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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Cäcilia
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aus: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung) S. 287–320
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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V.
Cäcilia.
______

Vielleicht ist keine Schützpatronin in der Welt zu ihrem Amt unschuldiger gekommen, als Cäcilia, die Schutzpatronin der heiligen Tonkunst. Sie kam dazu, weil sie auf die Musik nicht achtete, ihre Gedanken davon abwandte, und mit etwas Höherem beschäftigt, sich von ihren Reizen nicht verführen ließ. So schreibt die Legende: a)[1] „Eine edle Jungfrau, Cäcilia, hörete Gottes Stimme, und trug das Evangelium Christi verborgen in ihrer Brust. Mit Thränen bat sie den Herren, daß unter seinem Schutz sie eine unbefleckte Jungfrau bliebe. Ein Jüngling, Valerian, ward ihr Bräutigam, von brennender Liebe zu ihr entzündet. Schon war der Tag ihrer Hochzeit bestimmt; mit Goldgestickten Kleidern ward Cäcilie bekleidet; aber an ihrem Leibe trug sie ein haarenes Gewand. Eltern und Bräutigam stürmeten auf sie, daß sie die Liebe ihres Herzens, mit der sie Christum allein liebte, nicht zeigen konnte. Der Tag der Hochzeit kam, das Brautbett war gesetzt, die Instrumente tönten; sie aber in ihrem Herzen sang zum Herren allein und sprach: „reinige mein Herz, mein Leib sei unbefleckt, daß ich nicht vor dir erröthe.“ Sie fastete zwei, drei Tage und empfahl sich Gott in ihrer Furcht. Sie lud die Engel in ihren Gebeten zu sich; mit Thränen flehete sie die Apostel und alle Heiligen des Himmels, die Diener Christi, um ihren Beistand an, dem Herren ihre Tugend zu empfehlen u. f.“ Sie erhielt diese, bekehrte ihren Bräutigam und dessen Bruder, die beide den Engel sahn, der sie begleitete; sie litt endlich das Märtrerthum, und ward eine Heilige der Kirche.“

So sprach die Legende und vergebens standen jetzt die Worte: cantantibus organis illa in corde suo soli Domino decantabat, nicht im Brevier der Kirche. Ausser dem Zusammenhange, bei der gewöhnlichen liturgischen Wiederholung, dachte man sich an den Hochzeit-Instrumenten, von denen Cäcilia ihr Gemürh abwandte, jetzt – eine Orgel; man machte sie also gar zur Erfinderin derselben, gab ihr die Werkzeuge dazu in die Hand, und ließ diese ihr inneres Herzensgebet begleiten. So kam sie zur zweiten unverhofften Ehre, eine Erfinderinn der Orgel zu seyn, von der in ihrer Legende gar nicht die Rede seyn konnte.

Endlich ward ihr eine dritte, ihrem Charakter noch fremdere Ehre. Seitdem sie zur Schutzpatronin der Musik (man weiß nicht, wenn? und wo?) erwählet war, und sich an ihrem Heiligentage, den 22. November, die Meister und Zunftgenossen derselben versammleten, ihre Schutzgöttinn musikalisch zu preisen, empfing sie mit der Zeit Opfer, die sie an ihrem Hochzeittage nicht angenommen hätte, und als eine Heilige des Himmels noch minder annehmen konnte. Man sang und musicirte vor ihr die Geschichte der Thais und des trunkenen Alexanders, wie er aus Kraft der Musik Persepolis in Brand steckte; die Geschichte Orpheus, den die Liebe ins Höllenreich trieb u. f.

So gehts mit den Namen der Menschen, mit ihrem Charakter und ihren Verdiensten. Auf dem Markte des Nachruhms, wenn alle auf ihm versammlet stünden, wie mancher würde über das, was man an ihm pries, und wie mans an ihm preiset, erröthen! –

Weit entfernt indessen, die Heilige Cäcilia von ihrem schönen Sitz der Unsterblichkeit verdrängen zu wollen, und statt ihrer, wie ein Schriftsteller gethan hat, b)[2] die heil. Ysoie, St. Vincenz, St. Odo, St. Aldric, St. Gall, oder gar den heil. Dunstan zum Patron der Musik vorzuschlagen, preisen wir diesmal den Mönchsirrthum sehr glücklich. Er hat eine schöne christliche Muse geschaffen, die durch Gemählde und Gesänge berühmt worden, und durch beide aufs Herz der Menschen wohlthätig gewirkt hat. Das einzige Gemählde Raphaels von ihr in Bologna macht sie, als eine himmlische Erscheinung, der Unsterblichkeit werth; sie hat in ihm einen eignen Charakter gewonnen, der weder eine Clio, noch eine Maria oder Magdalena darstellt; eine erhabne, standhafte Heilige ist sie, und zugleich die personificirte himmlische Andacht.

Desgleichen hat ihr Festtag Compositionen hervorgebracht, die, wenn sie auch in Wahl der Materie nicht eben alle zum persönlichen Charakter der H. Cacilia stimmten, dennoch zu den claßischen Meisterwerken der Kunst gehören, z. B. Drydens, Pope, Addisons, Congreve’s Oden zum Cäcilientage, und vor allen andern Händels Musik zum erstgenannten Gedichte.

Schön ists überhaupt für jede Kunst, eine solche Schutzgöttinn, und einen Tag des Wetteifers zu ihrem Preise in Ausübung der Kunst selbst zu haben. Man freuet sich dabei ihrer innern Natur, als eines himmlischen Geschenkes, erinnert sich der Wohlthaten, die sie dem Menschengeschlecht brachte, und sieht, eben durch diesen festlichen Wetteifer neubelebt, ein fernes, unerreichbares Ziel vor sich; man fühlt die Kunst in ihrer unsterblichen, immer neuaufblühenden Jugend-Schönheit. Noch edler und anständiger wird der Cäcilientag dadurch, daß er eine christliche Heilige singet: denn Andacht, dünkt mich, ist die höchste Summe der Musik, heilige, himmlische Harmonie, Ergebung und Freude. Auf diesem Wege hat die Tonkunst ihre schönsten Schätze erbeutet, und ist bis zum Innersten der Kunst gelangt. Alle lustigen, kleinen Ergötzungen, die die Musik erschafft, sind unschuldige Spiele oder leichte Vorübungen zu dem erhabnen, umfassenden Genuß, den nur die reine heilige Musik unsrer Seele gewähret.

Nach diesem Gruß an Cäcilia sei es mir erlaubt, einige Worte über ihre Kunst zu sagen.


I. Die tiefste Grundlage der heiligen Musik ist wohl der Lobgesang, Hymnus; ich möchte sagen, er sei dem Menschen natürlich. Wir finden uns nämlich so ganz umringt von ungeheurer Macht und Uebermacht der Schöpfung, daß wir in ihr nur wie Tropfen im Ocean zu schwimmen scheinen; und wenn dies Gefühl über einen Gegenstand oder in einer Situation zur Sprache kommt, was kann es anders, als ein Ausdruck des Seufzers werden: „ungeheure Macht, erdrücke mich nicht! hilf mir!“ Die wildesten Nationen haben auf solche Weise Anläße zu Hymnen gezeigt; gesetzt, daß sie solche auch nur an ein mächtiges Thier, an einen ungeheuren Wasserfall oder Fels, an die Nacht, an Sonne, Mond und Sterne gerichtet hätten. Je mehr indeß der menschliche Verstand sich sammlet und gleichsam selbst begreift, desto mehr findet er in dieser ungeheuren Macht auch Regeln der Weisheit, einen Gang der Ordnung, der ihm dienen kann, und dem er dienen muß, mithin Gesetze der Güte und Milde. Sein Hymnus wird also immer beredter; er erzählt die wohlthätigen oder wunderbaren Eigenschaften der großen Schöpfung in Beziehung auf sich selbst und auf andre mit ihm lebende Wesen: er nennt die Eigenschaften seines angebeteten Gegenstandes mit tausend Namen, deren ganzer Inhalt dieser ist: „Du bist groß; sei auch gut! schade mir nicht, hilf mir!“ Wenn endlich der Geist sich zum höchsten Ideal der Schöpfung, zu Gott, erhebt; ein Meer, in dem alle Vollkommenheiten zusammen fliessen; ein Mittelpunkt, aus welchem alle Radien strömen: was kann ein Wort an ihn seyn, wenn es ein Wort seyn soll, als Hymnus? „Von Dir, durch Dich, in Dir bin ich; zu Dir gehe ich wieder. Du bist alles, Du hast alles, Du gabst mir alles; gib mir das Edelste, Dir ähnlich zu seyn; hilf mir!“ Alle Völker, die Gott erkannten, haben in Hymnen solcher Art ihr Herz ausgeschüttet und ihre Vernunft gesammlet; auch in der höchsten Poesie ist der Plan solcher Lobgesänge äußerst einfach.

Es giebt nämlich zweierlei, physische und historische Hymnen. Jene wenden sich an Gegenstände der Natur und suchen gleichsam den großen unumschränkten Himmel, unter dem sie ertönen; diese können nur entstehen, wenn die Religion schon Geschichte, menschliche Geschichte worden ist, und lieben einen engern Kreis; aber auch sie gehen noch den einfachen Gang der alten Naturhymnen. Von beiden werden wir ein andermal in Beziehung auf die Griechen reden; jetzt bleiben wir bei dem, was dem christlichen Hymnus Materie und Form gegeben.

Ohne Zweifel war dies vor allem andern das Ebräische Psalmbuch. In ihm sind Lobgesänge der vortreflichsten, reinsten Art vorhanden, Gesänge die noch von keiner Nation übertroffen worden, ja die in jedem ihrer Glieder Jubel und Klang gleichsam mit sich führen. Der Geist der Tonkunst wohnt ihnen so innig ein, daß er sich jeder Sprache mittheilt, in welche sie übersetzt werden; auch in den härtesten Mundarten roher Völker fängt sich mit ihnen heiliger Gesang an zu regen. Und zwar ist es Tempel- und Chorgesang. Dieser Charakter ist ihnen mit dem Parallelismus ihrer kurzen Verse und Glieder unaustilgbar eingepräget: daher auch ins Christenthum mit ihnen sogleich die zwo Stimmen, (Priester und Volk,) die Antiphonieen kamen. Mußte Musik nicht die Basis eines öffentlichen Gottesdienstes seyn, dessen Religion sich die ganze Schöpfung, ja die Freuden des Himmels selbst als einen Tempel- und Lobgesang, als ein ewiges Hallelujah gedachte? Das Dreimal-Heilig, das Ehre sei Gott in der Höhe, daß ewige Hallelujah der Schöpfung bewegte, also auch das Schiff der christlichen Kirche; in Hölen und Tempeln ward ihre Gemeine davon ein leises oder lautes Echo.

Damit schliesse ich nicht aus, daß nicht auch Griechische und Lateinische Modulationen den christlichen Kirchengesang bestimmt haben: die alten Hymnen zeigen dies unwidersprechlich. Nothwendig mußte das Christenthum, sobald es aus Judäa ausging, in jedem Lande, in dem es sich festsetzte, den Charakter und die Modulation der Sprache dieses Landes annehmen, also auch von ihrer Dicht- und Tonkunst lernen; und am meisten war dies bei der Griechischen und Römischen Kirche der Fall, da beide dieser Sprachen, insonderheit die Griechische, so Poesie- und Tonreich waren. Indessen war und blieb dies alles nur ein Geräth, das man im Geist der Psalmen und des Jüdischen, hin und wieder auch des ehemaligen heidnischen Gottesdienstes gebrauchte, an dessen Stelle die neue Liturgie trat. Das Volk sollte beschäftigt, ergötzt, erbauet werden; wie konnte dies anders geschehen, als daß man sich seinem Ohr, Auge und Genius bequemte?

II. Nicht aber macht der Hymnus allein den Gottesdienst aus; die menschliche Seele, ein Instrument vieler Tonarten und Saiten, will auch ein sanftes, erbauliches Lied, den Zeugen einer stilleren Freude und leiseren Belehrung; sie will auch in Gefahr und Angst, in Kummer und Sehnsucht ein „Herr erbarme dich unser“, ein klagendes, ängstliches Misererc. Für alle diese Gemüthszustände und Situationen des Lebens hatten die Psalmen einen reichen Vorrath; und da die Kirche oft in Umstände gerieth, in denen sie solcher Angstgebete nöthig hatte, so ward dieser Vorrath der Psalmen vielfach gebrauchet. Daher also die Bußpsalmen, die girrende Stimme der Turteltaube in den Hölen und Steinklüften, die langen, klagenden Litaneyen mit dem wiederholten Echo des Kyrie Eleison; daher die Seufzer um Errettung, die Gesänge der Hoffnung eines andern Lebens. Auf Glaube und Zuversicht war die christliche Kirche gegründet; Glaube und Zuversicht erheben und beflügeln sich am stärksten mit dem Gesange der Andacht. Ueber den Gräbern der Entschlafenen tönte nicht heidnische Verzweifelung und Furcht fürm Todtenreiche; sondern sanfte Trauer und fröhliche Hoffnung, Hoffnung des Wiedersehens, des ewigen Zusammenlebens mit einander.

III. Das heilige Geheimniß endlich, das Geheimniß eines der Kirche beiwohnenden, sie erfüllenden, im Sakrament theilhaft werdenden Gottes, wie konnte es anders, als mit Intonationen einer göttlichen Gegenwart und Begeisterung gefeiert werden? Daher die hohen und tiefen Accente bei Einweihungen, und in den Momenten des Wunders. Selbst das christliche Glaubensbekänntniß, konnte von der Musik nicht ausgeschlossen seyn: denn es ward ein Gelübde des Herzens auf Leben und Tod über heiligen Gebeinen. Die ganze Idee der christlichen Kirche, daß sie eine Einzige, allgemeine, unter einander durch Einen Geist verbundene Gemeine sey, machte an sich schon Gesang, Gebet, Segen, Fürbitte zu einem allgemeinen Opfer, zu einem Weltverbreiteten Hallelujah.

Nachdem, was hier in größester Kürze angedeutet worden, ist es nicht zu verwundern, daß die ganze Einfaßung der christlichen Liturgie insonderheit in der Griechischen und Römischen Kirche Gesang ward; auch die Syrische und keine andre hat sich davon ausschliessen mögen. Vom frühesten Stral der Morgenröthe beginnet der Gottesdienst mit Versikeln und Intonationen, Antiphonieen und Doxologieen; Psalmen und Hymnen wechseln; die Lesungen und Gebete, die Ermahnungen ans Volk sind gleichsam nur zwischengestreuet. Das Christenthum nämlich begann bei Völkern, die voll lebendiger Einbildungskraft und von großer Reizbarkeit waren; diese liebten Erweckungen des Herzens, einen Aufschwung der Phantasie durch Ohr und Auge. Und da ihnen, angezeigtermaassen, das Psalmbuch der Juden, sammt der Poesie und Tonkunst ihrer Landessprache, ja der Inhalt und Zweck der Religion nach Beschaffenheit der damaligen Zeiten, und des früheren Gottesdienstes, an welchen sie von Kindheit auf gewöhnt waren, zu Hülfe kam; so ward aus Gesängen und Sprüchen des alten und neuen Testaments, aus dem Gloria und Ave, aus Credo und Kyrie Alles gemacht, was die andächtige Tonkunst daraus machen konnte. Man gehe das Ritual der Griechischen und Römischen Kirche in diesem Gesichtspunkte durch; sie sind große Gebäude, ich möchte sagen, Labyrinthe des musikalisch-poetischen Geistes, in denen Geschichte und Lehren nur ihre kleinen Wohnungen haben. Propheten und Psalmen sind hin und wieder vortreflich gebrauchet, und über das Ganze ist ein Strom der Begeisterung, der lyrischen Fülle und eines so lauten Jubels verbreitet, daß, wenn man es auch nicht wüßte, man es mit grosser Gewalt fühlet: „eine, solche Anordnung sei nicht das Werk eines Menschen, sondern die Ausbeute ganzer Nationen und Jahrhunderte in verschiednen Himmelsstrichen und den mannigfaltigsten Situationen.“ Einem Dichter, der für die Kirche mehr als einzelne Lieder dichten will, sind diese Bücher zu studiren eben so unentbehrlich, als dem Tonkünstler, wer er auch seyn mag, die unerreichbaren Muster der ältern Musik der Kirche. Denn, heilige Cäcilia, mit welchen Wunder- und Herzenstönen hast du deine Lieblinge, einen Leo, Durante, Palestina, Marcello, Pergolese, Händel, Bach u. f. begeistert! In und aus ihnen tönte die heilige Musik in vollem, reinen Strome; bis sie sich nachher in tausend anmuthige Bäche zertheilt hat.

Ziehen wir aus dem, was historisch bemerkt worden, einige Folgen: so ergiebt sich vor allem, daß der christliche Kirchengesang von Anfange bis zu Ende eines Gottesdienstes oder Festes Ein Ganzes seyn müße, das vom ersten bis zum letzten Tone Ein Geist belebet. Aus unsern protestantischen Kirchen ist diese Einheit ziemlich verschwunden, auf welche es doch in der ersten Kirche so fühlbar und groß angelegt war. Wir fangen freilich mit einem Demuthsvollen Kyrie an, und unterbrechen es zuweilen mit einem Gloria. Ein Allein Gott in der Höh sei Ehr! soll das Gemüth erheben; Antiphonieen und Lectionen werden eingestreuet; ein sanftes Lied, ein gesungener Glaube sollen die Seele zum Gehör göttlicher Worte bereiten; der Genuß des Abendmals endlich soll in der feierlichsten Rührung mit Gesang und Segen den Gottesdienst beschliessen; wie weit sind wir aber davon weggekommen, daß dies Alles Ein Ganzes auch im sinnlichgeistigen Eindruck werde! Die Musik der Kirche sollte dies Band seyn: denn sie ist sinnlich und geistig; zwischen ihren Ufern sollte der Strom der Begeisterung und Andacht sanft oder stärker fortströmen. Aber die Orgel allein thuts nicht; Instrumente allein werdens auch nicht bewirken. Die Anordnung des Gottesdienstes selbst im Innern und Aeußern, Sänger, Leser, Prediger, die Gemeine, also ihre Erziehung, der Zweck und die Art, wozu und wie sie beisammen ist, müssen dazu beitragen, daß Klopstocks goldener Traum, die Chöre, erfüllt werde. c)[3]

Und ehe dieser goldene Traum erfüllet wird, wollen wir wenigstens einige Worte von dem reden, was dem musikalischen Dichter und seinem Tonkünstler auch jetzt schon vor der Hand zu liegen scheinet; so bald sie darauf Rücksicht zu nehmen geneigt wären.

1. Die Basis der heiligen Musik ist Chor: denn eine Gemeine soll singen, und wenn zwei oder drei versammlet wären, so machen sie mit der ganzen Christenheit auf Erden Eine Gemeine. Arien also, Duette, Terzette u. dgl. sind nie das Hauptwerk einer Musik der Kirche, gesetzt, daß sie auch in die Kirche gehörten. Nur auf dem Wege des Chors, (im weitesten Verstande genommen,) gelangt man zu jener Bewegung und Rührung, die diese Musik erfodert. Die tiefste Demuth, ja ich möchte sagen, Vernichtung und Zerschmelzung vor Gott, alle Ermunterungen zu Trost, Hoffnung und Freude, jene Ausbrüche des Glaubens, der Hoffnung, Frage und Antwort, Zweifel und Zuversicht, Kummer und Trost, Fluch und Segen sind in den reichen Sätzen und Gegensätzen der Chorsprache alten und neuen Testaments zu finden. Einen grossen Theil der biblischen Bücher schlage man auf, wo man will; und es fallen Stellen ins Auge, die, wie Stimmen Gottes und der Gemeine, der Dichter nur aufnehmen und anwenden, der Tonkünstler nur fühlen und für das Herz der Menschen accentuiren darf. Hier ist Vorrath auf ewige Zeiten.

2. Der Chor des heiligen Gesanges ist aller Abwechselungen und Veränderungen fähig, die irgend nur in der reichen und weiten Sphäre seines Inhalts liegen. Die Sprache der Psalmen und Propheten ist uns auch hier Muster. Man sehe z. B. den 2. 24. 42. 43. 46. 50. 68. 82. 87. 95. 113–118. 121–29. Psalm; welche Abwechselung des lyrischen Gesanges vom leisesten Solo bis zum vollesten Chor, in allen Stuffen und Inversionen, ist in ihnen vorgezeichnet! Und der Gebrauch derselben, die Anwendung einer jeden Stimme und Antwort, wie mannichfaltig darf und kann sie seyn nach Inhalt und Zeiten! Hier also ist das lyrische Gebäude in höchster Würde und Vollkommenheit zu erbauen; hier oder nirgend: denn mit Worten und Tönen wirkt die Kunst hier rein. Es sind Stimmen, die sich hören lassen, und keine Personen; aber alle Stimmen der Welt, von der Stimme Gottes an, bis zum Laut und Seufzer jedes Herzens, jeder reinen menschlichen Empfindung. Die Symmetrie zweier Stimmen und Chöre bleibt indessen die Hauptabtheilung, wie bei jedem symmetrischen Gebäude, so auch hier; dies ist der Einfalt gemäß, die sowohl das Herz als die lyrische Kunst wünschet.

3. Daß die Chöre von Hymnen und Liedern unterbrochen oder gleichsam aufgenommen, besänftigt, oder beflügelt werden, liegt abermals in der Natur der Sache. Wir sind aber auch hierinn hinter der ältern Kirche zurück geblieben. Die lateinische hatte nur wenige, kaum neun Haupt-Sylbenmaasse zu ihren Hymnen; diese sind alle popular und sehr faßlich; und doch sind von ihnen kaum zwei und drei sehr unvollkommen zu uns hinüber gerettet worden. Das prächtige pange lingua gloriosi, die sapphischen und anapästischen Metra wagen sich nicht in unsern Kirchengesang, der größtentheils aus den Meistersängerzeiten seine Melodieen erhalten. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wollte man diesen mit weicheren, abwechselnden Sylbenmaassen vermehren; meistens aber geschah es so ganz ohne Geschmack und Würde, daß sich die neuen polymetrischen Gesänge zum Glück nicht erhalten haben; daher die ältern, unter welchen mehrere Vortrefliche sind, immer noch die vorzüglicheren bleiben. Und doch, wer sollte es dem Kirchengesange wehren, alle die Abwechselung, allen den Flug zu nehmen, den der Hymnus oder das Lied fodern? Aber Musik muß diese Melodieen einführen; sie müssen zuerst in einem größeren Gebäude der Tonkunst erscheinen, daß die Gemeine sie, unvermerkt gleichsam und willig, lerne. Was in der Welt bedeutet sonst der einzelne Vers eines Chorals, den wir jetzt unsern Kirchenmusiken einstreuen? Bei der einzelnen Strophe eines Liedes wird ja die Seele nie warm; man spüret, wenn die Strophe aufhöret, eine unangenehme Leere; und es bleibt bei diesen Zertheilungen Alles ein künstliches Flickwerk. Nicht also die ältere Kirche. Ihre Hymnen sind kurz; allemal aber von mehreren Strophen, und zu allen blieb ihr das Dreimalheilig ein Muster. Da es nun überdem ausser allem und über allen Widerspruch ist, daß unsre Poesie und Sprache gegen die Sprache unsrer Vorfahren zehnfach ausgebildeter worden; warum wollten wir fortfahren, nur zwo Saiten zu berühren, da wir ein Instrument von zwanzig, von hundert Saiten in unsrer Hand haben? Sehen wir nicht, daß ausser der Kirche die Musik erstaunende Fortschritte gethan hat, daß durch diese selbst das Ohr des Volks vieltöniger worden ist, und daß wir folglich nicht mehr wie unsre alten Vorfahren leyern und singen können, weil wir nicht mehr wie sie accentuiren, sprechen und leben? Eine Reformation des Kirchengesanges dünkt mich also ein natürliches Erforderniß der Zeit zu seyn; auf dem angezeigten Wege, unter den breiten Flügeln der Kirchenmusik kann sie am leichtesten und angemessensten erlangt werden. Hier wird sie in allen Theilen harmonisch gebildet und eingeführt; der Chor der Kirche nimmt sie willig auf.

4. Die Recitative können in der Kirchenmusik nichts als die Stelle der Lectionen vertreten; sie müssen also nur eingestreuet werden, dabei äußerst einfach, kräftig und kurz seyn. Sind uns die Evangelien nicht bekannt? lies’t sie der Lector nicht vor dem Pult? und wir wollten uns damit aushelfen, daß wir ihre einfachen Worte, an denen die Wahrheit der Erzählung haftet, mit fremdem, rhetorischen oder poetischen Schmuck verbrämen? Durch dies beschwerliche Kunststück erreichen wir nur Eins, daß wir mit vieler Mühe in langen Phrasen unmusikalisch sagen, was an sich in seiner alten evangelischen Erzählung größten Theils sehr musikalisch gesagt war: denn es ist nicht zu bergen, daß der historische Styl der Bibel, so wie Oßian, ja jede von Kindern und einfachen Völkern erzählte Geschichte der Musik viel empfängiger ist, als unsre künstlichsten Recitativ-Perioden. Die ältere Kirche fügte es also anders. Nur wenige Hauptworte nahm sie aus den Lectionen zum Gesange auf, ließ diese in Antiphonien wiederkommend ans Herz dringen, als Hauptdenkmale der ganzen Geschichte. Dies dünkt mich sei der wahre Zweckmäßige Gebrauch derselben nach Ort und Zeit: denn warum dörfte der Gemeine eine Geschichte vorgesungen werden, die sie weiß, ja die sie eben gehört hat? Und welches sogenannte malende Recitativ könnte eine Geschichte malen? Aber Worte, Stellen aus der Geschichte ans Herz legen, das kann die Tonkunst.

5. Hiemit zeigt sich also, daß die Kirchenmusik auf keine Weise dramatisch seyn könne, und wenn sie dies seyn wolle, sie ganz ihren Zweck verfehle. Auf dem Theater ist alles auf dramatische Vorstellung, Charakterschilderung, aufs Spiel der Personen eingerichtet; hier zeigen sich, wie gesagt, keine Personen, hier wird nichts repräsentiret. Es sind reine, unsichtbare Stimmen, die unmittelbar mit unserm Geist und Herzen reden. Wollte man biblische Geschichten dramatisiren; so gehören sie nicht für die Kirche, sondern mögen zu Hause in sogenannten geistlichen Cantaten gesungen ober gespielt werden. Vor der Gemeine verliert die einzelne Person, sie möge einen Petrus oder Johannes, eine Maria oder Magdalene vorstellen, nicht nur alles Ansehn mit ihrer Gebehrde, sondern das Wort ihrer Stimme verliert auch als Wirkung. Dies Wort muß ihrem Munde schon entnommen, und allgemeiner Gesang, ein Wort an alle menschliche Herzen geworden seyn: alsdann wirds eine Stimme der heiligen Tonkunst. So z.B. der Gesang Simeons, so selbst die Worte Christi, der Propheten und Apostel. Die heilige Stimme spricht vom Himmel herab; sie ist Gottes Stimme und nicht der Menschen; weh ihr, wenn sie, um sich sichtbar zu machen, ein theatralisches Gewand anleget! Diese Unsichtbarkeit, wenn ich sie so nennen darf, erstreckt sich bis auf die kleinsten Anordnungen und Verhältniße der geistlichen Tonkunst. Eine Arie, ein Duett oder Terzett, das einzeln glänzet, jede Sylbe, in welcher der Dichter oder Künstler spricht, um sich zu zeigen, schadet der Wirkung des Ganzen und wird dem reinen Gefühl unausstehlich. Dramatische und Kirchenmusik sind von einander beinahe so unterschieden, wie Ohr und Auge.

Hieraus ergiebt sich aber auch, daß Eine die Andre nicht schmähen, oder verachten sollte: denn sie sind und bleiben, obwohl sehr ungleiche, Schwestern. Es war Natur der Sache, daß aus der Kirchenmusik dramatische Musik entstand, so wie bei den Griechen aus dem Chor und Dithyramb die Tragödie ward, und diese in natürlichen Stuffen fortgieng. Es war Natur der Sache, daß die dramatische Musik vieles gewann, wozu sie im Heiligthum nie kommen konnte, insonderheit, ich möchte fast sagen, sichtbare Bestimmtheit. Sie muste an einer vorgestellten Handlung Theil nehmen, diese vorbereiten, leiten, ausdrücken helfen; tändeln und lachen, sogar niesen und gähnen mußte sie lernen. Da sie einzelne Charaktere auszudrücken, individuelle Situationen zu beleben hatte: so ward sie aufs feinste und lebhafteste charakteristisch. Dies alles lag ausser den Grenzen der heiligen Tonkunst; sie vergiftete sich selbst, wenn sie nach solchen verbotenen Früchten greifen wollte. Dafür aber blieb ihr ihr Baum des Lebens um so sicherer, die reine, allgemeinmenschliche Rührung; die dramatische Tonkunst selbst mußte nach seinen Blättern und Blüthen greifen, wenn sie aufs Herz des Menschen, nicht blos auf Auge und Ohr wirken wollte. Wie oft schließen wir unser Auge bei einer schönen Musik des Theaters, und mögen die Gebehrden des Sängers, die Reize der Sängerin nicht mit ihr verbinden! Wie oft trennen wir einen Gesang des Herzens von der ganzen Scene, in der er gesungen ward und nehmen ihn als ein Privat-Eigenthum mit uns! Hat endlich die wahre Musik sich nicht sogar über alle Instrumente ergoßen, und mit jeder Situation des menschlichen Lebens gleichsam familiarisiret, ohne daß sie weder hier noch dort als Drama erscheinet? Warum müßte sie denn im Tempel dramatisch werden?

„Also ist doch, wird man sagen, die wahre Musik dem Tempel jetzt ziemlich entflohen? und wird sie je in denselben zurückkehren?“ Ganz entflohn ist sie daraus nicht; und es ist wahrscheinlich die Schuld der Tempel mit gewesen, wenn sie daraus hie und da entfliehen mußte. In andern Tempeln wohnet sie noch, obzwar unerkannt der theatralischen Welt; und wenn sie sich aus ihnen in den Meisterwerken der älteren Zeit weit verbreitet hat, so werden diese Meisterwerke von allen innigen Tonkünstlern noch jetzt aufs höchste geschätzt, in der Stille studirt, auch angewandt, wo sie irgend angewandt werden mögen. Die heilige Musik ist so wenig ausgestorben, als das wahre Gefühl der Religion und Einfalt aussterben kann; indessen wartet und hoffet sie freilich auf eine Zeit der Wiedereinsetzung und Offenbarung. Sollte ihr diese auf immer versagt seyn? Ich sehe dazu keine Ursache. Lasset drei dazu geschaffene Menschen aufleben und einander begegnen, einen Beschützer, einen Tonkünstler und einen Dichter; so könnte in einem kleinen Kreise schon viel werden. Der Dichter dörfte selbst nicht vom ersten Range seyn; nur von einer Art, in der er hier der Erste wäre, ein Mann, der, mit einem Gefühl für das, was heilige Musik ist und allein seyn kann, allen Vorrath derselben in den heiligen Büchern kennte, das alte Ritual von den Schlacken, unter denen es begraben liegt, zu reinigen wüßte, sich von allem Hergebrachten des neueren Modegeschmacks entfernt halten könnte, und darnach, unserer Zeit angemessen, eine simple, große Anordnung machte. Ein Tonkünstler, der mit warmen hohem Gefühl für das Göttliche seiner Kunst diesen Tempel erfüllte, diesen Tempel belebte; ein Beschützer endlich, der diesem Allen zur lebendigen Anwendung einen Platz, eine Schule der Kunst gönnte; setzet diese Drei zusammen, und es könnte in der protestantischen Welt geschehen, was in ihr vielleicht noch nicht gethan ist. Ob es zu unsern Zeiten geschehen wird, ist eine andre Frage. Es werden indeß noch manche andre Zeiten kommen, und was nicht heute geschieht, geschiehet morgen. Cäcilia wird wiederkehren vom Himmel, und sich hie und da eines reinen, eines ganz reinen Tempels freuen. So lange wollen wir jeden Funken des heiligen Feuers in der Asche bewahren.

Ich füge ein Lob der Tonkunst bei, das im Musikalischen Kunstmagazin erschienen, übrigens aber zur Composition auf einen Cäcilientag

[320] nicht bestimmt ist. Es ist nur eine Schilderung, ein Lob der Tonkunst.
  1. a) Dei vocem audiens Caecilia Virgo clarissima absconditum semper Evangelium Christi gerebat in pectore, Dominum fletibus exorans, ut virginitas eius ipso conservante inviolata permaneret. Haec Valerianum quemdam iuuenem habebat sponsum, qui juuenis in amore Virginis perurgens animum, diem constituit nuptiarum. Caecilia vero subtus ad carnem cilicio induta, desuper auratis vestibus tegebatur. Parentum vero tanta vis et sponsi circa iliam erat exaestuans, ut non posset amorem cordis sui ostendere et quod solum Christum diligeret [290] indiciis evedentibus aperire. Quid multa? Venit dies, in quo thalamus collocatus est. Et cantantibus organis, illa in corde sno soli Domino decantabat, dicens: siat cor meum et corpus meum immaculatum, ut non confundar; et biduanis ac triduanis jeiuniis orans commendabat Domino, quod timebat. Invitabat angelos precibus, lacrimis interpellabat apostolos, et fancta omnia Christo famulantia exorabat, ut suis eam deprecationibus adiuuarent, suam Domino pudicitium commendantem. Acta Caecil.
  2. b) Varietè historiq. et literair. Par. 1752. T. III. p. 242
  3. c) S. Klopstocks Oden, Hamburg bei Bode s. 227.