Puncte von einem einigen gleich weit abstehen, krumm, (kein Theil von ihr gerade) sey. Analytische Definitionen können dagegen auf vielfältige Art irren, entweder, indem sie Merkmale hineinbringen, die wirklich nicht im Begriffe lagen, oder an der Ausführlichkeit ermangeln, die das wesentliche einer Definition ausmacht, weil man der Vollständigkeit seiner Zergliederung nicht so völlig gewiß sein kan. Um deswillen läßt sich die Methode der Mathematik im Definiren in der Philosophie nicht nachahmen.
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 2. Von den Axiomen. Diese sind synthetische Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß sind. Nun läßt sich nicht ein Begriff mit dem anderen synthetisch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir über einen Begriff hinausgehen können, ein drittes, vermittelnde Erkentniß nöthig ist. Da nun Philosophie blos die Vernunfterkentniß nach Begriffen ist, so wird in ihr kein Grundsatz anzutreffen seyn, der den Nahmen eines Axioms verdiene. Die Mathematik dagegen ist der Axiomen fähig, weil sie vermittelst der Construction der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes die Prädicate desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kan, z. B. daß drey Puncte iederzeit in einer Ebene liegen. Dagegen| kan ein synthetischer Grundsatz blos aus Begriffen niemals unmittelbar gewiß seyn, z. B. der Satz: alles was geschieht hat seine Ursache, da ich mich nach einem Dritten herumsehen muß, nemlich der Bedingung der Zeitbestimmung in einer Erfahrung und nicht direct unmittelbar aus den Begriffen allein einen solchen Grundsatz erkennen konte. Discursive Grundsätze sind also ganz etwas anderes, als intuitive, d. i. Axiomen. Jene erfodern iederzeit noch eine Deduction, deren die leztere ganz und gar entbehren können und, da diese eben um desselben Grundes wegen evident sind, welches die philosophische Grundsätze, bey aller ihrer Gewißheit, doch niemals vorgeben können, so fehlt unendlich viel daran: daß irgend ein synthetischer Satz der reinen und transscendentalen Vernunft so augenscheinlich sey (wie man sich trotzig auszudrücken pflegt), als der Satz: daß zweymal zwey vier geben. Ich habe zwar in der Analytik, bey der Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes, auch gewisser Axiomen der Anschauung gedacht, allein der daselbst angeführte Grundsatz war selbst kein Axiom, sondern diente nur dazu, das Principium der Möglichkeit der Axiomen überhaupt anzugeben, und selbst nur ein Grundsatz aus Begriffen. Denn so gar die Möglichkeit der Mathematik muß in der Transscendentalphilosophie gezeigt werden. Die Philosophie hat also keine Axiomen und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sondern muß| sich dazu bequemen, ihre Befugniß wegen derselben durch gründliche Deduction zu rechtfertigen.
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 3. Von den Demonstrationen. Nur ein apodictischer Beweis, so fern er intuitiv ist, kan Demonstration heissen. Erfahrung lehrt uns wol, was da sey, aber nicht, daß es gar nicht anders seyn könne. Daher können empirische Beweisgründe keinen apodictischen Beweis verschaffen. Aus Begriffen a priori (im discursiven Erkentnisse) kan aber niemals anschauende Gewißheit, d. i. Evidenz entspringen, so sehr auch sonst das Urtheil apodictisch gewiß seyn mag. Nur die Mathematik enthält also Demonstrationen, weil sie nicht aus Begriffen, sondern der Construction derselben, d. i. der Anschauung, die, den Begriffen entsprechend a priori gegeben werden kan, ihr Erkentniß ableitet. Selbst das Verfahren der Algeber mit ihren Gleichungen, aus denen sie durch Reduction die Wahrheit zusamt dem Beweise hervorbringt, ist zwar keine geometrische, aber doch characteristische Construction, in welcher man an den Zeichen die Begriffe, vornehmlich von dem Verhältnisse der Grössen, in der Anschauung darlegt und, ohne einmal auf das hevristische zu sehen, alle Schlüsse vor Fehlern dadurch sichert, daß ieder derselben vor Augen gestellt wird. Da hingegen das philosophische Erkentniß dieses Vortheils entbehren muß, indem es das Allgemeine iederzeit in abstracto (durch Begriffe) betrachten muß, indessen daß Mathematik das Allgemeine in concreto (in der einzelnen Anschauung) und doch durch reine Vorstellung| a priori erwägen kan, wobei ieder Fehltritt sichtbar wird. Ich möchte die erstern daher lieber acroamatische (discursive) Beweise nennen, weil sie sich nur durch lauter Worte (den Gegenstand in Gedanken) führen lassen, als Demonstrationen, welche, wie der Ausdruck es schon anzeigt, in der Anschauung des Gegenstandes fortgehen.
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 Aus allem diesem folgt nun: daß es sich vor die Natur der Philosophie gar nicht schicke, vornemlich im Felde der reinen Vernunft, mit einem dogmatischen Gange zu strotzen und sich mit den Titeln und Bändern der Mathematik auszuschmücken, in deren Orden sie doch nicht gehöret, ob sie zwar auf schwesterliche Vereinigung mit derselben zu hoffen alle Ursache hat. Jene sind eitele Anmassungen, die niemals gelingen können, vielmehr ihre Absicht rückgängig machen müssen, die Blendwerke einer ihre Grenzen verkennenden Vernunft zu entdecken und, vermittelst hinreichender Aufklärung unserer Begriffe, den Eigendünkel der Speculation auf das bescheidene, aber gründliche Selbsterkentniß zurückzuführen. Die Vernunft wird also in ihren transscendentalen Versuchen nicht so zuversichtlich vor sich hinsehen können, gleich als wenn der Weg, den sie zurückgelegt hat, so ganz gerade zum Ziele führe und auf ihre zum Grunde gelegte Prämissen nicht so muthig rechnen können, daß es nicht nöthig wäre, öfters zurück zu sehen und Acht zu haben, ob sich nicht etwa im Fortgange der Schlüsse Fehler entdecken, die in den Principien| übersehen worden und es nöthig machen, sie entweder mehr zu bestimmen, oder ganz abzuändern.

 Ich theile alle apodictische Sätze (sie mögen nun erweislich oder auch unmittelbar gewiß seyn) in Dogmata und Mathemata ein. Ein directsynthetischer Satz aus Begriffen ist ein Dogma, dagegen ein dergleichen Satz, durch Construction der Begriffe ist ein Mathema. Analytische Urtheile lehren uns eigentlich nichts mehr vom Gegenstande, als was der Begriff, den wir von ihm haben, schon in sich enthält, weil sie die Erkentniß über den Begriff des Subiects nicht erweitern, sondern diesen nur erläutern. Sie können daher nicht füglich Dogmen heissen (welches Wort man vielleicht durch Lehrsprüche übersetzen könte). Aber unter den gedachten zweien Arten synthetischer Sätze a priori können, nach dem gewöhnlichen Redegebrauch, nur die, zum philosophischen Erkentnisse gehörige diesen Nahmen führen, und man würde schwerlich die Sätze der Rechenkunst, oder Geometrie Dogmata nennen. Also bestätigt dieser Gebrauch die Erklärung, die wir gaben, daß nur Urtheile aus Begriffen und nicht die, aus der Construction der Begriffe, dogmatisch heissen können.

 Nun enthält die ganze reine Vernunft in ihrem blos speculativen Gebrauche nicht ein einziges directsynthetisches Urtheil aus Begriffen. Denn durch Ideen ist sie, wie wir gezeigt haben, gar keiner synthetischer Urtheile, die obiective Gültigkeit hätten, fähig; durch Verstandesbegriffe| aber errichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber gar nicht direct aus Begriffen, sondern immer nur indirect durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz zufälliges, nemlich mögliche Erfahrung; da sie denn, wenn diese (etwas als Gegenstand möglicher Erfahrungen) vorausgesezt wird, allerdings apodictisch gewiß seyn, an sich selbst aber (direct) a priori gar nicht einmal erkant werden können. So kan niemand den Satz: alles was geschieht hat seine Ursache, aus diesen gegebenen Begriffen allein gründlich einsehen. Daher ist er kein Dogma, ob er gleich in einem anderen Gesichtspuncte, nemlich dem einzigen Felde seines möglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung, ganz wol und apodictisch bewiesen werden kan. Er heißt aber Grundsatz und nicht Lehrsatz, ob er gleich bewiesen werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft hat, daß er seinen Beweisgrund, nemlich Erfahrung, selbst zuerst möglich macht und bey dieser immer vorausgesezt werden muß.
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 Giebt es nun im speculativen Gebrauche der reinen Vernunft auch dem Inhalte nach gar keine Dogmate, so ist alle dogmatische Methode, sie mag nun dem Mathematiker abgeborgt seyn, oder eine eigenthümliche Manier werden sollen, vor sich unschicklich. Denn sie verbirgt nur die Fehler und Irrthümer und täuscht die Philosophie, deren eigentliche Absicht ist, alle Schritte der Vernunft in ihrem klärsten Lichte sehen zu lassen. Gleichwol kan die Methode immer systematisch seyn. Denn unsere Vernunft| (subiectiv) ist selbst ein System, aber in ihrem reinen Gebrauche, vermittelst blosser Begriffe, nur ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kan. Von der eigenthümlichen Methode einer Transscendentalphilosophie läßt sich aber hier nichts sagen, da wir es nur mit einer Critik unserer Vermögensumstände zu thun haben, ob wir überall bauen und wie hoch wir wol unser Gebäude, aus dem Stoffe, den wir haben, (den reinen Begriffen a priori), aufführen können.



  1. Vermittelst des Begriffs der Ursache gehe ich wirklich aus dem empirischen Begriffe von einer Begebenheit (da etwas geschieht) heraus, aber nicht zu der Anschauung, die den Begriff der Ursache in concreto darstellt, sondern zu den Zeitbedingungen überhaupt, die in der Erfahrung dem Begriffe der Ursache gemäß gefunden werden möchten. Ich verfahre also blos nach Begriffen und kan nicht durch Construction der Begriffe verfahren, weil der Begriff eine Regel der Synthesis der Wahrnehmungen ist, die keine reine Anschauungen sind, und sich also a priori nicht geben lassen.
  2. Ausführlichkeit bedeutet die Klarheit und Zulänglichkeit der Merkmale, Gränzen die Präcision, daß deren nicht mehr sind, als zum ausführlichen Begriffe gehören, ursprünglich aber, daß diese Gränzbestimmung nicht irgend woher abgeleitet sey und also noch eines Beweises bedürfe, welches die vermeintliche Erklärung unfähig machen würde, an der Spitze aller Urtheile über einen Gegenstand zu stehen.
  3. Die Philosophie wimmelt von fehlerhaften Definitionen, vornehmlich solchen, die zwar wirklich Elemente zur Definition, aber noch nicht vollständig enthalten. Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können, als bis man ihn definirt hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophiren stehen. Da aber, so weit die Elemente (der Zergliederung) reichen, immer ein guter und sicherer Gebrauch davon zu machen ist, so können auch mangelhafte Definitionen, d. i. Sätze, die eigentlich noch nicht Definitionen, aber übrigens wahr und also Annäherungen zu ihnen sind, sehr nützlich gebraucht werden. In der Mathematik gehört die Definition ad esse, in der Philosophie ad melius esse. Es ist schön, aber oft sehr schwer, dazu zu gelangen. Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe von Recht.


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Critik der reinen Vernunft (1781)
Inhalt
Des ersten Hauptstücks Zweiter Abschnitt. Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs. »
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