Blumenschrift im Buche der Geschichte
[870] Blumenschrift im Buche der Geschichte. Obgleich zu den vergänglichsten Dingen der Schöpfung gehörend, können die „stillreizenden Naturkinder“ – wie Goethe die Blumen und Pflanzen nannte – doch auch als dauernde Zeugen in der Weltgeschichte auftreten.
So haben die großen geschichtlichen Ereignisse, welche sich in der Wiener Gegend abspielten, auch in der schönen Flora derselben manch Denkzeichen hinterlassen. An die Herrschaft der Römer erinnert wie an vielen Orten Deutschlands so auch bei uns das unscheinbare Wand- oder Glaskraut (Parietaria officinalis), dessen Blätter znm Glasreinigen hie und da verwendet werden. Sein ursprünglicher Standort war an den Mauern und Wällen der römischen Kastelle. Von da aus gelangte es an Schuttplätze und ähnliche Orte, auch in die Auen der Donau, wo es stellenweise förmliche Dickichte bildet.
Nach der zweiten Türkenbelagerung Wiens (1683), an welche das nun vor der neuen Universität aufgestellte Denkmal des wackeren Bürgermeisters Liebenberg erinnert, blieb zugleich ein kleines Gewächs als Denkzeichen zurück, dessen Same wohl den Fouragesäcken der türkischen Rosse entstammt: es ist dies das syrische Schnabelschötchen (Euclidium syriacum). Mehr Andenken aus dem Reiche Floras hat indessen das längere Schalten der Türken in Ungarn hinterlassen. Der Feigenbaum auf dem Ofener Blocksberg steht seit der türkischen Herrschaft. Ferner haben die „barbarischen“ Türken den anmuthigen Flieder, die Tulpe, die „brennende Liebe“ (Lychnis chalcedonica), die Paeonie – magyarisch: basa-rósza, d. i. „Pascha-Rose“ – den syrischen Eibisch oder die Türkenrose (Hibiscus syriacus), die Kaiserkrone und Balsamine auf die ungarische Flur versetzt, von wo aus sie den Weg nach dem westlichen Europa gefunden haben. Wer die Geschichte der Zierblumen schreiben will, wird sich auch mit ihren volksthümlichen Namen zu beschäftigen haben, die oft deutlich auf den Einführungsweg hinweisen. Der Name „Tulpe“ z. B. kommt unmittelbar vom türkischen „tu1band“ oder „tulbent“, d. i. „Turban“, mit welchem die prächtige Blume ihrer Form wegen verglichen ward. Merkwürdig ist nun, wie sich in dem „Dulibana“ und „Tulapana“ der niederösterreichischen Mundart eine der ursprünglichen sehr nahestehende Form erhalten hat. Am Rheine, in der Gegend von Aachen, sagen die Leute „Tulepant“. Auch Immermanns „Tulifäntchen“ – das Kind eines Geschlechtes, welches die Tulpe im Wappen führt – klingt hier an.
Im warmen Wasser des Bischofsbades bei Großwardein und des Kaiserbades bei Ofen wächst eine merkwürdige Seerose, die Nymphaea thermalis, welche der ausgezeichnete Kenner dieser Gattung, Caspary, für ein und dieselbe Pflanze mit der ägyptischen Lotosblume erklärte. Man steht dem Vorkommen dieser ausgesprochenen Tropenpflanze in unseren Himmelsstrichen als einem pflanzengeographischen Räthsel gegenüber, das zu lösen sich verschiedene Gelehrte Mühe gegeben haben. Borbas hält dafür, daß auch diese Seerose von den Türken nach Ungarn gebracht worden sei. Kerner aber, der geistvolle Verfasser des „Pflanzenlebens“, sieht die Nymphaea thermalis als letzten Rest jener südländischen Flora an, welche vor der Eiszeit Europa mit Palmen, Pisangen etc. überdeckte und als wahres Paradies erscheinen ließ. An diesem einen Beispiel zeigt sich, zu welch weiten Ausblicken die Gewächse Anlaß geben, und daß Botaniker sein heutzutage nicht bloß Staubgefäßzählen heißt.
Gleichfalls an die Türkenzeit gemahnt eine Blumensage in Kärnthen. Die allgemein bekannte, duft- und blüthenreiche Erdscheibe (Cyclamen europaeum), welche auch auf den Hängen des Wiener Waldes reizende Arabesken bildet, wird in Kärnthen „Türkenkraut“ genannt, und zur Erklärung dieses Namens erzählt man folgende Geschichte: Als die Türken in Krain einfielen, da flüchteten Frauen und Kinder vor den rauhen Horden über die Karawanken ins Kärnthner Land. Aber die Heiden zogen ihnen nach und metzelten sie nieder. Der Boden trank das Blut der Unschuldigen und ließ zum Gedächtniß für ewige Zeiten das Türkenkraut hervorsprießen, dessen Blätter seither an der Unterseite blutig geröthet sind. Die Sage des Volkes bemächtigte sich hier der Erscheinung, daß die Blätter der Erdscheibe an der Unterseite durch wirkliches Blumenroth gefärbt sind.
Aber auch außerhalb Oesterreich-Ungarns treffen wir allenthalben auf Beispiele der nahen Beziehungen, in welchen die Blumen zu der Weltgeschichte stehen. Der giftige Zwerghollunder oder Attich (Sambucus Ebulus), der gern an alten Burgen wächst, soll zur Zeit der Kreuzzüge durch Troßknechte, welche die Beeren als Heilmittel für die Pferde von jenseit der Alpen mitbrachten, in Deutschland angepflanzt worden sein. Jetzt sorgen die munteren Vögel für die Verbreitung der Pflanze, deren Beeren sie nachgehen. Durch die großartigen Truppenzüge, welche die Kriege zu Beginn unseres Jahrhunderts verursachten, ist das russische Corispermum Marschallii an den Rhein, die orientalische Zackenschote bis nach Paris gelangt. Die amerikanische Wanderpflanze Galinsoga parviflora (Gängelkraut), die jetzt sogar auf der Wiener Ringstraße die armen Götterbäume zu trösten sucht, trat in der Gefolgschaft der Napoleonischen Heere in Norddeutschland auf. Die mittelalterlichen Tatareneinfälle ließen in Mitteleuropa den Kalmus zurück, der jetzt zwar überall mit seinen langen Wurzelstöcken die Sümpfe durchflicht, seine wärmere Heimath jedoch durch den Umstand darthut, daß er bei uns niemals Samen ausreift.
Gustav Freytag, welcher im ersten Bande seiner „Ahnen“ duftigen Kalmus zum Feste ausstreuen läßt, begeht einen kleinen Anachronismus. Es ist möglich, daß auch der Stechapfel, dessen Name Datura (früher Tatura) an die Tataren erinnert, mit diesem Eroberervolk seinen Einzug in Europa hielt. Auch eine Kulturpflanze, der Buchweizen (Polygonum Fagopyrum), war vielleicht ursprünglich Trabant der asiatischen Eroberer. Hierfür spricht das slavische tattarka und tattar, dem freilich gretscka und gryka (Griechenkorn), sowie das italienische grano saraceno, endlich das französische blé sarasin (Sarazenenkorn) entgegenstehen. M. Couronne.