Betrachtung eines französischen Reiseschriftstellers über Deutschland

Textdaten
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Autor: A. Sulzbach
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Titel: Betrachtung eines französischen Reiseschriftstellers über Deutschland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 68, 70
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Besprechung: „Au pays de Gretchen“ von Henri Amic
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[68]

Betrachtung eines französischen Reiseschriftstellers über Deutschland.

Monsieur Amic muß ein ganz besonderes Talent sein: er reist schnell, sieht schnell, beobachtet schnell und urtheilt schnell. Zwanzig Tage nur brauchte er, um Deutschland und einen Theil Oesterreichs zu bereisen, und zwar folgende Route zu machen: von Paris nach Straßburg, Heidelberg, Frankfurt am Main, Wiesbaden, Ems, Koblenz, zurück nach Frankfurt, Kassel, Leipzig, Berlin, Dresden, sächsische Schweiz, Prag, München, Innsbruck, Kufstein, zurück nach München, Nürnberg, Baireuth und von da über Metz zurück nach Paris. Das wäre nun an und für sich schon ein ganz erkleckliches Pensum für die kurze Zeit; erstaunen müssen wir aber, wenn wir hören, daß Herr Amic ein so geschickter Zeiteintheiler ist, daß er den hervorragenden Städten eine eingehende Betrachtung widmen, die Theater, Sammlungen und Galerien besichtigen, der Umgegend der verschiedenen Städte Besuche abstatten, Fußpartien machen, kleine Abenteuer erleben und dabei noch solch eingehende Beobachtungen machen konnte, daß er im Stande war, ein 386 Seiten dickes Buch über seine Reise zu schreiben.

[70] Freilich will es Einen oft bedünken, als ob der Verfasser seine Reise-Erfahrungen zum großen Theil aus Reisebüchern oder Konversationslexicis und zwar älterer Ausgabe gesammelt habe, namentlich wenn man Gelegenheit hat, in Bezug auf die Plätze, welche man aus eigener Anschauung sehr genau kennt, den Verfasser besser zu kontrolliren. Wenn er z. B. vorgiebt, mit dem Glockenschlage zwölf (er giebt die Zeit genau an) in Frankfurt den zoologischen Garten besucht und beim guten Mittagsmahle und der nachher angezündeten Cigarre sich an der Gartenmusik ergötzt zu haben, so muß nothwendiger Weise, soll dies erlebt sein, die Kapelle in liebenswürdiger Weise dem hohen Gaste zu Ehren ein Extrakoncert aufgeführt haben, denn sonst beginnen die Koncerte ausnahmslos erst um vier Uhr Nachmittags. Bis dahin konnte aber Herr Amic seinen Aufenthalt im Garten nicht ausgedehnt haben, denn um jene Zeit war er schon beim Wettrennen im Walde, nachdem er noch vorher dem „Römer“ einen Besuch abgestattet hatte. Es wird auch wohl ein altes Konversationslexikon gewesen sein, in welchem der Verfasser die „noch bestehende“ „Frankfurter Oberpostamts-Zeitung“ gefunden, in einem Café wird er sie vergebens gesucht haben, da sie schon seit 1866 eingegangen ist.

Herr Amic durchstreift Deutschland nicht mit sehr freundschaftlichen Gefühlen, nur der Gedanke, daß es bald wieder zu dem herrlichen Kriege kommen werde, in welchem sich Frankreich die in den Jahren 1870 bis 1871 verlorenen Provinzen wieder zurücknehmen wird, kann ihn über so manchen verdrießlichen Anblick trösten. Namentlich ist es der luxuriöse Bahnhof Berlins, der so „ohne Zweifel mit dem Gelde erbaut ist“, das die Deutschen den Franzosen abgenommen haben. Der Aerger wäre vielleicht ein intensiverer gewesen, wenn nicht der „zweifelhafte Geschmack“, von welchem dieses mit Luxus ausgestattete Gebäude zeugt, so recht die Inferiorität der Deutschen gegen die Franzosen verkündete.

Es sind aber noch manche andere Dinge, die den edlen Zorn des Herrn Amic erwecken. Da ist es die Ruine des Heidelberger Schlosses. Wie! der Schmerz über die Handlung französischen Vandalismus? – Das wäre doch eine seltene Art richtiger Selbsterkenntniß und Offenherzigkeit, die man sonst bei den französischen Berichterstattern über Deutschland nicht gewohnt ist! Ja, wenn hier der Schmerz säße! Herr Amic bedauert den Vandalismus erstens, weil er einen Präcedenzfall gegen die Franzosen geschaffen hat, und zweitens, weil durch die Zertrümmerung das Schloß erst eine Sehenswürdigkeit geworden, denn „ich behaupte, das alte Heidelberger Schloß konnte niemals anmuthsvoller und phantastischer erscheinen, als seitdem es als Ruine dasteht“. Edler, feinfühlender Gallier!

Dagegen empfindet aber auch der Prachtreisende besondere Freuden, die ihm so leicht kein Anderer nachfühlen kann.

Im Berliner Bahnhof ist er, wie er sagt – und da muß es doch wohl wahr sein! – von einem Dienstmann um sechs bis sieben Mark bestohlen worden. Das entzückt ihn, das beglückt ihn, bisher war er überall ehrlich behandelt worden, er war betroffen darüber, und nun von einem Prussien bestohlen! Kann es eine größere Glückseligkeit geben?

Auch ein großer Kunstkritiker ist Herr Amic, so bezeichnet er z. B. Rauch’s Statue Friedrich’s II. als ein „œuvre assez banale“ und das neue Opernhaus in Frankfurt am Main als eine „mauvaise copie“ der neuen Opera in Paris.

Es wäre jedoch ungerecht, wenn wir nicht hier auch erwähnen wollten, daß der Verfasser für manches Praktische und Angenehme in Deutschland das richtige Verständniß hat und ihm die Anerkennung nicht verweigert, freilich überrascht er uns dabei durch manches Neue, von dem wir bis jetzt noch nichts wußten.

So findet er die Farben, welche die Studenten tragen, sehr praktisch: können ja an den vielfarbigen Kappen der Studenten die Eingeweihten die Art und den Grad der Studien ihrer Träger erkennen!! Neu ist das allerdings; wir hätten aber diesen drolligen Einfall ungern in dem Buche vermißt. Hätte er diese Entdeckung gemacht, nachdem er die Flasche „Laubenheimer Johannisberg“ getrunken, so hätten wir dieselbe der Einwirkung jenes potenzirten Weines zugeschrieben, aber die hat er ja erst, wie er mittheilt, in Bodenbach zu sich genommen, oder sollte sie schon im Voraus ihre Schatten geworfen haben? Uebrigens ist die Entdeckung des „Laubenheimer Johannisberg“ auch nicht schlecht.

Der Verfasser betitelt sein Buch „Au pays de Gretchen“; man könnte glauben, es läge darin eine zarte Huldigung, die er dem Verfasser des „Faust“ gebracht, der die poesieumflossene Gestalt Gretchens geschaffen, und auf ihn übe dieser Name den bezaubernden Einfluß, dessen wir Deutschen uns nicht erwehren können, wenn wir ihn hören oder aussprechen. Weit gefehlt! Jene poesievolle Gestalt würde ihn anmuthen, wenn sie als Marguerite ihm entgegenträte. „Marguérite, c’est charmant; Gretchen, c’est affreux.“ Ja, dieser einfältige Name genügte schon, „die blonde Geliebte Faustens in seinen Augen des poetischen Reizes zu entkleiden.“ Armer Goethe!

Nein, es ist ein Würzburger Gretchen, eine ziemlich aufdringliche Kellnerin, die ihm durch Liebeständeleien einige Stunden verkürzt, und die er dann schnell verlassen, als sie zu zudringlich geworden – wenn es nämlich wahr ist – deren Namen er zur näheren Bezeichnung Deutschlands braucht. Die Absicht liegt klar zu Tage, lassen wir ihm sein Vergnügen. Als wir das Buch mit seinen Entstellungen, Flüchtigkeiten und den vielfachen Ausbrüchen des Aergers durchgelesen hatten, da war uns so wohl zu Muthe, und wir waren von Herzen erfreut. Es fiel uns nämlich eine kleine Anekdote ein, die man dem verstorbenen Amschel von Rothschild nacherzählt. Von einem Bittsteller, der sich nicht gut genug berücksichtigt glaubte, erhielt der alte Herr einmal einen Brief voller Schmähungen und Verwünschungen. Ruhig las er das Schriftstück zu Ende, lachte und sprach: „Was muß der Mann sich geärgert haben!“

A. Sulzbach.