Benutzer:CK85/Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft Teil B

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User:CK85
Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft Kapitel 2 »
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B. Zur Theorie.

     Was ist nun aber, genau gesprochen, die Faraday-Maxwell’sche Theorie? Maxwell hat als Arbeit seiner reiferen Jahre uns ein grösseres Werk über die Elektricität und den Magne|[022]tismus hinterlassen; man darf also wohl sagen, die Maxwell’sche Theorie sei diejenige Theorie, welche in diesem Werke niedergelegt ist. Aber denjenigen Fachgenossen, welche diesen Fragen näher getreten sind, wird nicht allen mit dieser Antwort Genüge geschehen sein. Mancher hat sich mit Eifer an das Studium des Maxwell’sche Werkes gemacht und, ohne auf ungewöhnliche mathematische Schwierigkeiten gestossen zu sein, dennoch darauf verzichten gemusst, sich eine völlig widerspruchsfreie Vorstellung von Maxwells Ansichten zu bilden. Mir selbst ist es nicht besser gegangen. Bei der grössten Bewunderung für die mathematischen Beziehungen der Maxwell’schen Theorie war ich doch hinsichtlich der physikalischen Bedeutung seiner Behauptungen nicht immer vollständig sicher, Maxwells wahre Meinung errathen zu haben. In meinen Versuchen konnte ich mich daher auch nicht direkt durch das Maxwell’sche Buch leiten lassen, ich liess mich hier leiten durch die Arbeiten von Helmholtz, wie es ja auch aus der Darstellung der Versuche deutlich hervorgeht. Für den besonderen Grenzfall der Helmholtz’schen Theorie, welcher auf die Maxwell’schen Gleichungen führt, und auf welchen die Versuche hinleiteten, verflüchtigt sich nun aber leider die physikalische Grundlage der Helmholtz’schen Theorie, wie sich dieselbe allgemein verflüchtigt, wenn man von Fernkräften absehen will. Ich versuchte deshalb mir die unentbehrlichen physikalischen Vorstellungen widerspruchsfrei selbst zu construiren, indem ich von den Maxwell’sche Gleichungen ausging, im Uebrigen aber die Maxwell’sche Theorie so viel wie möglich vereinfachte durch Elimination oder einfache Fortlassung aller derjenigen Elemente, welche ich nicht verstand und welche entbehrlich waren, da sie auf keine möglichen Erscheinungen einen Einfluss üben konnten. So entstanden die beiden theoretischen Arbeiten, welche den Schluss dieser Sammlung bilden. Die Darstellung der Theorie in Maxwells eigenem Werk, die Darstellung als Grenzfall der Helmholtz’schen Theorie und die Darstellung in den vorliegenden Abhandlungen sind also wesentlich verschiedene Formen für einen wesentlich gleichen gemeinsamen Inhalt. Dieser gemeinsame Inhalt der verschiedenen Formen, für welchen gewiss noch viele andere Formen gefunden werden können, erscheint mir als der unsterbliche Theil der Maxwell’schen Arbeit, diesem |[023]Inhalt und nicht den besonderen Vorstellungen oder Methoden Maxwells möchte ich den Namen „Maxwell’sche Theorie“ vorbehalten wissen. Auf die Frage „Was ist die Maxwell’sche Theorie?“ wüsste ich also keine kürzere und bestimmtere Antwort als diese: Die Maxwell’sche Theorie ist das System der Maxwell’schen Gleichungen. Jede Theorie, welche auf diese Gleichungen führt, und damit dieselben möglichen Erscheinungen umfasst, würde ich als eine Form oder ein Specialfall der Maxwell’schen Theorie bezeichnen; jede Theorie, welche auf andere Gleichungen und damit auf andere mögliche Erscheinungen führt, ist eine andere Theorie. In diesem Sinne also und nur in diesem Sinne bilden die beiden theoretischen Abhandlungen dieser Sammlung eine Darstellung der Maxwell’schen Theorie. Keineswegs können sie den Anspruch erheben, genau Maxwells Gedanken wiederzu geben. Es ist im Gegentheil zweifelhaft, ob Maxwell, falls er lebte, die vorgetragene Darstellung als die seine anerkennen würde.

     Darin, dass derselbe Inhalt in verschiedenen Fassungen vorgetragen wird, liegt ein bedeutendes Erschwerniss für das Verständniss jeder einzelnen Fassung. Dieselbe Bezeichnung bedeutet in den verschiedenen Formen verwandte und doch verschiedene Begriffe oder Vorstellungen. Die erste Bedingung für das Verständniss ist also, dass man jede Darstellung für sich zu verstehen suche und nicht in sie die Vorstellungen einer andern Darstellung hineintrage. Vielleicht erweise ich manchen Fachgenossen einen Dienst, wenn ich hier kurz die Grundvorstellungen der drei Darstellungen der Maxwell’schen Theorie erläutere, welche ich oben erwähnte. Ich habe dabei Gelegenheit anzugeben, worin nach meinem Urtheil die besondere Schwierigkeit von Maxwell’s eigener Darstellung liege. Die oft gehörte Ansicht, dass diese Schwierigkeit mathematischer Natur sei, kann ich nicht theilen.

     Wenn wir die Körper aus der Ferne auf einander wirken sehen, so können wir uns von der Natur dieser Wirkung verschiedene Vorstellungen machen. Wir können die Einwirkung als eine unmittelbare, den Raum überspringende Fernkraft betrachten oder wir können sie als die Folge einer Wirkung ansehen, welche in einem hypothetischen Medium von Punkt zu |[024]Punkt sich fortpflanzt. In den Anwendungen dieser Vorstellungen auf die Elektricität können wir indessen noch eine Reihe feinerer Unterschiede machen. Gehen wir von der reinen Vorstellung der unmittelbaren zu der reinen Vorstellung der vermittelten Fernwirkung über, so können wir etwa vier Standpunkte unterscheiden.

     Auf dem ersten Standpunkte betrachten wir die Anziehung zweier Körper als eine Art geistiger Hinneigung beider zu einander. Die Kraft, welche jeder von beiden ausübt, ist geknüpft an das Vorhandensein des andern Körpers. Damit überhaupt eine Kraft vorhanden sei, müssen mindestens zwei Körper vorhanden sein. Ein Magnet erhält gewissermassen seine Kraft erst dann, wenn ein anderer Magnet in seine Nähe gebracht wird. Diese Vorstellung ist die reine Vorstellung der Fernkraft, die Vorstellung des Coulombschen Gesetzes. Sie ist in der Lehre von der Elektricität fast verlassen, sie wird wohl noch benutzt in der Lehre von der Gravitation. Der berechnende Astronom spricht von der Anziehung zwischen der Sonne und einem Planeten, aber die Anziehung im leeren Raum beschäftigt ihn nicht.

     Auf dem zweiten Standpunkt sehen wir die Anziehungen der Körper immer noch an als eine Art geistiger Einwirkung derselben auf einander. Aber obwohl wir zugeben, dass wir diese Fernwirkung nur dann bemerken können, wenn wir mindestens zwei Körper haben, so nehmen wir doch an, dass auch der einzelne der wirkenden Körper beständig das Bestreben habe, in jedem Punkte seiner Umgebung Anziehungen hervorzubringen von bestimmter Grösse und Richtung, auch dann, wenn sich keine andern ihm verwandten Körper in der Nähe finden. Mit den stetig von Punkt zu Punkt sich ändernden Bestrebungen dieser Art füllen wir in unserer Vorstellung den Raum. Gleichwohl nehmen wir nicht am Ort der Wirksamkeit irgend eine Veränderung des Raumes an, um deren willen wir diesen Ort als den Sitz der Kraft bezeichnen könnten, sondern zugleich Sitz und Ursprung der Kraft bleibt der wirkende Körper. Dieser Standpunkt ist etwa der Standpunkt der Potentialtheorie. Er ist selbstverständlich auch der Standpunkt gewisser Capitel in Maxwell’s Werk, obwohl nicht der Standpunkt der Maxwell’schen Theorie. Um die Vorstellungen in sinnlicher Darstellung mit einander vergleichen zu können, sind in Fig. 2 zwei ent|[025]gegengesetzt elektrisirte Condensatorplatten von diesem Standpunkt aus in leicht verständlicher Symbolik dargestellt. Man
Fig. 2.
sieht in den Platten die materiell gedachte positive und negative Elektricität, zwischen den Platten die durch Pfeile dargestellte Kraft. Ob der Raum zwischen den Platten erfüllt oder leer ist, ist von diesem Standpunkt aus gleichgültig. Geben wir also den Lichtäther zu, denken ihn uns aber aus einem Theil B des Raumes entfernt, so wird gleichwohl in diesem Raum die Kraft unverändert sein.

     Der dritte Standpunkt behält die Vorstellungen des zweiten bei, fügt ihnen aber eine Complication hinzu. Er nimmt an, dass die unvermittelten Fernkräfte die Wirkung der getrennten Körper nicht allein bestimmen. Vielmehr nimmt er an, dass die Kräfte in dem überall erfüllt gedachten Raum Veränderungen hervorrufen, welche ihrerseits Anlass zu neuen Fernkräften geben. Die Anziehungen der getrennten Körper beruhen dann zum Theil auf der unmittelbaren Fernwirkung derselben, zum Theil auf dem Einfluss des veränderten Mediums. Die Veränderung des Mediums selbst wird gedacht als eine elektrische, bez. magnetische Polarisation seiner kleinsten Theile unter dem Einfluss der wirkenden Kraft. Im Hinblick auf statische Erscheinungen ist dieser Standpunkt von Poisson für den Magnetismus entwickelt, von Mosotti auf die elektrischen Erscheinungen übertragen worden; in allgemeinster Entwickelung und in Ausdehnung auf das ganze Gebiet des Elektromagnetismus findet er sich vertreten in der Theorie von Helmholtz.[1]

     Fig. 3 versinnlicht diesen Standpunkt für den Fall, dass sich das Medium nur in geringem Maasse an der Gesammt |[026]wirkung betheiligt. Man sieht in den Platten die freien Elektricitäten, ebenso die in den Theilen des Dielektricums getrennten,
Fig. 3.
aber nicht ableitbaren elektrischen Fluida. Denken wir uns, der Raum zwischen den Platten enthalte nur den Lichtäther und machen wir in denselben eine Höhlung von der Gestalt B, so werden in dieser Höhlung die Kräfte erhalten bleiben, die Polarisationen aber fortfallen.

     Ein Grenzfall dieser Vorstellungsweise ist von besonderer Wichtigkeit. Wie die nähere Ueberlegung zeigt, können wir die allein beobachtbare Gesammtwirkung der greifbaren Körper auf einander in verschiedener Weise vertheilen auf den Einfluss der unmittelbaren Fernkräfte und auf den Einfluss des zwischenliegenden Mediums. Wir können den Theil der Gesammtenergie, welcher seinen Sitz in den elektrisirten Körpern hat, vergrössern auf Kosten des Theiles, welchen wir in dem Medium suchen, und umgekehrt. Im Grenzfall nun suchen wir die gesammte Energie im Medium. Da den Elektricitäten, welche sich in den Leitern finden, keine Energie entsprechen soll, so müssen die Fernkräfte verschwindend klein werden. Dafür ist wieder nothwendige Bedingung, dass nirgends freie Elektricität auftrete. Die Elektricität muss sich also bewegen wie eine incompressibele Flüssigkeit. Daher haben wir nur geschlossene Ströme, daher die Möglichkeit, die Theorie auf alle Arten der elektrischen Bewegung zu erweitern trotz unserer Unkenntniss der Gesetze der ungeschlossenen Ströme.

     Die mathematische Behandlung dieses Grenzfalles führt uns auf die Gleichungen Maxwell’s. Wir bezeichnen also diese Behandlung als eine Form der Maxwell’schen Theorie. So wird auch dieser Grenzfall bei v. Helmholtz bezeichnet. Keineswegs aber soll damit gesagt sein, dass die zu Grunde liegenden Vorstellungen die Vorstellungen Maxwell’s seien.

     Figur 4 symbolisirt uns die Vorstellungen dieser Theorie von dem Zustand des Raumes zwischen den zwei elektrisirten |[027]Platten. Die Fernkräfte sind zu Schemen herabgesunken. Die Elektricität in den Leitern ist noch vorhanden und sie ist auch
Fig. 4.
unentbehrlich für die Vorstellung, aber sie wird in ihren Fernwirkungen vollständig neutralisirt durch die gegen sie hin verschobene entgegengesetzte Elektricität des Mediums. Der Druck, welchen dieses Medium infolge der Anziehung seiner inneren Elektricitäten ausübt, zieht die Platten gegen einander. In dem Hohlraum B finden sich nur die verschwindend kleinen Fernkräfte vor.

     Der vierte Standpunkt gehört der reinen Vorstellung von der vermittelten Wirkung. Wir geben auf diesem Standpunkte zu, dass die vom dritten Standpunkte aus angenommenen Veränderungen des Raumes thatsächlich vorhanden sind, und dass dieselben die Vermittler des Einflusses sind, welchen die greifbaren Körper auf einander ausüben. Aber wir läugnen, dass diese Polarisationen die Folge von Fernkräften sind, wir läugnen das Vorhandensein dieser Fernkräfte überhaupt; wir beseitigen die Elektricitäten, von welchen diese Fernkräfte ausgehen sollten. Vielmehr betrachten wir jetzt jene Polarisationen als das einzig wirklich vorhandene; sie sind zugleich die Ursache der Bewegungen der ponderabelen Körper und der übrigen Erscheinungen, welche uns diese Körper als verändert erblicken lassen. Die Erklärung des Wesens der Polarisationen, ihres Zusammenhangs und ihrer Wirkungen vertagen wir oder suchen sie in mechanischen Hypothesen; wir weigern uns aber, in den bisher benutzten Elektricitäten und Fernkräften eine befriedigende Erklärung dieses Zusammenhangs und dieser Wirkungen zu sehen. Die Ausdrücke Elektricität, Magnetismus, u. s. w., behalten für uns nur den Werth von Abkürzungen.

     In mathematischer Hinsicht können wir die Behandlung dieses vierten Standpunktes vollständig zusammenfallen lassen mit dem Grenzfall des dritten Standpunktes. Aber physikalisch betrachtet bleibt er gleichwohl vollständig von demselben verschieden. Es ist unmöglich, zugleich die Fernkräfte zu läugnen |[028]und sie als Ursachen der Polarisationen anzusehen. Was wir von diesem Standpunkte aus irgend als „Elektricität“ bezeichnen können, bewegt sich nicht wie eine incompressibele Flüssigkeit. Ein anderer Unterschied springt in die Augen, wenn wir die Figur 5 betrachten, welche uns die Vorstellung dieses Standpunkts symbolisch vorführt. Die Polarisation des Raumes ist mit Hülfe desselben Symboles dargestellt, dessen wir uns auf dem dritten Standpunkt bedienten. Aber während in Figur 3 und 4
Fig. 5.
diese Darstellung das Wesen der Polarisation erläuterte durch das als bekannt vorausgesetzte Wesen der Elektricität, soll hier durch die Darstellung das Wesen der elektrischen Belegung definirt werden durch den als bekannt angesehenen Polarisationszustand des Raumes. Jedes Theilchen des Dielektricums erscheint hier in entgegengesetzter Weise mit Elektricität belegt, wie in den Vorstellungen des dritten Standpunktes. Entfernen wir in der Vorstellung aus dem Raume B wiederum den Aether, so bleibt in diesem Raume schlechterdings nichts zurück, was uns an die elektrische Erregung der Umgebung erinnern könnte.

     Dieser vierte Standpunkt ist nun, wie ich denke, der Standpunkt Maxwell’s. Die allgemeinen Auseinandersetzungen seines Werkes lassen keinen Zweifel, dass er die Fernkräfte vollständig beseitigen wollte. Maxwell sagt ausdrücklich, dass, wenn in einem Dielektricum die Kraft, also das „displacement“ nach der rechten Seite gerichtet ist, man sich alsdann jedes Theilchen des Dielektricums vorzustellen habe als belegt mit negativer Elektricität auf der rechten Seite, mit positiver Elektricität auf der linken Seite. Aber es ist nicht zu läugnen, dass für den ersten Blick andere Aussagen Maxwell’s mit den Vorstellungen dieses Standpunktes im Widerspruch zu stehen scheinen. Maxwell nimmt auch in den Leitern Elektricität an, diese Elektricität bewegt sich stets so, dass sie mit den Verschiebungen im Dielektricum zusammen geschlossene Ströme bildet. Die Behauptung, dass sich die Elektricität bewege wie eine incom|[029]pressibele Flüssigkeit, ist ein Lieblingssatz Maxwell’s. Diese Aussagen aber passen nicht in die Vorstellungen des vierten Standpunktes, sie lassen vermuthen, dass es vielmehr der dritte Standpunkt gewesen sei, dessen Anschauungen Maxwell vor Augen standen. Ich glaube, dass dies letztere niemals der Fall war, dass die Widersprüche scheinbar sind und auf einem Missverständniss beruhen. Irre ich nicht, so ist der Zusammenhang der folgende: Maxwell hat ursprünglich seine Theorie entwickelt an der Hand sehr bestimmter und specieller Vorstellungen über das Wesen der elektrischen Erscheinungen. Er nahm an, dass die Poren des Aethers und aller Körper erfüllt seien mit einer zarten Flüssigkeit, welche aber keine Fernkräfte ausübte. In den Leitern sollte sich diese Flüssigkeit frei bewegen und diese Bewegung sollte das bilden, was wir einen elektrischen Strom nennen. In den Isolatoren sollte diese Flüssigkeit durch elastische Kräfte an ihren Ort gefesselt sein und die Verschiebung, das „displacement“ derselben wurde betrachtet als das Wesen der elektrischen Polarisation. Die Flüssigkeit selbst nannte Maxwell als die Ursache aller elektrischen Erscheinungen „Elektricität“. Als Maxwell nun sein grosses Werk abfasste, sagten ihm offenbar die gehäuften Hypothesen jener ersten Vorstellung nicht mehr zu oder er fand Widersprüche in denselben und so liess er sie fort. Aber er eliminirte sie doch nicht so vollständig, dass nicht eine ganze Reihe von Bezeichnungen, die aus jener Vorstellung stammen, zurückgeblieben wären. Und so hat leider das Wort „Elektricität“ in Maxwell’s Werk offenbar einen Doppelsinn. Einmal bezeichnet es dasjenige, was auch wir so bezeichnen, eine Grösse, welche positiv und negativ sein kann, und welche den Ausgangspunkt mindestens scheinbarer Fernkräfte bildet. Zweitens bezeichnet es jenes hypothetische Fluidum, von welchem keine, auch keine scheinbaren Fernkräfte ausgehen, und dessen Menge in einem Raum unter allen Umständen nur eine positive Grösse sein kann. Liest man die Ausführungen Maxwell’s, indem man beständig den Sinn des Wortes „Elektricität“ in geeigneter Weise interpretirt, so lassen sich die zuerst überraschenden Widersprüche fast immer zum Verschwinden bringen. Ich muss indess bekennen, dass mir dies in Vollständigkeit und zu meiner vollkommenen Befriedigung doch nicht hat gelingen |[030]wollen; ich würde sonst bestimmter und nicht so zweifelnd reden.[2]

     Wie dem auch sei, jedenfalls ist in den beiden theoretischen Abhandlungen dieser Sammlung der Versuch gemacht, die Maxwell’sche Theorie, d. h. das Maxwell’sche Gleichungssystem von diesem vierten Standpunkt aus darzustellen. Ich habe mich bemüht, den Standpunkt rein zu wahren, also Vorstellungen, welche ihm fremd sind, überhaupt nicht erst in die Betrachtung einzuführen.[3] Ich habe mich ferner bemüht, in der Darstellung die Zahl derjenigen Vorstellungen möglichst zu beschränken, welche von uns in die Erscheinungen willkürlich hineingetragen werden und nur solche Elemente zuzulassen, welche nicht entfernt oder abgeändert werden können, ohne zugleich mögliche Erfahrungen abzuändern. Es ist wahr, dass durch dies Bestreben die Theorie einen sehr abstracten und farblosen Anblick erhält. Es befriedigt wenig, nur allgemein von „gerichteten Zustandsänderungen“ da reden zu hören, wo man gewohnt war, das sinnliche Bild der mit Elektricitäten belegten Atome vor Augen zu haben. Es befriedigt wenig, Gleichungen als allgemeine Ergebnisse der Erfahrung hingestellt zu sehen, für welche man gewohnt war, durch längere mathematische Ableitungen einen scheinbaren Beweis zu erhalten. Ich glaube indessen, dass man ohne Selbsttäuschung aus der Erfahrung nicht viel mehr entnehmen kann, als in jenen Abhandlungen ausgesagt ist. Wünscht man der Theorie mehr Farbe zu verleihen, so ist nichts im Wege, dass man noch nachträglich der Einbildungs|[031]kraft zu Hilfe komme durch concrete sinnliche Vorstellungen von dem Wesen der elektrischen Polarisation, des elektrischen Stromes u. s. w. Aber die Strenge der Wissenschaft erfordert doch, dass wir dies bunte Gewand, welches wir der Theorie überwerfen, und dessen Schnitt und Farbe vollständig in unserer Gewalt liegt, wohl unterscheiden von der einfachen und schlichten Gestalt selbst, welche die Natur uns entgegenführt und an deren Formen wir aus unserer Willkür nichts zu ändern vermögen.

     Was ich im Einzelnen zu den Abhandlungen noch bemerken möchte, werde ich am Schlusse des Buches in der Gestalt nachträglicher Anmerkungen hinzufügen.



  1. Am Schluss der Abhandlung „Ueber die Bewegungsgleichungen der Elektricität für ruhende leitende Körper.“ Ges. Abh. I. p. 545.
  2. Aehnlich urtheilt Herr Poincaré in seinem Werke „Electricité et optique“, Vol. I. Les Théories de Maxwell. Herr L. Boltzmann in seinen „Vorlesungen über Maxwell’s Theorie“ scheint, wie ich selbst, mehr eine widerspruchsfreie Ableitung des Maxwell’schen Systems zu beabsichtigen, als eine genaue Wiedergabe von Maxwell’s eigenen Gedanken. Da das Werk noch unvollendet, ist ein sicheres Urtheil noch nicht möglich.
  3. Der Ausdruck „elektrische Kraft“ in diesen Abhandlungen ist nur ein Name für einen Polarisationszustand des Raumes. Um Missverständnissen vorzubeugen, hätte ich vielleicht besser gethan, ihn durch ein anderes Wort zu ersetzen, etwa das Wort „elektrische Feldintensität“, wie es Herr E. Cohn vorschlägt in seiner gleiche Ziele verfolgenden Abhandlung: Zur Systematik der Elektricitätslehre, Wiedem. Ann. 40. p. 625. 1890.