Christliche Symbolik/Seele
Auf Kirchenbildern des Mittelalters wird die Seele, getrennt vom Körper, vor der Geburt (auf Bildern der Verkündigung) oder nach dem Tode (beim Tode Mariä, der [362] Schächer am Kreuz etc.) durchgängig in Gestalt der kleinen, nackten, geschlechtslosen Kinder dargestellt. Vgl. den Artikel Kind. Ausnahmsweise tritt in dem handschriftlichen chron. Zwifalt. der Stuttgarter Bibliothek pag. 56 aus der todten Maria die Seele als Kopf und Spiegelbild des todten Kopfes hervor. — In den allegorischen Werken des 16ten und 17ten Jahrhunderts, in denen das Verhältniss der menschlichen Seele zu Christo wie ein Roman zweier Liebenden aufgefasst zu werden pflegte, nahm die christliche Seele so ziemlich das Wesen der griechischen Psyche aus dem bekannten Gedicht des Apulejus an. Ein geistliches Schauspiel: Psyche schrieb in diesem Sinn der Dichter Birker im 17ten Jahrhundert. Das schönste christliche Gedicht dieser Art sind die pia desideria von Hugo, Antw. 1624. Doch auch schon viel früher kommen Gedichte und Schauspiele von der „minnenden Seele“ vor. Vgl. Mone, Schauspiele des Mittelalters I. 131. Christus ist hier immer der himmlische Geliebte, die Seele die irdische Liebende, er vollkommen und rein, daher auch ruhig und fest, sie dagegen schwach, thöricht, eifersüchtig, unruhig und voll Fehle, aber auch voll Reue. Das eigentlich älteste Vorbild dazu ist das Hohelied Salomonis, aber in der Zeit der Renaissance wurde je mehr und mehr der Roman des Apulejus, die Liebe zwischen dem himmlischen Amor und der irdischen Psyche maassgebend.
Auch der „verlorne Sohn“ ist Personification der irrenden Seele. Nicht minder der Ritter, der sich in den „Venusberg“ locken lässt. Prüfungsreisen der Seele durch die Welt siehe v. Schack, dramatische Lit. der Spanier II. 403. 500. In andern Dichtungen und Bildwerken kommt die Seele als eine arme Bettlerin vor, mager, verhungert und in Lumpen, im Gegensatz gegen den Leib, der in Gestalt eines Esels fürstlich gepflegt, verehrt und geliebkost wird. Eicones mysticae Oraei, Francof. 1620. Aehnlich in einem altdeutschen Gedicht, handschriftlich zu Gotha. Rathgeber, Annalen 58. In Höllenbildern bekommt die Seele zuweilen Thiergestalt, entsprechend dem Laster, das zu ihrer Verdammniss führte. [363] Die Seele ist das kleine Nachbild der ganzen Menschheit. Wie diese zwischen Gott und Satan, so steht die vom Körper scheidende Seele zwischen den Schutzengeln und dem Teufel, der sie zu entführen trachtet. Wieder insbesondere ist die Seele das kleine Nachbild des Volkes Gottes im alten, der Kirche im neuen Bunde. Namentlich die Braut des Hohenliedes wird bald im Grossen als Kirche, bald im Kleinen als Seele aufgefasst.
Die Eigenschaften der christlichen Seele sind wesentlich Schwäche, Uebereilung und Sünde, Rettungs- und Erlösungsbedürfniss, Demuth und Hingebung an Gott. Auf Irren und Bereuen und Zurückgeführt- und Erlöstwerden durch eine höhere Hand läuft hier Alles hinaus, indem von vorn herein die Hoffahrt der „eigenen Gerechtigkeit“ ausgeschlossen bleibt. Erst eine ganz dem christlichen Glauben entfremdete Zeit konnte, indem sie Gott leugnete, den Menschen als das höchste Wesen von jeder Erlösungsbedürftigkeit emancipiren.