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Neu-Hengstett,
Gemeinde III. Kl., Dorf mit 482 Einw., wor. 10 Kath. – Ev. Pfarrei; die Kath. sind nach Weil der Stadt, O.A. Leonberg, eingepfarrt.


Auf der Hochfläche zwischen dem Nagold- und Würmthal liegt in einem weiten, flachen Wiesengrunde frei und gegen Norden durch einen Ausläufer des sogen. Hundrückens geschützt, der ganz regelmäßig gebaute Ort, von der südwestlich gelegenen Oberamtsstadt 1 Stunde entfernt. Die meist kleinen Wohnungen stehen in gleichen Entfernungen von einander, was nicht allein zur Freundlichkeit des Orts beiträgt, sondern auch für den Fall der Feuersgefahr sehr zweckmäßig erscheint; an jedem Haus befindet sich ein Hofraum und ein kleiner Obstgarten. Übrigens verräth doch das Dorf im Allgemeinen die Unvermöglichkeit der Einwohner, die sich hauptsächlich von Strumpfweben in die Fabriken nach Calw, Taglohnarbeiten daselbst, | etwas Feldbau und Viehzucht ihr Auskommen zu sichern suchen. Eine besondere Erwerbsquelle bildet auch das Einsammeln von Waldsamen, namentlich Fichtensamen, mit dem sich in günstigen Samenjahren beinahe sämmtliche Einwohner beschäftigen und eine erkleckliche Summe verdienen. Im Allgemeinen sind die Einwohner fleißig, rührig und sparsam. Zu Ende des 17. Jahrhunderts aus Piemont eingewandert (vgl. unten und Perouse in der Oberamtsbeschr. Leonberg), können sie sowohl in ihrem Äußern, wie in ihrem Benehmen ihre fremde Abkunft nicht verläugnen; ihre Gesichtsfarbe ist ziemlich bräunlicht, die Haare beinahe durchgängig schwarz, wie überhaupt ihr ganzes, gewandtes, aufgewecktes Wesen viel italienisches verräth. Beinahe in sämmtlichen Waldenser Familien wird ein französisches Patois gesprochen, obgleich seit einigen Jahrzehnten in Kirche, Schule, wie im öffentlichen Umgang die deutsche Sprache die übliche ist.

Die kleine, unansehnliche Kirche, auf deren vordern Giebelseite ein Thürmchen (Dachreiter) mit zwei Glocken, die eine 1843 gegossen, sich befindet, ist sowohl in ihrem Äußeren als Inneren gänzlich schmucklos; es fehlt sogar die Orgel und anstatt des Altars dient ein einfacher Tisch, der auch die Stelle des Taufsteins vertritt. Die Unterhaltung der Kirche hat die Gemeinde zu bestreiten.

Der ummauerte Begräbnißplatz liegt außerhalb (südlich) des Orts.

Das in der Nähe der Kirche stehende Pfarrhaus befindet sich in gutem baulichen Zustande.

Das Schulhaus, in welchem sich ein Lehrzimmer, die Wohnung des Schulmeisters und die Gelasse für den Gemeinderath befinden, steht ebenfalls nahe der Kirche.

Neben der Volksschule ist eine Industrieschule, deren Lehrerin von der Centralstelle des Wohlthätigkeitsvereins belohnt wird, vorhanden.

Ein laufender und 3 Pumpbrunnen liefern das ganze Jahr hindurch ein sehr gutes Trinkwasser. Eine Wette ist im Ort angelegt.

Die nicht große Markung hat im Allgemeinen einen ziemlich unfruchtbaren, schweren, kalten Thonboden, der aus der Verwitterung des Wellenmergels besteht. Auch die klimatischen Verhältnisse sind wegen der nahen Waldungen ziemlich ungünstig, so daß die Ernte um 8 Tage später eintritt als in dem nur 1/2 Stunde entfernten Ort Alt-Hengstett. Hagelschlag kam seit Menschengedenken nur einmal, im Jahr 1832, vor.

Die Landwirthschaft wird so gut als es die natürlichen Verhältnisse erlauben, betrieben; man baut in dreizelglicher Wirthschaft hauptsächlich | Dinkel, Einkorn, Hafer und in der zu 1/6 angeblümten Brache dreiblättrigen Klee und Kartoffeln. Bei gleicher Aussaat ertragen die Felder wenigstens 1/3 weniger als in Alt-Hengstett. Die Preise eines Morgens Acker bewegen sich von 25–300 fl. Von den Getreideerzeugnissen wird nur Hafer verkauft, während die übrigen nicht einmal das örtliche Bedürfniß befriedigen.

Der Wiesenbau ist verhältnißmäßig ziemlich ausgedehnt und liefert gutes, nahrhaftes Futter; die Wiesen, denen keine Wässerung zukommt, ertragen per Morgen 30–40 Centner Futter und ihre Preise steigern sich von 250–300 fl.

Die Obstzucht, welche sich vorzugsweise mit Zwetschgen und späten Mostsorten beschäftigt, ist ziemlich gut und erlaubt in günstigen Jahren einigen Verkauf nach Außen.

Der in einer gewöhnlichen Landrace bestehende Rindviehstand beschränkt sich auf 1–3 Stücke, welche beinahe jede Familie hält, um ihr nöthiges Milch- und Schmalzbedürfniß zu erzielen. Zur Nachzucht sind zwei Landfarren aufgestellt, die ein Bürger Namens der Gemeinde gegen Entschädigung hält.

Auf der Weide läßt ein Pachtschäfer 120 Stück Schafe laufen, was der Gemeinde sammt dem Pfercherlös 60–80 fl. einträgt.

Die Gewerbe beschränken sich auf die allernothwendigsten Handwerker; eine Schildwirthschaft und ein Krämer sind vorhanden.

Vicinalstraßen führen nach Simmozheim, Ottenbronn und auf die nur 1/8 Stunde östlich am Ort vorbeiführende Calwer Landstraße.

Die Gemeinde hat außer den Einnahmen aus Weide, Pferch etc. einiges Kapital, muß aber dennoch Gemeindeschaden umlegen (über den Gemeinde- und Stiftungshaushalt s. Tab. III.).

Im Ort wird noch eine Straße in den Baraken benannt und außerhalb des Dorfs in der Richtung gegen Möttlingen kommt ein Flurnamen „Zeltenäcker“ vor, was auf die erste Wohnweise der Einwohner hindeutet.

Neuhengstett wurde 1699 durch die damals in Württemberg aufgenommenen Waldenser gegründet; seinen Namen erhielt es um 1711; bis dahin hieß es die Colonie bei Simmozheim, auch Bourset (vielleicht nach Bourget, einem Städtchen bei Chambery in Savoien). Zur Zeit seiner Gründung hatte es 200 Einwohner.

Der letzte reformirte Pfarrer wurde im Jahr 1827 pensionirt, nachdem schon 1823 die Vereinigung der Reformirten mit den Lutheranern erfolgt war. Von 1827–1837 wurde die Pfarrei durch einen Verweser besorgt; im J. 1837 ist sie durch einen Pfarrer definitiv | besetzt worden. (Vor 1823 waren die wenigen hier ansäßigen Lutheraner nach Alt-Hengstätt eingepfarrt.)

In der östlich vom Ort gelegenen Zelg „Schleichdorn“ (alt Sledorn, s. Alt-Hengstett) findet man auf den Feldern sehr alte Spuren eines abgegangenen Wohnorts und in der Nähe dieser Stelle einen alt gefaßten, mit Steinplatten bedeckten Brunnen, der schon vorhanden war, ehe die Waldenser sich hier ansiedelten.

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