Carl Vogt (Die Gartenlaube 1895/22)

Textdaten
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Titel: Carl Vogt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 357, 362–363
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Carl Vogt 0
Nach einer Photographie von J. Lacroix in Genf.

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Carl Vogt.

(Mit dem Bildnis auf S. 357.)

Die große Zeit der Befreiungskriege war dahingerauscht; aber die glorreichen Siege hatten nicht die Früchte gezeitigt, welche die Edelsten des Volkes mit Sehnsucht erhofften. Deutschland blieb zerrissen und freie Regungen des Volksgeistes wurden unterdrückt. In dieser Zeit der Demagogenhetze wandert auch ein deutscher Doktor der Medizin und Universitätsprofessor aus seiner Heimatstadt Gießen nach Bern aus, um in dem freien Schweizerlande zu docieren. In seiner Familie befand sich ein hoffnungsvoller Sohn, ein achtzehnjähriger Student der Medizin – Carl Vogt, der später so berühmt werden sollte und nun am 5. Mai dieses Jahres in dem hohen Alter von 78 Jahren sein thätiges Leben beschloß.

Dem weiten Kreise der Leser und Freunde der „Gartenlaube“ ist er wohlbekannt, denn seit Jahrzehnten war er einer unserer hervorragendsten Mitarbeiter. Den Aelteren unter uns sind auch [363] seine Lebensschicksale nicht fremd geblieben, hatte es doch eine Zeit gegeben, in der Carl Vogt die Rolle des Gelehrten mit der eines Volkstribunen vertauschte, hatte er doch später in ruhigeren Zeiten Jahre hindurch, von Ort zu Ort ziehend, als Wanderredner Bildung und Aufklärung zu verbreiten gesucht. Etwas fremder stand dagegen das jüngere Geschlecht dem alten Vogt gegenüber; bis zu seinem letzten Atemzuge sprach er zwar auch zu ihm durch Bücher und Zeitungsartikel, aber in mancher Hinsicht hatte die rasch vorwärts schreitende Zeit den einstigen Freiheitskämpen überholt; er arbeitete rastlos am Fortschritte der Wissenschaft, aber ein Teil seines Lebens, und zwar der feurigste und bewegteste, lag wie ein abgeschlossenes Ganzes hinter ihm – gehörte der Geschichte an.

Im Jahre 1839 vollendete Vogt regelrecht seine medizinischen Studien, er hätte sich nun irgendwo als Arzt niederlassen können, aber dazu fühlte er keine Neigung. Er wollte weiter studieren, größere Gebiete des Wissens umfassen. Die Naturwissenschaft nahm ja damals einen so mächtigen Aufschwung, enthüllte so viele Geheimnisse, und der junge Doktor schloß sich ihren Bahnbrechern an, suchte mit ihnen dunkle Abschnitte der Erdgeschichte aufzuhellen. So sehen wir ihn in Neuenburg an Desors und Agassiz’ Seite thätig, wo er Gletscherexpeditionen mitmacht, um das Wesen dieser mächtigen Eisgebilde zu erforschen, wo er sich in zoologische Arbeiten vertieft und an der Feststellung der Naturgeschichte der Süßwasserfische einen hervorragenden Anteil nimmt. Diese Arbeiten trugen reiche Frucht, und Vogt konnte zu den Naturforscherversammlungen nach Erlangen (1840) und Mainz (1842) eilen, um die Kunde von neuen Entdeckungen zu verbreiten. Gleich bei seinem ersten Auftreten in den gelehrten Versammlungen offenbarte er sich als ein rückhaltlos vorwärtsstrebender Geist, als ein Dränger, der gegen das Veraltete Sturm lief. Er hatte Aufsehen erregt, doch studierte er auch jetzt noch weiter auf eigene Faust. Im Jahre 1844 ging er nach Paris und von hier aus begann er jene Thätigkeit zu entfalten, die neben wissenschaftlichen Arbeiten künftig sein Leben ausfüllen sollte. Der Naturforscher wurde auch Journalist und trat in Beziehungen zu der „Allgemeinen Zeitung“. In Paris gründete Vogt die Gesellschaft der deutschen Aerzte. Während des Winters ging er nach Nizza, um dort Studien am Meeresstrande zu treiben. Seine geologischen und physiologischen Schriften lenkten indessen die Aufmerksamkeit der Gelehrtenwelt auf die aufstrebende, so viel versprechende Kraft und im Jahre 1847 wurde der junge Forscher auf Liebigs Veranlassung als Professor der Zoologie an die Universität Gießen berufen. So war er der Heimat wiedergegeben, denn in den Mauern jener Stadt hatte er am 5. Juli 1817 das Licht der Welt erblickt.

Die Professorenlaufbahn nahm jedoch ein rasches Ende. Der Sohn des verdächtigen „Demagogen“ schloß sich in der Heimat der radikalen Partei an, und als die Revolutionsjahre kamen, wurde er als Abgeordneter in das Vorparlament und in die deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt a. M. entsandt. Dank seiner schlagfertigen geistreich witzigen Beredsamkeit schwang er sich zu einem der Führer der Linken empor, und als diese nach Stuttgart zog und dort das sogenannte „Rumpfparlament“ eröffnete, wurde Vogt neben Raveaux, Schüler, Simon und Becher zum „Reichsregenten“ gewählt. Diese revolutionäre Regentschaft dauerte nur zwölf Tage, und als ihr mit Waffengewalt ein Ende bereitet wurde, sah sich Vogt gezwungen, über die Grenze zu fliehen. In Bern und Nizza setzte er seine wissenschaftlichen Studien fort. 1852 erhielt er dann den Ruf als Professor der Geologie nach Genf; damit war seine äußere Lebensstellung begründet, denn hier verblieb er, nachdem er später zum Professor der Zoologie ernannt worden war, bis an sein Lebensende. Von hier unternahm er verschiedene Forschungsreisen, in Genua und Neapel betrieb er mit Vorliebe jene „Ferienstudien am Meeresstrande“, über deren Ergebnisse er auch in der „Gartenlaube“ berichtet hat. 1861 begab er sich auf eine Forschungsreise nach dem Nordkap, jedoch nicht in Begleitung des Prinzen Napoleon, wie neuerdings in seinen Biographien irrtümlich bemerkt worden ist.

Und auch aus der Ferne übte Vogt einen bedeutenden Einfluß auf das Geistesleben des deutschen Volkes aus. Neben Moleschott und Ludwig Büchner war er der hauptsächlichste Vertreter des naturwissenschaftlichen „Materialismns“, der eine Zeit lang die Gemüter so heftig erregte; naturgemäß trat er später als eifriger Verfechter des Darwinismus auf. Seinen Ansichten suchte er durch eine große Anzahl populärer Schriften, sowie durch Wandervorträge Geltung zu verschaffen, und das gelang ihm auch mit großem Erfolg, denn er verfügte über eine glänzende Darstellungsgabe; er schrieb klar, gemeinverständlich und verstand, Witz und Spott als scharfe kritische Waffen zu verwerten. So erregten auch seine „Physiologischen Briefe“, seine „Bilder aus den Tierstaaten“, seine Schrift „Köhlerglaube und Wissenschaft“ großes Aufsehen. Die strenge Wissenschaft verhielt sich allerdings gegenüber seinen Ausführungen mehr oder weniger ablehnend, denn der ehemalige Reichsregent war trotz all seiner Skepsis auch beim Aufbauen seiner Weltanschauung bisweilen ein sein Ziel überschreitender Schwärmer. Wir bewegen uns heute in ruhigeren Bahnen, denken kühler über die sieben Welträtsel und sind zu der Ueberzeugung gekommen, daß es doch nicht möglich ist, mit Wage und Maß alles in der Welt zu erklären. Aber niemals dürfen wir vergessen, daß auch die Wissenschaft von Zeit zu Zeit durch Stürmer und Dränger verjüngt werden muß, die sie rücksichtslos von ihrem jeweiligen alten liebgewordenen Zopfe befreien.

Das meiste Aufsehen hat wohl Vogt mit seiner Lehre von dem Affenmenschen erregt. Die Kluft, welche den Menschen auch in körperlicher Beziehung von der Tierwelt trennt, ist sehr groß und die Darwinisten suchten und suchen darum eifrig nach einem Wesen, das durch seine körperliche Beschaffenheit diese Lücke auszufüllen geeignet wäre, ein Verbindungsglied zwischen Mensch und Tier darstellen würde. Bis jetzt sind alle diese Bemühungen fruchtlos geblieben. Man hatte wohl verkümmerte Gebeine aus vorgeschichtlicher Zeit ausgegräben und in ihnen Ueberreste einer wilden den Tieren näher stehenden Stammform der Menschen vermutet; aber sorgfältige Untersuchungen mußten zu der Ueberzeugung führen, daß jene Gebeine krankhaft entartet waren, von verkümmerten Menschen herrührten, wie sie auch heute unter uns leben. Carl Vogt wandte sich dem Studium einer Mißbildung zu, durch die das Gehirn des Menschen am meisten beeinflußt wird. Von Zeit zu Zeit werden unter uns sogenannte Kleinköpfe, „Mikrocephalen“, geboren, bei denen der Durchmesser des Schädels kleiner ist als im normalen Verhalten. Das Gehirn dieser Kleinköpfe ist klein und entschieden ähnlich wie bei den Affen geformt; die kleine Schädelkapsel steht nun in auffälligem Mißverhältnis zu der Größe des Körpers; selbstverständlich liegt auch die Geisteskraft dieser Unglücklichen völlig danieder, so daß sie in ihrem Gebahren an Tiere erinnern; es fehlt ihnen auch häufig die Fähigkeit, artikulierte Laute hervorzubringen. Wie sind nun diese Mißgestalten zu erklären? Die Erfahrung lehrt, daß Eigenschaften der Ahnen mitunter plötzlich bei einem Nachkommen zum Vorscheiu kommen können. Solchen Rückschlag nennt man Ahnenbildung oder „Atavismus“; Vogt lehrte nun, daß auch die Kleinköpfe eine solche Ahnenbildung seien; sie sind nach seiner Meinung Wesen, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe, die einst die Vorfahren des Menschen eingenommen hätten, stehen geblieben sind. Sie zeigen viele Merkmale der Affen und bilden eine Uebergangsstufe von Tier zu Mensch. Das Auftreten Vogts gab Anlaß zu sorgfältigsten und eingehendsten Untersuchungen der Kleinköpfe, aber der größte Teil der hervorragenderen Forscher gelangte zu einer anderen Ansicht. Namentlich Virchow hat überzeugend nachgewiesen, daß die Kleinköpfe nicht durch Atavismus, sondern durch Erkrankungen des Gehirns in frühesten Entwicklungsstufen des Körpers entstehen. So ist die Affenähnlichkeit nur eine zufällige und die Kleinköpfe sind durch Krankheit und schädliche Einflüsse verkümmerte Menschenwesen.

In seinem langen äußerst regen und werkthätigen Leben hat aber Carl Vogt die Wissenschaft auch um eine Fülle neuer Entdeckungen bereichert, deren Wert unbestritten bleibt. Zweifellos gebührt ihm auch der Ruhm eines hervorragenden Spezialforschers. Daß er dabei nicht nur vom Katheder sprach, sondern auch herabstieg zum Volke und diesem die Ergebnisse der Forschung in klarer anziehender Weise vortrug, muß ihm als ein besonderes Verdienst angerechnet werden. Tot wäre ja die Wissenschaft, wenn ihre Errungenschaften aus den Kreisen der Gelehrten zum Volke nicht dringen und Gemeingnt aller nicht werden sollten! Carl Vogt war die Gabe verliehen, die schwierigsten Fragen weitesten Kreisen verständlich zu machen, und daß er von dieser Gabe, frei von jedem Hochmut und Dünkel, den ausgiebigsten Gebrauch machte, muß gerade auch von der „Gartenlaube“ mit besonderem Dank anerkannt werden. Er wird in unserm Andenken fortleben nicht nur als Forscher und Universitätsprofessor, sondern auch als Volkslehrer und Aufklärer. *