Textdaten
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Autor: C. L.
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Titel: Belladonna?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12–15, S. 199–204, 214–218, 236–239, 252–255
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[199]
Belladonna?
Aus den Papieren eines Arztes.


Ich besitze eine Eigenschaft, die unmodern geworden ist: ich bin dankbar. Als vor zwei Jahren ein Telegramm vom Oberst von Waldow[1] mich an das Krankenbett seines Schwiegersohnes berief, zögerte ich keinen Augenblick, dem Gebote desselben zu folgen, so Wichtiges mich auch sonst zurückhielt. Ein paar Thaler mehr oder minder konnten bei mir keine Rolle spielen, wohl aber war die Reise in die ferne Festungsstadt ein Zeitopfer, das ich nur dankbarer Erinnerung zu bringen vermochte.

Verwandtschaft, noch dazu im fünften oder sechsten Gliede, pflegt heutzutage keinen Anspruch auf Beachtung zu geben. Der Oberst, oder damals vielmehr Major von Waldow, der liebenswürdige, hochgebildete Mann, öffnete dem jungen unbedeutenden Mediciner als Verwandtem sein Haus, nachdem dieser sich in der Provinzialstadt als angehender Arzt niedergelassen.

Meine Cousine in dritter Linie war einst eine gefeierte Schönheit, die Tochter eines der scheinbar reichsten Banquiers der Residenz, gewesen. Für den jungen Hauptmann von Waldow betrachtete man es damals als eine besondere Auszeichnung, daß die umhuldigte, glänzende Weltdame die Werbungen des unbedeutenden jungen Officiers begünstigte und, gegen den Wunsch der Ihren, sein Weib ward. Kaum waren sie vereinigt, als all der Schein und Glanz in Trümmer brach. Frau von Waldow’s Vater stellte plötzlich seine Zahlungen ein, und das junge Paar war allein auf die eigenen bescheidenen Einkünfte zur Bestreitung ihres glänzend begonnenen Haushaltes angewiesen. Meine Großcousine soll sich schwer in dieser veränderten Lebenslage zurecht gefunden haben. Ihr Gemahl war ein edler, hochherziger Charakter, der sie, die unschuldige Ursache bitterer Enttäuschung, nie dieselbe entgelten ließ, und seine übergroße Delicatesse mag wohl die Ursache gewesen sein, daß von der stolzen, selbstwilligen Frau die Zügel mehr und mehr seinen Händen entwunden wurden und ihre Lebensweise bedrohlich den knappen Etat überschritt. Er selbst war sparsam, anspruchslos und arbeitsam. Daß es jedoch über kurz oder lang zu einem Wendepunkte in seinem Leben kommen mußte, sahen seine besten Freunde mit mitleidigem Achselzucken.

Zu jener Zeit, als von Waldow am Rande des Abgrundes stand, wurde ich als Assistent zu unserm berühmten Professor N. gerufen, dessen Lehrstuhl ich jetzt einnehme.

Der beklagenswerthe Mann sollte nicht vergebens an meine Freundschaft appellirt haben. Ich reiste also ab.

[200] Waldow empfing mich auf der Eisenbahn in G. Sein Händedruck war herzlich und freundschaftlich warm wie ehedem. Der Mann hielt sich aufrecht, als habe er die Last der Sorgen abgeschüttelt; er sah stattlich und vornehm aus, aber die verheerende Spur der durchkämpften Jahre zeigte sich in dem frühergrauten Kopf- und Barthaar, welches das edle, geistig belebte Antlitz älter erscheinen ließ, als es den Jahren nach sein durfte.

Tiefer Ernst und eine gewisse Beklommenheit fielen mir an ihm auf, als er mich an die elegante Equipage geleitete, dem Diener meinen Gepäckschein übergab und zu mir in das bequeme Coupé stieg. Jene ruhige Beherrschung und vornehme Sicherheit, die uns gewöhnlich nur mit dem Reichthum kommt, war ihm jetzt in Fleisch und Blut übergegangen, den ich in der Erinnerung noch immer als den verschüchterten, ängstlichen Menschen vor Augen hatte, den jedes Schellen an der Hausglocke schreckhaft emporfahren ließ. Seine Vermögensverhältnisse mußten sich sehr verändert haben. Ich durfte mir schon die kleine Vertraulichkeit erlauben, lächelnd ihm darüber eine halb scherzhafte Bemerkung zu machen.

„Ich sehe, mein lieber Professor,“ meinte er freundlich, während der Diener meinen Koffer auf den Bock schob und sich zu dem alten, würdig aussehenden Kutscher behende hinaufschwang, „Ihr Ruf ist zwar in unsere Verbannung gedrungen, aber zu der vielbeschäftigten, vielberühmten Koryphäe ist nicht Kunde von dem großen Ereigniß gelangt, das ein paar Jahre hindurch schon unsere Provincialklatschbasen alarmirte. Der exotische Goldonkel, von dem die Mehrzahl der Menschen träumt und der die Bedrängten so selten erlöst, ist wie ein deus ex machina in mein sorgenschweres Leben getreten. Ein überseeischer war’s freilich nicht,“ bemerkte er lächelnd, „sondern ein fürchterlich gewöhnlicher kleiner Emporkömmling aus dem Quartier Latin in Paris, wohin sein Glücksstern ihn vor einigen fünfzig Jahren als Kleiderhändler, Geldleiher, was weiß ich noch, verschlagen.

Vor ein paar Jahren kommt der kleine Mann von traditioneller Familienliebe nach Deutschland, um seine Verwandten einmal wieder aufzusuchen. Kein Mensch hatte sich um das Dasein des verschollenen Onkels meiner Frau bekümmert. Der Tod hatte ihm seine beiden Kinder geraubt, und er mußte für sein mühsam zusammengescharrtes kolossales Vermögen Erben suchen. Natürlich dachte er zuerst an seine nächsten Angehörigen. Da aber begegnete er fast nur noch Gräbern. Nun kam die zweite Generation an die Reihe. Dem schäbig gekleideten, alten, kleinen Manne mögen die eleganten Cousinen und Cousins meiner Frau wohl kein allzu freundliches Gesicht zum Willkommen gezeigt haben. In dem schüchternen, zusammengeschrumpften Greise, der ihnen mit einem Herzen voll sehnender, überströmender Liebe entgegenflog, haben sie am Ende gar einen Bittsteller erwartet und ihn durch vornehme Schroffheit sich fern halten wollen. Empört, erbittert, bis in die Seele erkältet, wollte er nun den letzten Versuch bei dem Kinde seiner jüngsten Schwester, meiner Frau, wagen, um sich, im Fall des Mißerfolges, beleidigt zurückzuziehen und sein Vermögen der Kirche zu vermachen.

Zum Glück war meine Frau gerade verreist. Sie hatte meine beiden ältesten Töchter mitgenommen. Sie wissen, mir gilt der Mensch, nicht sein Kleid. Der arme, vereinsamte, verletzte Greis mit seinem liebelechzenden Herzen, der von den Verwandten so verächtlich bei Seite geworfen worden war, dauerte mich, und ich nahm mich seiner herzlich an.

Er war schon ein paar Tage bei mir und meiner kleinen Blanche eingebürgert, als meine Frau und meine Töchter von ihrem Ausfluge zurückkehrten; ihre hochmüthige Kälte konnte daher sein Heimgefühl in meinem Hause nicht mehr beeinflussen.

Er schied von Blanche und mir in herzlicher Zuneigung, Thränen in den alten treuen Augen.

Und nun geben Sie Acht, Freund! Nun folgt der Lohn der unbewußten guten That, wie die märchenhafte Vergeltung in den moralischen Geschichten für artige Kinder.“

„Der alte Herr setzte Sie und Blanche zu Erben ein, nicht wahr?“ unterbrach ich den eifrigen Erzähler.

„Sie erinnern sich meiner kleinen Blanche noch, Professor?“

„Wie sollte ich nicht! Ich müßte sonst ein sehr ungetreuer Knappe sein. Wissen Sie nicht, Oberst, daß wir damals im Schulzimmer, als ich Ihren Söhnen E … Ed …“

„Egon und Alwin; sie stehen jetzt bei der Garde in P.,“ vervollständigte er mein tastendes Herumrathen.

„– den Cornelius Nepos einpauken half, ein Trutz- und Schutzbündniß für alle Zeiten abgeschlossen? Das kleine Dämchen stürzte mit ihrem Canarienvogel, dem der Bursche die Pfoten im Bauer halb abgequetscht hatte, außer sich zu uns herein, den kleinen Patienten in der Schürze. Die hartherzigen Jungen lachten über ihre strömenden Thränen, und ich nahm mich ihrer und des kleinen Invaliden an und heilte das kranke Bein mit Essigumschlägen und Heftpflastern. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Ich hatte mehreren leidenschaftlichen Liebeserklärungen zu widerstehen. Das kleine Fräulein wird ihre erste Liebe aber wohl längst vergessen haben.“

Der Oberst seufzte schwer auf, in einer Weise, die mein leichter Scherz in keiner Weise rechtfertigen konnte, und ich richtete daher die directe Frage nach dem Ergehen seiner Familie an ihn, und ob Blanche nicht der kleine leicht- und gutherzige Singvogel sei, dem ich den Beinamen Weihnachtslamm gegeben, weil es mit seinem weißblonden Krauskopf, dem vollen weißrosigen Körperchen, den großen unschuldsvollen Kinderaugen der coquetten Zierlichkeit der Bewegungen, mir immer den Eindruck eines flockigen schneeweißen Lammes gemacht, dem die Mama, um denselben zu vervollständigen, das lichtblaue Bändchen um den milchweißen Hals nie fehlen ließ.

„Ja, das ist Blanche und Ihr Vergleich ist in jeder Weise zutreffend. – Sie ist immer ein Lamm, sogar ein Opferlamm gewesen,“ sagte er mit schmerzlicher Ironie. „Meine anderen Töchter sind nach Wahl verheirathet, – reiche Mädchen haben ja immer passende Bewerber. Für meine arme Kleine kamen die anderthalb Millionen zu spät. Aber bei Gott, Doctor, trauen Sie mir nicht zu, dessen mich die Welt anschuldigt! Ich habe mein Kind nicht in diese Heirath hineingeredet, eine Verbindung, wie sie unpassender nicht gedacht werden kann. Erst später erfuhr ich, daß sie sich mir geopfert und daß ihre Mutter es gewesen, die sie zu dieser Handlung kindlicher Liebe veranlaßt.“

Er brütete ein paar Augenblicke düster vor sich hin. „Ich weiß nichts,“ bemerkte ich etwas verlegen, da er von Verhältnissen sprach, die sich meiner Beurtheilung entzogen.

„Ja so, lieber Freund, Sie können nicht wissen – meine jüngste Tochter ist an den damaligen General Fink von Falkenstein, jetzigen Festungscommandanten verheirathet.“

Unwillkürlich fuhr ich überrascht auf. „Blanche kann höchstens zwanzig Jahre alt sein,“ sagte ich, um meine Verwunderung durch etwas zu entschuldigen.

„Und der General war beinahe sechszig. O sans gêne, Herr Professor – ich habe mir tausend Mal selbst gesagt, was irgend Jemand tadelnd dagegen anführen kann. Damals begrüßte ich die Bewerbung des übrigens höchst achtungswerthen Herrn als eine Erlösung aus zwiefachen Conflicten. Ich möchte in Ihren Augen dasselbe Maß von Achtung wie ehedem genießen, und ich weiß, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen versichere: nie hätte ich um den Preis der Selbsterhaltung mein liebes Kind dem ungeliebten Greise hingegeben. Mein leichtsinniges Töchterchen aber hatte sich in ein zärtliches Verhältniß mit einem ganz fernen Verwandten, einem Secondelieutenant von Zukits, eingelassen. Daß die Leutchen warten mußten, bis er es zum Hauptmann gebracht, daß er mittellos war, hätte ihn in meinen Augen – wie Sie mich ja kennen, Professor, (obschon ich meinen Kindern eine sorgenlosere Existenz gönnte, als ich sie selber gehabt) – nicht herabgesetzt, aber daß er gewissenlos, verschwenderisch, ohne Grundsätze war, hatte ich mehrfach erfahren, und das stempelte ihn bei mir zu einem unmöglichen Bewerber für meine holde kleine Blanche. Einen Spieler, einen Schuldenmacher, einen Wüstling mochte ich nicht im Zusammenhang mit meinem reinen Kinde wissen, und ich verbot aus diesen Gründen allein jeden Verkehr.

Der Mensch war bildschön und von geistiger Veranlagung, einer jener notorischen Don Juans, denen kein Frauenherz, am allerwenigsten das eines unerfahrenen jungen Mädchens, lange widersteht.

Brauche ich Ihnen meine Freude zu schildern, als eines schönen Tages meine kleine Blanche, bleich, aufgelöst in Thränen, sich mir an die Brust wirft und zitternd hervorstammelt: daß sie dem General von Falkenstein eben ihr Jawort gegeben?!

[202] Ich hatte die Vorliebe des alten, bereits zweimal verheiratheten Herrn für Blanche für väterliches Wohlwollen gehalten, und seine Werbung überraschte mich daher sehr. Sie kam mir wie der Rettungshafen vor, in den ich mein armes umgarntes Vögelchen flüchten und bergen könnte, aber keinen Augenblick habe ich dabei an mich gedacht.

Zum Oberst war ich damals bereits designirt, aber die endgültige Ernennung hing von der Ordnung meiner Verhältnisse, sage ich offen: meiner aufgelaufenen Schulden ab, und General F.’s, meines Vorgesetzten, Meinung sollte dabei den Ausschlag geben. Mein künftiger Schwiegersohn war reich und freigebig, die Ordnung meiner Angelegenheit ihm eine Lappalie. Ich mußte es natürlich geduldig hinnehmen, daß man sich insgeheim zuraunte: ich habe mein Kind verkauft, und nie hätt’ ich’s bereut, wenn nicht –“ Er brach kurz ab, die Wolken auf seiner Stirn verdichteten sich.

„Meine arme Frau,“ sagte er nach einer Weile mit dem warmen Klange der ihm innewohnenden hochherzigen Gesinnung, „meine Frau hat wenig genug von den endlich eingekehrten guten Zeiten genießen können. Sie kränkelte schon seit Jahren. Des Onkels Reichthum hat ihr aber wenigstens den Tod erleichtern helfen. Ich schickte sie nach Monaco. Da ist sie sanft eingeschlafen, und ich stehe nun so gut wie allein.“

„Und Blanche?“ fragte ich.

„Blanche ist die tonangebende Persönlichkeit unserer Stadt. Noblesse oblige, mein Werthester, den Ruf einer Frau des Salons aufrecht zu erhalten im Kampfe mit den Frauen unseres reichen Adels muß ein zeitraubendes Geschäft sein. Die Kleine erfaßt ihre Mission mit einem Eifer, der einer bessern Sache werth wäre; da bleibt ihr wenig Muße für andere Interessen.“ Er hatte das ganz leichthin gesprochen, aber eine gewisse geringschätzige Ironie durchbrach doch seine scherzenden Worte.

Also das ist aus dem reizenden Kinde geworden, dachte ich bedauernd, als eben das Coupé, vor einem altersgrauen schloßartigen Gebäude angekommen, durch das niedrige Portal in den Burghof rollte. Man hätte es von dem leichtherzigen, oberflächlichen Dinge erwarten können. Geistige Bedeutung hatte sie nie ausgezeichnet, sie war aber eine so sonnig-heitere, frische, warmherzige Natur voll anschmiegender Sanftmuth gewesen, daß man ihr den Mangel glänzender Geistesgaben um ihrer strahlenden Heiterkeit und schönen Wärme halber gern nachsah. Ihr Leben mochte leer sein. Sie hatte da wahrscheinlich nach dem Mittel gegriffen, das leider so vielen Frauen der Lebenszweck zu sein scheint. Der eitle äußere Flitter mußte die innere Armuth bedecken helfen. Arme kleine Blanche, ich hätte dir ein besseres Loos gewünscht.

Die innere häusliche Einrichtung in ihrer vornehmen Gediegenheit war dem stilvollen Bau des burgartigen Schlosses angepaßt. Sage ich gleich, daß das Haus des Commandanten hoch auf einem bergigen Plateau lag und sich an der Rückseite des Castells, terrassenförmig abfallend, Lust- und Gemüsegärten anschlossen. Von der Küche aus gelangte man in den Nutzgarten, und von dem Speisesaale aus in die Blumenparterres, die gerade jetzt, Ende Juni, in wundervoller Flora standen.

„Hat sich in Excellenz Befinden etwas verändert?“ fragte mein Begleiter den alten, würdigen Diener in Kniehosen und weißer Halsbinde, den typischen Haushofmeister oder persönlichen Kammerdiener eines großen Hauses mit dem traditionellen, ehrwürdigen bartlosen Faltengesichte und den unhörbaren Tritten.

„Schlechter, Euer Gnaden!“ meinte er besorgt und traurig, während er das Kunststück fertig brachte, die breiten, ausgewölbten Stufen der Steintreppe vor uns hinaufzugleiten, ohne uns ein einziges Mal den Rücken zuzukehren.

„Wollen Sie sich erst restauriren, ehe Sie zu unserem Kranken gehen, lieber Professor?“

Ich sah dem gespannten Blicke des Obersten an, er wünsche, ich solle Nein sagen. Nur die gewohnte Höflichkeit hatte diese Phrase dictirt. Ich sagte natürlich, ich wünsche erst meinen Patienten zu sehen, obschon ich halb todt vor Müdigkeit war, und der Diener zog am linken Flügel der Bel-Etage die schweren Fallthüren auf und ließ uns durch die mit einer Hand zurückgehobene dunkelgrüne Portière in ein hohes, düsteres Gemach treten.

Es war ohne Zweifel das Arbeitszimmer des Commandanten. Zu einer Beurtheilung desselben kam ich in diesem Augenblicke nicht, denn meine ganze Aufmerksamkeit wurde durch eine Frauengestalt abgelenkt, die in nervöser Rastlosigkeit auf dem weichen Moosteppich auf- und abschritt, die rauschende Schleppe nach sich ziehend, und die in ihrer ruhelosen Bewegung erst dann einen Moment inne hielt, als wir dicht hinter ihr standen.

Sie heftete ein paar brennende, unruhige, übernächtige Augen auf uns, bei denen mir damals schon die ungewöhnlich erweiterte Pupille auffiel. Das etwas matte Auge des Kindes hatte dadurch jenen Glanz und jene Tiefe bei der Frau erlangt, welche die Damen der Halbwelt durch Pinsel und was weiß ich sonst künstlich zu erzeugen verstehen.

Die kleine muntere Blanche war eine schöne, elegante, üppige Frau geworden, eine Eva, wie der Maler sie sich als Type nur wünschen konnte, aber die Salondame comme il faut war sie heute nicht. Die Haut, die ihr den Beinamen des Lammes eingetragen, war noch ebenso milchweiß wie damals; ich sah es an dem schwanenzarten Hals, an dem der nachlässig geschlossene Schlafrock von persischer Seide aufgegangen war, an dem mit flüchtiger Hand aufgewundenen Haar, das, kaum um eine goldigere Nuance gedunkelt, in einzelnen welligen Strähnen ihr bis in die Taille hinabrollte, an dem ganzen abgespannten, blassen Gesicht, auf dem Schreck und Angst versteinert zu sein schienen.

Sie war auf mich zugestürzt und hatte heftig nach meinen beiden Händen gefaßt. „Sie retten ihn, nicht wahr, Sie retten ihn? Er darf nicht sterben. Mein Gott, ich ertrag’s nicht,“ brach es gleichsam in wilder Angst aus ihr hervor. Beherrschung hatte Blanche niemals in hohem Grade gekannt; diese Fassungslosigkeit bei des greisen Gatten Krankheit, diese gleichsam verzweifelte Furcht vor einem Ausgang, der in seinen Jahren nichts Erschreckendes haben konnte, rief aber doch das höchste Befremden bei mir hervor.

„Liebt sie ihn so sehr?“ raunte ich dem Vater zu, der ein verlegener Zeuge dieses heftigen Ausbruchs gewesen war, da sie uns nun stillschweigend voraufschritt und leise die Thür des Krankenzimmers öffnete.

Der Oberst zuckte die Achseln.

„Weshalb ist die Frau dann nicht am Krankenbett ihres Mannes?“ war meine nächste bedenkliche Selbstfrage. Ich sollte die Antwort finden, sobald ich selber in dem verdunkelten Raum die Gegenstände zu unterscheiden vermochte.

Aus einem tiefen Lehnstuhl stand eine Frau auf, als ich an das Lager trat. Ein dunkles, herrisches Auge flog mit gebieterischer Mahnung zu der jungen Frau hinüber, und der befehlende Blick bannte sie gleichsam an die Schwelle, ohne daß sie einen Schritt vorwärts zu thun wagte.

Es war ein trauriger Anblick, der meiner wartete, als ich den Vorhang des hohen Himmelbettes zurückschlug.

Eine athmende Leiche ohne Bewußtsein, betäubt, empfindungslos, mit schiefgezogenem Gesicht und gelähmter Zunge lag mit weitoffenen Augen da, aber diese Augen hatten keine Sehkraft, und die Pupillen, erweitert bis zu unnatürlicher Größe und gegen jede Lichtveränderung empfindungslos, starrten mich aus einem fürchterlichen Antlitz an.

Mich überlief es eiskalt, während ich den kleinen zuerst beschleunigten, dann aussetzenden Puls prüfte. Hatten denn all meine hiesigen Collegen keine Augen? Ein Blick, und ich wußte, daß etwas Fürchterliches sich hier über die Schwelle gedrängt – daß ein Verbrechen verübt worden war.

„Sind Sie die Krankenwärterin?“ examinirte ich kurz die große, klösterlich gekleidete Frau, die regungslos wie ein Steinbild mit steinernem Gesichtsausdrucke zu Häupten stehen geblieben war.

„Eine Freiwillige,“ sagte sie lakonisch. „In meiner Jugend Diakonissin – seit zehn Jahren Hausverweserin Seiner Excellenz.“

Stimme und Sprache trugen den Stempel der Verfeinerung und Bildung. Sie mußte nie schön gewesen sein, diese verschlossene Frau mit der frostigen Reservirtheit in Ton und Wesen. Ich legte ihr schnell andere Fragen über den Patienten vor. Ihre Antworten waren knapp, klar, sachgemäß und logisch, wie von Männerlippen. Ihre Stimme hatte männliche Tonfärbung.

„Waren Sie von Anfang an bei dem Kranken gewesen?“

„Leider nicht.“ Es klang haßerfüllte Bitterkeit aus ihren Worten, und ein Blick unversöhnlichen Hasses flog zu der jungen [203] Frau herüber, die sich darunter förmlich in sich selbst zusammenbog und am ganzen Leibe wie Espenlaub zitterte.

„Seit wann denn hatten Sie die Pflege übernommen?“

„Seit ich am Abend nach Seiner Excellenz Erkrankung die Frau Baronin“ – sie sprach mit leisem, verächtlichem Achselzucken – „ohnmächtig auf ihren Knieen am Bette gefunden. Seine Excellenz haben damals wahrscheinlich schon delirirt,“ fuhr sie fort, „haben fürchterliche Anklagen und Verwünschungen ausgestoßen,“ und wieder flog der dunkle, unbeschreibliche Blick aus den gleichsam phosphorescirenden Augen – diesmal in unverkennbarer Drohung – zu Blanche hinüber, die unwillkürlich einen hastigen Schritt vorgethan und ihre gefalteten Hände beschwörend der Frau zustreckte.

Welches häusliche Drama spielte sich vor uns ab? Es blieb mir keine Zeit, es ergründen zu wollen. Der Patient war meine Hauptsorge, und trog mich nicht Alles, war jede Hülfe bereits zu spät.

„War damals ärztliche Hülfe sofort herbeigerufen worden?“

„Die Frau Baronin untersagte es anfangs, dann kam Seine Excellenz noch einmal zur klaren Besinnung und untersagte es strenge, obschon die gnädige Frau damals wieder flehentlich darum bat. Nachdem das Delirium wiedergekehrt, hat sie aus eigener Machtvollkommenheit nach den Medicinalräthen Werner und Vogel geschickt.“

„Und die Diagnose der Aerzte?“

„Magenkatarrh oder -Erweichung, glaube ich,“ sagte sie, und wieder zeigte sich jenes unbeschreiblich geringschätzende Achselzucken, und ein verächtliches Lächeln spielte um die vollen, blassen Lippen.

„Und die Symptome, die Sie beobachtet haben?“ fragte ich gespannt. Ich hatte Achtung vor der scharfen Beobachtungsgabe, dem scharfen Auge, der präcisen Ausdrucksweise dieser gescheiten Frau bekommen.

Ein fieberhafter Glanz trat in die harten, bösen Augen, ein jähes Roth in das fade Weiß des etwas fetten Gesichtes, ein sommersprossiges, todtes Weiß, wie es rothes Haar häufig zu begleiten pflegt. Sie bestätigte in prägnanter Knappheit meine grauenhafte Diagnose.

„Kolik und Diarrhöe, dann Erbrechen und Ohnmachten, Verlust des Gedächtnisses, schweres Gehör, glänzende, unstät umherrollende Augen, voller, zuerst schwerer, dann aussetzender Puls und seit heute Morgen jene Lähmungs-Anfälle, von denen ich wußte, daß sie die Vorläufer der allgemeinen Lähmung wären,“ zählte sie mir in chronologischer Reihenfolge auf, und ich wußte jetzt, wovor ich förmlich zurückschauderte.

Konnten die angewandten Hülfsmittel hier noch von Nutzen sein? Ich wollte wenigstens nichts unversucht lassen, soweit die menschlichen Kräfte reichten.

Zu Vomitiven war es zu spät, und auch die Magenspritze erwies sich als nutzlos. Ich gab ihm durch die knirschenden Zähne Citronensaft mit Kaffee, dann Liquor ammonii carbonici caustici ein, und die resolute Frau, mit ihrem gleichsam hellsehenden Instincte und ihren ruhig energischen Handleistungen, war mir dabei ein sehr willkommener Assistent. Ihre kräftigen Arme unterstützten mich tapfer, die erstarrenden Extremitäten durch heftiges Bürsten zu beleben.

Sage ich gleich (ich schreibe keine moderne Sensationsnovelle, die den Leser auf die Folter der Erwartung spannen soll), ich hielt den fürchterlichen Zustand für eine Hyoscyamin-Vergiftung, herbeigeführt durch jenes Alkaloid, oder das besser bekannte Belladonna. Als ein paar Stunden darauf das schlagflußartige Ansehen meines Kranken zunahm, was auf eine Ueberfüllung der Hirngefäße mit Blut schließen ließ, ordnete ich noch einen Aderlaß an.

„Was hatte der Patient am Abend vor seiner Erkrankung genossen?“ fragte ich die schweigsame Krankenpflegerin, die inzwischen wieder in ihren tiefen Sessel gesunken war.

Wieder jene kaum merkliche überhebende Bewegung des Oberkörpers, die klar zeigte, wie sie über die Kurzsichtigkeit meines Berufes urtheilte, und dann ein trockenes:

„Hühnerfricassée.“

„Mit Trüffeln, Morcheln, Champignons?“

„Nichts von alledem! Excellenz verabscheuen jede Art der Pilze. Das Huhn war auf die primitivste Art zubereitet, einfach in eigener Kraft mit Eigelb servirt.“

„Und weiter?“

Der ironische Mund verzog sich noch spöttischer; ihr Ton war noch wegwerfender: „Eine Messerspitze Ramadurkäse, ein Theelöffel voll Champagnergelee, den ich eigenhändig fabricirte, und ein Madeiraglas Chablis ungefähr. – Darüber, Herr Professor, wird die gnädige Frau besser referiren können. Ich nahm das leere Glas nur vom Büffet, das Frau Baronin Excellenz selbst präsentirt haben muß, denn die Dienerschaft war hinausgeschickt.“

Ich sah Blanche’s weiße Hände sich krampfhaft um die Thürklinke schließen, als fürchte sie umzusinken.

„Hat die gnädige Frau das Souper vollständig getheilt?“ setzte ich mein Examen fort.

„Fragen Sie sie selbst! Ich gehöre zu den Domestiken,“ sagte sie schroff und deutete gebieterisch auf Blanche hin, die wie ein Schatten in das anstoßende Gemach zurückwich.

Ich ging ihr nach, und auch ihr Vater folgte mir.

Sie lag zusammengekauert vor dem Sopha und hatte das Gesicht in die Polster gleichsam eingegraben. Der zuckende Oberkörper verrieth ihr innerliches Schluchzen. Das jetzt ganz aufgerollte Haar floß wie ein lichter Königsmantel auf das Parquet herab. Ich mochte die in Schmerz Versunkene nicht gewaltsam aufreißen. „Wer ist die seltsame, um nicht zu sagen unangenehme Person da drinnen?“ fragte ich neugierig den Obersten und deutete mit dem Finger auf das Krankenzimmer.

„Ein Störenfried, der in keinem Hause gut thut und den meine Tochter, wenn sie meinen praktischen Erfahrungen, mehr gehorcht hätte als ihrer gutmüthigen Schwäche, längst würde entfernt haben. Eine anmaßende Person, entfernte arme Verwandte der zweiten Frau meines Schwiegersohns. Sie hat diese zu Tode gepflegt, ist Hausdame bei dem Wittwer gewesen und hat wohl auf eine Stellung Anspruch erhoben, zu der ihr durch meine Tochter jede Hoffnung genommen wurde. Ich glaube kaum, daß sie Blanche diese Enttäuschung verzeihen kann. Mir ist das kalbfleischweiße Gesicht unheimlich und abstoßend, wenn dessen Züge auch beinahe schön genannt werden können. Sibylle Unruh heißt sie. Der Name ‚Sibylle‘ charakterisirt sie vortrefflich, aber ‚Unruh‘ ist eine wahre Persiflage auf ihre steinerne Unbeweglichkeit. Da haben Sie die ganze Charakteristik dieser Frau, die meine gutmüthige kleine Blanche aus reinem Mitleid mit ihrer Verlassenheit nicht fortschicken mochte und die ihr das – ich habe die instinktive Ueberzeugung mit einem stillen beharrlichen Verfolgungshaß vergelten würde, hätte sie nur die Macht dazu. Die Person ist hochmüthig und ränkevoll, glauben Sie mir, und ihre bescheidene Zurückhaltung und Demuth sind nur die Masken eines verbitterten, galligen Charakters.“

Langsam hatte die Baronin sich auf den Knieen erhoben; das wirre Haar hatte sie aus dem verweinten Antlitz geschüttelt, und jetzt näherte sie sich uns mit jener, ich möchte sagen, zutraulichen Kindlichkeit, die sie mir einst so reizend erscheinen ließ. Diese kätzchenartig anschmiegende Schutzbedürftigkeit stand der jungen Frau entzückend. Jede Bewegung, jeder Aufblick aus den großen grauen Augen war ein Anruf unserer Hülfe. Wie ein müdes, zum Tode erschrockenes Kind lehnte sie den blonden Kopf an ihres Vaters Schultern und sah angstvoll von Einem zum Andern.

„Papa, er wird nicht sterben; sage mir, daß er nicht sterben wird!“ jammerte sie mit gerungenen Händen, und als wir stumm blieben, kam wieder jener verhaltene Ton – ich kann ihn nur als verzweifeltes Aechzen bezeichnen – aus ihrem offenen, nach Luft ringenden Munde. Das junge Weib war mir ein Räthsel.

„Gnädige Frau –“

„Blanche!“ unterbrach sie mich, ohne aufzublicken.

„Blanche,“ wiederholte ich mechanisch – der Augenblick war viel zu ernst zu Aeußerlichkeiten und das gute, liebe Kind mir, dem alten Hagestolz, viel zu sehr an’s Herz gewachsen, als daß ich diese Form der Anrede nicht natürlich gefunden hätte. „Blanche, Sie müssen mir von Anfang an berichten, wie Alles war und kam – hören Sie?“ Und ich nahm ihren blonden Kopf von ihres Vaters Schulter und zwang sie, mich anzusehen, ihre Augen aber wichen den meinigen scheu aus; die Todesangst stand deutlich in dem geisterhaften Gesicht, und Schweißtropfen perlten auf der Stirn. Selbst das Haar schien durchtränkt davon.

[204] „Ich kann nicht; ich – ich – ich weiß nichts – ich –“ und sie drängte an mir vorüber der jenseitigen Thür zu. Ich aber nahm ihre beiden Hände, preßte sie wie in eiserne Fesseln in die meinigen und sagte streng:

„Benehmen Sie sich nicht wie ein ungeberdiges Kind! – Haben Sie mit soupirt an jenem unheilvollen Abende?“

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

„Sagen Sie mir –“

„O, wie Ihr mich quält!“ jammerte sie.

Und ich sagte noch strenger: „Sie müssen haarklein beichten, Blanche.“

„Lieber todt!“ schrie sie auf.

Ein Ruck – ihre Hände waren frei; außer sich stürzte sie an uns vorüber – ich weiß nicht, wohin. Ich sah sie gleich darauf durch den Garten abwärts eilen.

[214] „Was hat sie nur?“ fragte beklommen der Oberst. „Wie unnatürlich äußert sich ihre Besorgniß um den Mann, für den sie höchstens kindliche Anhänglichkeit empfinden könnte! Ich erkenne in diesem exaltirten, gleichsam aus allen Fugen gerissenen Charakter meine kleine, sanfte, maßvolle Blanche gar nicht wieder. – Vergebung, Professor! Wir haben über diese traurigen Familienereignisse ganz Ihr Wohlbehagen vergessen. Wollten Sie auf Ihrem Zimmer ausruhen, oder was kann man sonst für Sie thun? Bitte, befehlen Sie ungenirt!“

„Zum Ruhen werden wir morgen Zeit haben,“ meinte ich mit einem dunklen Vorgefühl des Kommenden. „Ich will mich ein wenig säubern, und dann würde ich Ihnen dankbar sein, wenn sie mir ein Glas Wein und irgend etwas Genießbares hierher bringen ließen.“

[215] Ein dämmender Sommerabend war hereingebrochen, als wir unser hastiges Souper beendet hatten. Ich ging noch einmal zu meinem Kranken und trat dann hinaus auf die Veranda mit dem Bemerken: daß ich noch eine Cigarre im Freien zu rauchen wünsche, wenn der Oberst eine Viertelstunde die Wache im Arbeitszimmer übernehmen wolle.

Was mich hinaustrieb, das war eine dunkle gegenstandlose Furcht für Blanche.

Ortsunkundig, wie ich war, wandelte ich hastig die sanfte Abdachung hinab und hielt dort kurze Umschau. So weit das Auge die Dämmerung durchdringen konnte, spannte ein wundervolles Landschaftsbild sich vor mir aus. Eine Hügelkette, die duftblau den Horizont begrenzte, schlang sich gleichsam im Kranze um das Plateau, auf dem die Schloßburg stand. Niederwärts stieg malerisches Rebengrün, unterbrochen von glührothem Bastardgeranke, und um mich her durchleuchtete es das Halbdunkel blutroth. Wir waren in voller Rosenzeit; die purpurne Napoleonsblume lag hie und da wie ein Blutfleck zwischen dem kurzgeschorenen Sammet des englischen Rasens. Die Fontaine sprühte ihre glitzernden Tropfen darüber aus, und die Nachtigall schluchzte sehnsuchtsvoll hinein in die duftberauschende Atmosphäre.

War das eine Nacht zum Sterben? Werden und Vollendung athmete die ganze Natur und – Genießen in vollen Zügen. Genießen raunte es geheimnißvoll durch Busch und Halm; der murmelnde Quell rauschte es, und der Leuchtkäfer im Grase flüsterte es den biegsamen Halmen zu. Da oben im düstern Gemach aber rang Einer zwischen Leben und Sterben.

Mich überlief es fröstelnd in der gluthathmenden Juninacht; tief bewegt schritt ich auf und ab.

Still! Was war das? Ein Schrei, ein matter Hülferuf?

Durch niedriges Rebengrün bahne ich mir, mitleidslos Alles niederstampfend, was mir entgegensteht, den Weg abwärts und eile den Weinberg hinab. Aber ein Anderer ist mir zuvorgekommen. Weiß, hoch, gespenstisch groß, hetzt es von jenseits in weiten Sätzen hinab, wie umflattert von weißer Wolke.

Die Sichel des ersten Mondviertels steht im Azur des blassen Sommerhimmels. Ich bin vor der Lichtung angekommen, die sich am Fuße der Berge hinbreitet. Aber nicht weit sieht das Auge; vor mir, von Buchen, weißleuchtenden Birken und Erlen umstanden, streckt sich in regungsloser Ruhe ein Weiher aus. Wasserlilien schaukeln zwischen saftschwerem Blätterkranze auf schlankem Stiele träumerisch auf und nieder; Schilf zittert empor bei jedem Windeshauche, und die Espe taucht, vom Ufer hinabgeneigt, ihr graciöses Hängegezweig in die Fluth. Noch habe ich den Steg nicht erreicht, der über die Tiefe führt; unter dem dichtesten Gewirr der Wasserpflanzen sehe ich es dahintreiben, wie das goldene Haar einer Frau. Aber auch zwei weiße Hände sehe ich, die aus dem Wasser hervorblicken und verzweiflungsvoll das morsche Holz des Steges umklammert halten. Noch ein schwacher Hülfeschrei, und die ermattenden Finger geben die Stütze frei – der Körper treibt, von unterseeischen Strudeln fortgerissen, in die Mitte des Wassers. Da hat die weiße Kolossalgestalt fliegenden Fußes die Mitte des schwankenden Brettes erreicht. Das Holz ächzt förmlich auf unter dem festen Tritt. Eine Viertelsecunde, und die Fluth zieht große Kreise um den schweren Körper, der sich hinabgestürzt; der Arm, der kräftig die Fluthen theilt, reißt die Wasserlilien herab, und als sie tropfenfunkelnd wieder emportauchen, hat sich der kühne Schwimmer schon um ein paar Fuß durch das Pflanzengeranke gekämpft, das sich polypenartig um Fuß und Gestalt schlingen will. Die Hand greift aus und zieht an den goldenen Haaren den Körper heran, der eben im Begriff ist unterzusinken, und nun stehe ich selber auf dem kippenden Stege und ziehe mit übermenschlicher Kraft die doppelte Last empor, und auf dem schmalen Brette, das unter der dreifachen Last knarrt und knackt, erreichen wir glücklich das sichere Ufer.

Die starkknochige Gestalt, an welche das weiße, durchtränkte Nachtkleid sich eng anlegt, stellt die Frau, die sich in wahnsinniger Angst an sie angeklammert hielt, mit zorniger Ungeduld auf die Füße.

„Bringen Sie sie nach Hause!“ sagte Sibylle verächtlich. „Ich muß zu ihm zurück. Tragen Sie keine Sorge! Sie hat an dem einen Versuch genug; sie fürchtet sich vor dem kalten Bade, sonst hätte sie nicht um Hülfe gerufen. Solche Menschen wissen nicht einmal würdig zu sterben.“ Sie wandte sich zornig noch einmal der zitternden Frau zu, die in rührender Zerschmetterung ihr die gefalteten Hände flehend zugestreckt hielt.

„Sie sind eine schlechte Frau. Versuchen Sie wenigstens Mutter zu sein!“ sagte sie brüsk.

Sie eilte phantomgleich fort, wie sie gekommen war, aber dann wandte sie sich noch ein Mal zu uns um und herrschte uns gebieterisch an:

„Gehen Sie durch den versteckten Eingang!“ sagte sie mit unsäglicher Bitterkeit, „Sie kennen ihn ja. – Achten Sie wenigstens seinen Willen und erhalten seinem Kinde einen unbetasteten Namen! Daß keiner der Diener Sie in diesem Aufzuge erblickt!“

Sie war wieder fort, und wir waren allein. Mit einem schluchzenden Aufschrei warf Blanche sich in das thaufeuchte Gras, aber ich zog sie sanft überredend wieder zu mir auf. Was sie auch verbrochen haben mochte – unsägliches Mitleid mit diesem geknickten, hülflosen Kinde überfluthete meine ganze Seele.

„Bedenken Sie, Blanche, daß Sie Mutter sind!“

Wie im Gebet schlangen sich ihre Hände leidenschaftlich zusammen, und es erhob sich ein Gesicht, in dem grenzenlose Verzweiflung stand, gen Himmel. Sie stöhnte leise. „Vater, erbarme Dich meiner!“

„Blanche, Ihr Kind!“ mahnte ich noch einmal leise, als sie wie irrsinnig immer nur empor sah, während es den zarten Körper unter den triefenden Kleidern schaudernd durchrieselte. Sie nickte geduldig. „Ich muß fortleben,“ hauchte sie müde; dann hing sie sich schwer an meinen Arm und schleppte sich mühsam die Berge hinauf. Als wir an dem Seitenflügel des Schlosses angelangt waren, hob sie, wie einen grünen Vorhang, eine bewegliche Wand von breitblättriger Aristolochia in die Höhe. Gebückt mußten wir darunter fortschlüpfen. Eine dadurch maskirte Thür, die in’s Souterrain führte, gab einem leisen Druck ihrer Hand nach, und wir standen auf der ersten Stufe einer schmalen steinernen Wendeltreppe. Sie ging dieselbe geräuschlos hinauf, und auf dem ersten Treppenabsatz zeigte sie stumm auf eine niedrige Pforte. Ich öffnete dieselbe und trat in das Gemach; die Thür klappte lautlos hinter mir zu, und ich stand allein im Treppenhause des Schlosses.

Den Oberst fand ich im Lehnstuhl eingenickt, meinen Kranken beinahe unverändert. Ich sah, daß es mit ihm zu Ende ging. In einen dunklen Ueberwurf gehüllt, saß Sibylle Unruh wieder in dem altmodischen Sessel und nahm nur durch kurzes Nicken von meiner Gegenwart Notiz. Ihr Gesicht sah in der dämmerigen Krankenstubenbeleuchtung noch strenger, noch verschlossener aus, und Abneigung und Sympathie gegen die seltsame Frau kämpften bei mir um die Herrschaft. Ich glaube, eine Art scheuer Achtung war das Resultat.

Nachdem ich leise meine Anordnungen gegeben, ging ich in’s Arbeitszimmer zurück. Der Oberst war erwacht; er ließ uns schwarzen Kaffee bringen, aber dies sonst so probate Belebungsmittel der Nerven versagte den erschöpfen Kräften diesmal seine Dienste. Die Natur forderte jetzt ungestüm ihre Rechte. Ich drohte vor Ermüdung umzusinken und warf mich, in eine Reisedecke gehüllt, der Länge nach, nahe der Thür auf eine chaise longue. Die früheren Stundenankündigungen muß ich im ersten festen Schlaf überhört haben. Der dröhnende Mitternachtsschlag der Thurmuhr schreckte mich auf. Der Oberst schnarchte energisch auf seinem Stuhle weiter. Ein wimmernder Laut, dann ein erschütternder Ton, wie er sich sonst nur aus verzweifelnder Männerbrust ringt, kam aus dem Krankenzimmer.

Ich ging leise durch die angelehnte Thür. Sibylle lag vor dem Lager auf den Knieen. Ihr Gesicht war nach vorn herüber gesunken; ihre Hände umklammerten die Kissen.

Was ihre Arme so inbrünstig umschlungen hielten, war eine Leiche.

Sie erhob sich, als ich näher kam. Ruhig und gefaßt berichtete sie mir über die letzten Augenblicke des Verstorbenen. Niemand, der ihr in’s thränenlose Auge blickte, hätte geahnt, welch’ einen wilden Schmerzenskampf die Frau da eben mit sich allein und mit Gott auszuringen gehabt.

Wie ich vorausgesehen, hatte ein Schlagfluß seinen Qualen ein Ende gemacht. Er war vor einer halben Stunde verhältnißmäßig sanft hinübergeschlummert.

„Kommen Sie!“ sagte sie darauf, und ohne eine Antwort [216] abzuwarten, öffnete sie eine Tapetenthür und schritt mir voran in ein mit raffinirtestem Luxus und üppiger Coquetterie ausgestattetes Ankleidezimmer, das die Verbindung der beiderseitigen Schlafgemächer des Ehepaares bildete. „Ihr Tabernakel!“ bemerkte sie geringschätzend. Wie ein stiller, allem Weltgetriebe entrückter Tempel lag in träumerischer Ruhe das rosenroth und spitzendurchwobene Zeltgemach da, in dem, einem riesigen Rubin gleich, die Ampel geheimnißvoll magisches Halblicht spendete. Auf dem Teppich, vom Schlummer wahrscheinlich übermannt, lag Blanche, sanft athmend. Die Arme hatte sie unter dem Kopfe verschlungen. Ein weites, weißes Morgenkleid umfloß sie. Sie schlief, schlief fest und friedlich wie ein Kind.

Finster, mit überkreuzten Armen, blickte Sibylle einen Moment auf dieses Bild holdesten Friedens herab. Ihr Fuß hob sich; er trat hart neben dem seidenen Haar vorbei, das sich auf dem Boden ausbreitete; ihr Saum streifte dicht an dem holden Gesichte vorüber.

„Sie schläft; sie kann schlafen,“ grollte sie, und empört wollte sie die Unglückliche emporreißen.

„Gönnen Sie der armen Frau die kurze Ruhe! Der Tag wird fürchterlich für sie anbrechen.“

„Ja,“ sagte sie lakonisch, und dann winkte sie mir, ihr in’s Schlafzimmer zu folgen, dessen Thür sie hinter sich leise einklinkte.

Sie kramte und suchte in fieberhafter Hast darin umher, während ich, an die innere Thür gelehnt, ihr befremdet zusah. Als sie jedoch in rücksichtslosem Vorgehen das Schloß eines Toilettschubfaches durch eine eingeklemmte Scheere zu sprengen versuchte, glaubte ich Einhalt gebieten zu müssen.

„Wie können Sie es wagen!“

Sie hielt meinen Blick standhaft aus.

„Ich will die Ehre meines Herrn retten. Das Gericht soll Nichts finden, was sie compromittiren würde,“ sagte sie, jedes Wort schwer und langsam betonend. „Lassen Sie mich vollenden! Es muß sich irgendwo Etwas finden. Mein Herr hatte keinen Feind, als –“

„Weib, der Haß bringt Sie von Sinnen,“ rief ich empört.

„Ihre Voreingenommenheit,“ erwiderte sie gelassen, „stempelt mich zu einer Feindin jenes schwachen, charakterlosen Geschöpfes, für das ich nur Mitleid empfinde. Herr Professor, Sie sehen natürlich nur, was man Ihnen zu zeigen beliebt, ich aber stand hinter den Coulissen. Wenn Ihnen die Ehre Ihres Freundes und seiner Familie so theuer ist, wie mir die meines verstorbenen Herrn, so lassen Sie mich vollenden!“

Ich zögerte noch, das Instrument, das ich ihren Händen entwunden, ihr zurückzugeben. Meine unschuldige, gute, kleine Blanche eine –. Es war purer Wahnsinn.

„Sie wissen,“ sprach sie weiter, „so genau wie ich, daß er keines natürlichen Todes starb. Fragen Sie sich, wer allein ein Interesse an seinem Ableben hatte! – Ich will Ihnen etwas anvertrauen, was außer mir wohl nur noch der Oberst weiß; denn daß es ihm nicht unbekannt, das hat mir sein angstbeklommenes Gesicht verrathen.“

Sie trat einen Schritt näher; ihr Mund berührte fast mein Ohr, als sie mir geheimnißvoll zuraunte:

„Wissen Sie etwas von Bruno Zukits?“

Ich dachte einen Augenblick nach, dann nickte ich. Der Oberst hatte mir den Namen heute in Verbindung mit Blanche genannt. Es war jener glänzende junge Officier, der schöne Taugenichts, den sie als halbes Kind geliebt hatte. Ich zitterte vor der kommenden Entdeckung.

„Er wurde damals versetzt,“ sagte Sibylle, „jetzt treibt er sich in einer Verkleidung hier umher. Warum tritt er nicht offen auf, wenn er nichts Böses im Schilde führt? Warum hat er Bart und Haar geschoren und nennt sich einen reisenden Maler, der sich hier im Weinberge einschleicht, um Abends“ – sie betonte das Wort ironisch – „Skizzen aufzunehmen? Und weshalb begeistert sie sich für Mondscheinpromenaden und kommt durch den versteckten Gang in ihr Schlafzimmer zurück? Glaubt sie, ich habe keine Augen, die über der Ehre meines Herrn Wache halten?“

„Sie hassen sie tödtlich, Sibylle Unruh?“

„Ich hasse sie nicht,“ sagte sie störrisch, „ich verachte sie.“ Und dann plötzlich brach es stürmisch mit einer Art wildem Enthusiasmus aus ihr hervor, wie ein Strom, der gewaltsam seine Fesseln sprengt: „Ich liebe ihn – ich liebe ihn, so lange ich denken kann, den Großen, Hohen, Edlen. Ich liebte ihn, als ich, ein kleines, niedriggeborenes Mädchen, zu Füßen des ruhmgekrönten Helden saß und athemlosen Mundes den Erzählungen seiner Waffenthaten lauschte. Ich war die Tochter seines Administrators, und wie zu den hohen fernen Sternen habe ich anbetend zu meinem Ideal männlicher Heldenkraft emporgeblickt. – Sie sagen, ich war schön. Was nützten mir diese flüchtigen Reize!? Männer von so hünenhafter Gestalt und eisenfestem Charakter lieben nicht Frauen, wie ich eine bin, die gleichberechtigt neben ihnen im Leben stehen, treue, starke Cameraden in Freud und Leid, die tausend Tode jubelnd für den Geliebten zu sterben bereit sind. Sie brauchen Frauen, die ihnen ein zierliches Spielzeug sind, zarte, schwache, hülflose Kinder, die sie in ihre starke Liebe wie in einen schirmenden Mantel einhüllen und die in ihrer thränenreichen Schwäche den Ahnungslosen zehnmal mehr zügeln und tyrannisiren als wir, die kräftig an ihrer Seite stehen und Demuth durch die höchste Liebe erkennen lassen. – Ich liebe ihn. Ich liebe ihn bis zum Selbstvergessen, bis zur Selbstverleugnung, und ich hätte das Weib gesegnet mit dankbarem Herzen, das ihn wirklich beglückt hätte. Seine erste Frau war eine exotische Pflanze, zart wie ein Hauch, die in unserem Klima dahinsiechte. Fragen Sie seinen alten Diener, ob ich ihr eine treue Pflegerin, eine opfermuthige Freundin gewesen während ihres kurzen Blumenlebens! Die zweite war ein deutsches Gedicht. Ein furchtbares Leiden, das Jeden von ihrem Schmerzenslager verscheuchte, habe ich ihr und ihm Jahre lang tragen helfen. Beide Frauen haben meinen edlen Herrn geliebt, ihm ganz angehört, wenn auch ohne das richtige Verständniß seines hohen vollen Werthes, in ihrer kindisch launenhaften Weise, die ihn nicht ganz beglücken konnte und seiner unwürdig war. Ich habe sie geachtet. Da, im Greisenalter, fällt sein Auge auf jene rosig-weiße Eva, vor der ich ihn mit scharf sehendem Blick vergeblich warnte. Ein Opferlamm, ward sie an den Altar geschleppt – ein Opferlamm, in innerster Seele ihm grollend, trat sie in sein Leben und hat es zerstört mit schwachen kindischen Händen. Noch weiß ich nicht wie – aber wir wollen suchen und werden finden, und dann kann mein Geliebter friedlich in seinem Grabe ruhen. Wie ich ihn an jenem Abend gewarnt, über seiner Ehre zu wachen, so werde ich Sorge tragen, daß sein Sohn den stolzen Namen unbefleckt weiterführen kann.“

Sibylle war erhaben anzuschauen. Ich beugte mich in Bewunderung vor diesem ehrenfesten, schroffen Charakter. Diese Frau war – ein ganzer Mann, möchte ich sagen, wenn es nicht gar zu paradox klänge.

„Und wenn er selbst…?“ wagte ich zögernd einzuwenden.

„Der nicht – nie und nimmermehr!“ sagte sie bestimmt.

Ruhig gab ich ihr die Scheere zurück. Sie arbeitete ein paar Augenblicke an der Schieblade herum, daß ihr der Schweiß vor Anstrengung auf die Stirn trat. Dann ein leises Knacken. Ihre ungestümen Hände rissen das Schubfach mit einem Ruck heraus; hastig wühlten sie darin herum und warfen den Inhalt auf die Lapislazuliplatte des runden Mitteltisches. Parfüms und Puder, Daunenquasten, Schwämme, Salben, Pinsel, Bürsten und was sonst noch zu dem kleinen Toilettenkasten einer eleganten Frau gehören mag, häufte sich hier auf Flaschen und Fläschchen. Die Schieblade schien geleert, und ich seufzte schon erleichtert auf; da tauchen die gierigen Hände noch einmal in die tiefsten Winkel und ziehen zwei sich beinahe gleiche Fläschchen heraus. Sibylle überreichte sie mir mit einem Laut, der beinahe einem Aechzen gleichkam.

Ich entkorke sie, prüfe sie durch den Geruchssinn und indem ich den befeuchteten Finger auf die Zunge lege, sage ich:

„Das nicht – es ist Morphium.“ Ich gebe es ihr zurück. Die andere Flasche zuckt in meinen Fingern.

„Und jene?“ fragt sie mit ahnungsschweren Augen.

„Belladonna!“

Hinter uns rauscht es leise auf. Auf der Schwelle mit schreckensweit geöffneten Augen steht Blanche. Sie sieht wie ein Geist aus.

Als ich aus meiner ersten Betäubung – so möchte ich mein erschrecktes Entsetzen nennen – zu mir kam, stand ich mit einem Sprunge an Blanche’s Seite und wollte, als ihr strenger Richter, sie vollends in’s Zimmer ziehen. Sie widersetzte sich aus Leibeskräften. [218] Wie ein geängstigtes Kind klammerte sie sich mit Händen und Füßen an den Thürflügel an. Ich hätte Gewalt anwenden müssen, um sie zu entfernen, und in ihren Verhältnissen war Gewalt unmöglich.

„Wie kommen Sie zu dem Gifte? Sie hören, es ist Belladonna – der Inhalt dieser Flasche!“

„Stirbt man davon?“ – fragte sie mit einer Art naiven Entsetzens.

„Wie kommt es in Ihren Toilettentisch?“

Keine Antwort. Sie hielt ihre Lippen fest aufeinander gepreßt; ihre Augen blickten furchtsam, neugierig und unstät von Sibylle zu mir, von mir zu Sibylle, und plötzlich lösten sich die krampfhaft packenden Finger; ehe ich es hindern konnte, suchte sie ihr Heil in besinnungsloser Flucht. Ich eilte ihr nach, über Corridore, Hallen, Treppen, auf und nieder, bis sie mir plötzlich doch entschwunden war und ich auf einer Hintertreppe stand, die zu den Bedientenräumen gehören mußte und die ich langsam hinabstieg. Da huschte es im Dunkel leise an mir vorbei und meine umhertastende Hand erfaßte Frauenkleider. Ich zog die zitternde Gefangene bis an’s nahe Corridorfenster, durch welches das geisterbleiche Mondlicht fiel. Ich blickte in ein todtenbleiches, verstörtes Gesicht einer hübschen, etwa dreißigjährigen Frau, ein Gesicht, das in diesem Augenblicke wie das böse Gewissen selber aussah. Die eine Hand hielt das Weib, fest zur Faust geschlossen, scheu zurück. Ich schenkte diesem Umstande damals wenig Beachtung. Diese an sich so bedeutungslosen Dinge und mir erst später wieder eingefallen, als sie zur Klärung des fürchterlichen Geheimnisses mit unberechenbarer Tragweite in’s Gewicht fielen. O, wäre ich nicht achtlos daran vorübergegangen, welche entsetzlich martervollen Stunden und Tage hätte ich uns Allen erspart!

„Wer sind Sie?“ herrschte ich mein Gegenüber ungeduldig an.

„Ich bin Christine, die Köchin,“ gab die Geängstigte mit zitternder Stimme zurück. Ich hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

„Sie zittern ja an allen Gliedern, Frau! Wovor ängstigen Sie sich?“

„Herr – Professor – Sie haben mich – zu Tode erschreckt,“ stotterte sie.

Ich fragte, was sie nach Mitternacht da draußen gewollt habe, und sie entschuldigte sich damit, daß sie das Stubenmädchen habe wecken wollen, welches jenseits des Hofes schlafe, weil ihr ganz allein da unten im Souterrain so bange geworden sei. Ich gab sie natürlich frei, und mit einem tiefen Knixe wünschte sie mir „Gute Nacht!“ und ging ihrer Wege. Gleich darauf hörte ich die Thür nach dem Hofe knarren, während ich hastig die Treppe wieder hinaufstieg. Um Athem zu schöpfen, hielt ich einen Moment auf einem der Treppenabsätze an, und da ich gerade vor einem der Bogenfenster stand, blickte ich mechanisch hinaus und hinunter in den Küchengarten, der sich todtenstill da unten ausbreitete.

Wie eine scharfgeschnittene Silhouette hob sich eine menschliche Gestalt von dem Nachtdunkel ab. Sie jagte wie gehetzt dahin, und mir war es, als öffne sich plötzlich eine Hand und schleudere etwas von sich auf einen Kehricht- oder Schutthaufen, der seitwärts lag. Ich konnte mich aber auch geirrt haben. Eine optische Täuschung war bei dem unsichern Lichte nicht unwahrscheinlich.

Kopfschüttelnd ging ich weiter. Oben begegnete mir der alte Haushofmeister. Das alte Gesicht drückte tiefe Erschütterung aus; die treuen Augen standen voll Thränen. Er war in der Stimmung, die zur Mittheilung geneigt macht. Ich brachte ihn, den sonst aus lauter Respect so Schweigsamen, leicht zum Sprechen über Vergangenheit und Gegenwart.

Wie hatte er und die übrige Dienerschaft so schnell von dem Tode seines Gebieters erfahren?

Während wir in Blanche’s Schlafzimmer Nachforschungen hielten, mußte der Oberst erwacht sein und den einsamen Todten gefunden haben. Er hatte den wachhabenden Officier und die Ordonnanz heftig herbeigeklingelt und alle Diener alarmirt, um nach herbeiholen zu lassen.

In rührender Anhänglichkeit sprach der alte Diener (ein Diener, wie wir sie nur noch vom Hörensagen kennen) von dem Verstorbenen. Er war ein guter, gerechter, ein strenger und doch wieder milder Herr, ein Mensch in der schönsten Bedeutung des Wortes gewesen. Um Sibyllens Bild, die zu ihrer Vertheidigung mir so einfach von ihren langjährigen treuen Diensten im Falkenstein’schen Hause gesprochen, woben seine Worte voll warmer Begeisterung einen wahren Glorienschein. Sie war die beste Frau unter der Sonne. Herb im Wort und im Aeußern, trug sie das weichste Herz unter der rauhen Hülle. Unter der demüthigen Rolle der Dienerin hatte sie wie ein Fels in unerschütterlicher Treue, Redlichkeit und Kraft in all den dunklen Stunden seines Lebens helfend, rathend, stützend und nichts für sich beanspruchend, als ihm nützlich zu sein, an Falkenstein’s Seite gestanden. Seine geliebten Frauen, zarte, schöne Wachspuppen, hatte sie in unermüdlicher Selbstverleugnung mild und opfermuthig in ihren schweren Leiden gepflegt, zufrieden, daß sie ihm die Mühen abnahm, und der Lohn für all die unsägliche Opferfreudigkeit war feindseliges Verkennen ihrer redlichen Absichten. Ich sah, der Mann hätte mehr sagen können, als er wollte, da er plötzlich schwieg. All meine Anstrengungen, etwas über Blanche’s Leben und Treiben zu erfahren, scheiterten an seiner respectvollen Zurückhaltung.

Gewohnheitsgemäß stäubte und rieb er an meinem Reiseanzuge herum, der durch die Nachtwache wohl arg gelitten haben mochte, und mechanisch blickte ich auf etwas, das unter seiner glättenden Hand von meinem Aermelaufschlage herabfiel. Es war ein schmutziggrünes, sammetartiges, etwas klebriges Blättchen mit kurzen weißen Haaren, das ich gedankenlos vom Boden aufhob und wieder flattern ließ, ohne mir einen Augenblick Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise sich dasselbe an meine Kleider geheftet haben könne.

Ich dankte dem alten Manne, als er mir die Thür des Arbeitszimmers öffnete, und eintretend bat ich ihn, zu versuchen, ob er Fräulein Unruh auffinden könne; er möge sie ersuchen, zu mir zu kommen.

Die Rolljalousien waren aufgezogen; die fahle Sommerdämmerung kämpfte mit dem Kerzenglanz des vielarmigen Leuchters auf dem Tische. Mit auf dem Rücken gefalteten Händen ging der Oberst im Zimmer auf und nieder. Ich bereitete ihn auf eine sehr peinliche Mittheilung vor. Dann erzählte ich ihm haarklein alles Vorgefallene.

Er blieb stumm. Ich sah ihm die tiefe Erschütterung, das tödtliche Erschrecken an.

„So Fürchterliches hatte ich nicht erwartet,“ sagte er endlich. „Gegenstandslose Angst hat mich freilich gefoltert, als ich gestern Abend den – den – Schurken hier vom Fenster aus um’s Schloß schleichen sah. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. Mein armes, unglückliches Kind! Wie auch der Schein gegen Blanche sprechen mag, Sie dürfen, Sie können nicht glauben, daß sie eine verbrecherische Hand an jenes edle Leben gelegt. Der Mann hat sie geliebt; er hat sie auf Händen getragen. Die Menschlichkeit selbst empört sich gegen die grauenhafte That, und meine kleine Blanche“ – er wurde weich; Thränen zitterten in der männlichen Stimme – „sie, welche keiner Fliege etwas zu Leide thun konnte, die als Kind die Blumen unter die Blätter flüchtete, damit ein Wind sie nicht zerrisse; sie, welche die mutterlosen Sperlinge zärtlich an ihr kleines Herz nahm und auffütterte, sie sollte … O, es ist nicht auszudenken. Professor“ – er rüttelte mich an beiden Schultern – „stehen Sie nicht so steinern, so stumm da, sprechen Sie, lassen Sie mich nicht wahnsinnig werden! Denken Sie doch, wie ich jahrelang jene hochherzige Frau verkannt – der ich schweres Unrecht abzubitten habe. Können Sie sich nicht auch irren? Rufen Sie Sibylle herbei! Sie muß Blanche’s Leben besser kennen als wir; sie muß uns helfen können; sie muß wissen, daß mein Kind keines Verbrechens fähig ist.“

Sibylle mußte die Worte gehört haben. Still, mild und ernst – ernst wie das Gericht, stand sie vor dem verzweifelten Vater und streckte ihm eine Hand hin. Er griff mit beiden Händen ungestüm danach und blickte ihr voll Todesangst in die schwermüthigen Augen. Er war außer sich; er wollte sein Urtheil von diesem Antlitze ablesen. Sie ertrug diesen Blick gefolterter Seelenpein nicht; schwerathmend wandte sie den Kopf ab – stöhnend ließ er die Hände fahren.

„Es kann nicht sein; es kann nicht sein!“

„Es ist, Waldow – wenn nicht ein Wunder geschieht,“ sagte ich scheu.

„Laßt uns berathen, was nun zu thun ist!“ Die bescheidene Dienerin hatte sich mit ruhiger Selbstverständlichkeit zum Herrn der Situation gemacht. Ihre klare Besonnenheit beherrschte uns Alle; sie gab selbst dem unglücklichen Vater einen Rest der Fassung zurück.

[236] „Ja, was zu thun ist?“ wiederholte Waldow mechanisch wie ein Automat Sibyllens Worte.

„Unsere Pflicht!“ mußte ich dumpf entgegnen.

Wie eine Löwin fuhr Sibylle auf: „Nichts gegen die Ehre dieses Hauses! Er schläft den ewigen Schlaf. Nichts, und legte man seine Mörder auf glühenden Rost, kann ihn dem Leben zurückgeben. Ich“ – sie sagte es unbeschreiblich hoheitsvoll, mit edlem Selbstbewußtsein – „die ich ein Leben hindurch die Wünsche und Gedanken ihm aus der Seele gelesen, ich allein kann in seinem Geiste urtheilen, und glaubt mir, ich spreche ihm aus der Seele, wenn ich sage: Ueberlaßt die Schuldigen ihrem eigenen Gericht, der Gewissensqual, und deckt für immer und ewig den Schleier des Schweigens über die Enthüllungen dieser fürchterlichen Nacht!“

„Ich darf es nicht,“ sagte ich traurig.

Da stürmte auch der Oberst auf mich ein und beschwor mich bei Allem, was mir einst heilig und theuer gewesen, und als ich verneinend das Haupt schüttelte, lag der gebrochene Vater plötzlich vor mir im Staube und umklammerte jammernd meine Kniee.

Brauche ich zu sagen, wie ich innerlich litt und kämpfte in dieser schweren Stunde? Meine Pflicht aber stand mir obenan.

„Und wenn ich meines leiblichen Vaters Leben dadurch rettete, Waldow, ich darf nicht. Ich muß den Gerichten Anzeige machen, wenn heute die Obduction der Leiche meinen Verdacht bestätigt.“

Er athmete erleichtert auf. „Gieb uns Zeit bis zum Tage des Begräbnisses, Doctor! Wir müssen Rath finden. – Rufen wir Blanche!“

„Sie hat sich im Thurmzimmer eingeschlossen und steht Keinem Rede,“ sagte Sibylle.

„Gut,“ meinte der Oberst, „gönnen wir ihr noch einen Tag der Ueberlegung! Sie muß ja endlich zu sich kommen, und mir wird sie Rede stehen und sich verantworten – das schwöre ich Euch. Sibylle, verkannte große Seele, nicht wahr, Sie wollen nicht den Untergang meines Kindes? Sie helfen mir suchen ohne Unterlaß, bis wir gefunden, was Blanche freispricht.“

„Ja!“

Sie hatte dem demüthigen Bittsteller den Strohhalm nicht entziehen wollen, an den er sich verzweiflungsvoll klammerte. Ich sah ihrem Gesichtsausdruck an, daß nur das Mitleid ihr das zögernde „Ja“ dictirt hatte. Ich selbst, ich gestehe es, fühlte mit jedem Augenblick meine Ueberzeugung von Blanche’s Unschuld mehr und mehr schwinden, ja, ihre Schuld wurde mir zur fürchterlichen Gewißheit, als ich ein paar Stunden später die Obduction der Leiche vornahm.

Die schnelle Veränderung des Todten, die schwarzblauen Flecke, die Ueberfüllung des Magens und der Hirngefäße mit Blut waren zwar noch keine genügenden Beweise einer Vergiftung, aber die chemische Prüfung der Gedärme und des Magens sprach für die Annahme einer solchen. Aus dem mit Eiweiß verdünnten Niederschlag des Mageninhaltes konnte ich, nachdem ich denselben von den Eiweißflocken befreit, filtrirt und getrocknet, die Natur des Giftes nicht sicher feststellen. Pflanzengifte entziehen sich ja immer mehr der exacten Beurtheilung als metallische.

Da sich in Blanche’s Toilettetisch das corpus delicti längst gefunden, konnte ich trotz alledem über das Gift nicht im Zweifel sein, das den Körper da vor mir zerstört hatte. Mir graute vor dieser holden Unschuld, deren weiße Hände durch Gattenmord besudelt waren, und ich kannte kein Mitleid mehr für ihre verbrecherische Schwäche. Ich trat zu meinen Freunden, zum Oberst und Sibylle, ein, und auf ihr athemlos gespanntes Aufblicken konnte ich natürlich nur schwermüthig den Kopf senken.

„Belladonna ohne Zweifel. Bescheiden Sie Ihre Tochter hierher, Oberst!“

„Ich komme von ihr,“ meinte Sibylle. „Wir dürfen die Unglückselige heute noch nicht mit einem Verhör peinigen. Ich habe mir mit einem Nachschlüssel die Thurmstube gewaltsam zugänglich gemacht und fand sie wie leblos auf dem Boden ausgestreckt. Sie ist in einem unbeschreiblichen Zustande, der auch dem härtesten Herzen Erbarmen abzwingen müßte. Unter meinen Bemühungen kaum zum Leben zurückgekehrt, fiel sie in meinen Armen von einer Ohnmacht in die andere.“

„Kommen Sie, Fräulein Sibylle!“ sagte ich, „wir wollen nach ihr sehen.“

War es ein neues Komödienspiel, das Blanche uns vorführte? Mein Glaube an sie war völlig erschüttert.

Wir traten bei ihr ein. Ihr ganzes Aussehen, ihr Puls, den ich sofort controlirte, zeigte mir, daß sie dieses Mal die grenzenlose Hinfälligkeit nicht heuchle. Sie sah entsetzlich verstört aus, als sie, aus neuer Ohnmacht erwachend, mit großen, unnatürlich geöffneten Augen uns der Reihe nach anstarrte. Ihr üppiges Haar umwogte ein Gesicht, dessen Colorit der Farbe des Porcellans gleichkam.

„Baronin,“ herrschte ich sie an, „haben Sie wenigstens so viel Gewissen, nicht auch Ihr Kind noch gewaltsam zu morden! Ich bitte Sie, Fräulein Sibylle, lassen Sie ein Glas Sherry und eine Tasse Bouillon mit Ei heraufbringen! Es ist nichts als Entkräftung durch Mangel an Nahrung, was diese Zustände hervorruft.“ Sibylle ging. „Trinken Sie!“ wandte ich mich barsch an Blanche, als Sibylle das Gewünschte gebracht hatte. Ich hielt ihr Tasse und Glas an die zitternden Lippen, da die vibrirenden Hände der unglücklichen Frau den Inhalt zum Theil schon verschüttet hatten.

Sie that Alles, was man von ihr verlangte, mit der rührenden Geduld, dem demüthigen Gehorsam eines verschüchterten Kindes, und ich machte Sibyllen verantwortlich dafür, durch stündliche Nahrung zu sorgen, daß ihre Kräfte sich wieder belebten. Keine Silbe aber kam über Blanche’s Lippen. Nur als ich, bevor ich fortging, bemerkte, Sibylle müsse dafür sorgen, daß bis zum Abend ein Geständniß möglich werde, weil auf den darauffolgenden Tag die Bestattung angesetzt worden, fuhr sie vom Sopha auf, und ich mußte mich gewaltsam verhärten gegen das rührende Flehen dieser Kinderaugen.

Wie uns die langen Stunden bis zum nächsten Tage vergingen, wie wir sie vielmehr hinschleppten, ein düsterstummes Trio in dem dunklen Arbeitszimmer des Commandanten – ich weiß es kaum selbst mehr. Die nervöse Aufregung jagte den armen Oberst rastlos hin und her. Kein Schlaf kam mehr in seine Augen. Sein Gefühl für Rechtschaffenheit und Ehre litt furchtbar. Wie sehr er forschte, es fand sich in den Papieren seines Schwiegersohnes nicht ein Atom, das die grauenhafte That seines Kindes widerlegt hätte.

Wir schrieben den ersten Juli. Am zweiten sollte die Leiche der Gruft übergeben werden. Der Tag war erstickend heiß gewesen, und gegen Abend nahm die beklemmende Schwüle zu. Rothe Gewitterwolken warfen eine unheimliche Beleuchtung ringsumher. Die Sonne kämpfte mit der sie verdunkelnden Luftschicht noch einmal um die Herrschaft, die Strahlen aber, die sie in’s Arbeitszimmer sandte, waren von einer eigenthümlich gespensterhaften Wirkung auf unsere erregten Nerven. Da – umflossen von dem grellen gelben Licht, stand ungerufen Blanche’s wankende Gestalt, von Sibyllens Armen aufrecht gehalten, im Zimmer.

Wie unsäglich schön kam mir in diesem Augenblicke Sibylle, das große starke Mädchen, vor, das sonst so strenge Gesicht durch engelhaft mildes Erbarmen verklärt! Wie ein kleines Kind nahm sie die hülflose junge Frau in ihre starken Arme und trug sie bis zu den Füßen ihres Vaters, der schaudernd beide Hände vor das Gesicht schlug.

„Da ist Ihr Platz – nun sprechen Sie!“ Sibylle zog ihr mit sanfter Gewalt die Hand fort, an die sich die Unglückliche verzweiflungsvoll geklammert hatte.

Draußen brütete immer erdrückender die Gewitterschwüle. Näher und näher grollte der Donner. Jetzt zuckte im falben Zickzack der erste Blitz durch das immer mehr und mehr sich verdunkelnde Zimmer. Zu den Füßen ihres Vaters, als ob sie ihre Seele ausweinen wollte, lag die schluchzende Sünderin.

Und er zog sie nicht an sich in liebendem Erbarmen; er hatte die Hände von dem gramdurchwühlten Gesicht genommen. [237] Bei jedem neuen Blitze starrte er mit vorgeneigtem Oberkörper in dieses geisterhafte Frauengesicht, und seine durchbohrenden Augen schienen ihre Seele ergründen zu wollen.

„Sprich!“

Eine secundenlange Todtenstille! Mein Herz klopfte hörbar.

„Vater! Vater!“

Und wieder nur das unerbittlich harte „Sprich!“

Aus dem weichen Gemüthsmenschen hatten die wenigen Tage einen spartanischen Vater gemacht. Er stieß die flehenden Hände rauh von sich; er hatte auf all’ ihr qualvolles Weinen nur immer dasselbe gebieterische Wort: „Sprich!“ Endlich riß er sie heftig empor.

„Ich gebe Dir fünf Minuten Zeit,“ sagte er eisig, „Du hast zu wählen, ob Du Dich wegen des Mordes Deines Gatten hier vor uns verantworten willst oder morgen vor den Gerichten, denen ich für diesen Fall die Baronin Falkenstein nach zehn Minuten als Gattenmörderin denunciren werde.“

Ihr Aufschrei durchgellte das Gemach. „Ich eine Mörderin?“

„Sprich!“ wiederholte er rauh.

„Papa, Papa, Du kannst es nicht glauben,“ jammerte sie auf. Der nächste Blitzstrahl zeigte sein in unerbittlicher Strenge versteinertes Gesicht. Es war nicht mehr ihr Vater, der, hoch aufgerichtet, in seiner ganzen herrschenden Größe vor ihr stand – es war ein mitleidsloser Richter.

„Eine wahrheitsgetreue Beichte!“ sagte er befehlend, „meine Geduld geht zu Ende.“

„Ich – will – Alles – sagen,“ brachte sie fast unhörbar hervor, und ich führte ein Glas Wein an ihre Lippen, um sie zu kräftigen. Sie schlürfte das Naß, gierig wie ein Verschmachtender, bis auf den letzten Tropfen aus. Dann stützte sie die wankende Gestalt mit dem Rücken an den Kaminmantel und sprach leise:

„Ich habe Bruno Zukits mit der ganzen Schwärmerei eines Mädchenherzens geliebt und mich ihm – was und wer auch immer zwischen uns treten möge – mit heiligen Eiden zugeschworen. Dieses Versprechen forderte er von mir schriftlich, und ich gab es ihm und meine Betheuerungen nie endender Liebe.“ Der Oberst fuhr heftig auf; sie streckte ihm beschwörend ihre Hände entgegen. „Zukits wurde gleich darauf versetzt, und Gerüchte seiner Verlobung mit einem sehr reichen Mädchen in der Residenz drangen zu mir. Du weißt, Papa, wie tief unglücklich ich damals war und wie fest ich mit allen Fasern meines innersten Seins an ihm hing.“ Blanche wankte. Sibylle führte sie zu einem Sessel, und auch der Oberst setzte sich wieder. Er klingelte und ließ Licht bringen.

Die junge Frau hatte den Kopf matt an Sibyllens stützenden Arm gelehnt. Nach einer Weile hob sie unaufgefordet wieder zu sprechen an:

„Ich war damals so hoffnungslos verzweifelt, daß es mir völlig gleichgültig war, was aus mir wurde. Mama beschwor mich unter Thränen, Euch Alle von dem Untergange zu retten, indem ich Falkenstein’s Werbung annahm. Sie rang mir mein Wort ab, ihren überredenden Einfluß auf mich Niemandem, am wenigsten Dir, Papa, zu verrathen. Ich sagte zu Allem Ja. Wie ich mich durch den kurzen Brautstand schleppte oder schleppen ließ, ich weiß es kaum. Mama kannte mich besser, als ich mich selbst; sie wußte den Sinn für Glanz und Luxus am Ende wieder in mir zu wecken. Die trostlose Gleichgültigkeit machte in nicht zu langer Zeit dem fieberhaften Eifer in mir Platz, die eleganteste Salondame zu werden und Alles und Alle durch Schönheit und einen Luxus ohne Grenzen zu überstrahlen. Mein Gemahl setzte dem brennenden Verlangen nichts entgegen. Du weißt, Papa, seine Mittel gestatteten ihm meinen Luxusgelüsten zu willfahren; er fand an meinen Liebhabereien und kindischen Zerstreuungen Wohlgefallen. Ich hätte kein Herz haben müssen, hätte seine stets wache, stets sorgende Liebe mich nicht gerührt. Ich faßte eine Art kindlicher Zuneigung zu diesem edelsten aller Männer, eine Zuneigung, in welcher Hochachtung, Freundschaft und Respect sich so vermischten, daß ich kaum sagen kann, welches Gefühl in meiner Seele die Oberhand gewann.“

„Und diesen Mann konntest Du – –, diesen Mann, dem Du selbst zugestehen mußt, daß er jedes Menschen höchste Achtung und Liebe verdiene?“ sagte der Oberst vorwurfsvoll.

Sie ließ den Kopf trostlos auf die Brust sinken; die Hände fielen ihr schlaff in den Schooß.

„Ich habe auf den Knieen gelegen und zu Gott gebetet – umsonst! Wie ein Wirbelwind, gegen den ich vergeblich meine schwachen Kräfte anstemmte, fühlte ich mich fortgerissen, fortgerissen bis – bis – sie bedeckte stöhnend ihre Augen.

„Bis in’s Verbrechen. Die sündige Leidenschaft hat Alles in Deiner Brust niedergetreten, was meine Hände der jungen Seele einst eingeimpft. Pfui über diese Erbärmlichkeit, die sich hinter den Sophismus der unzulangenden Kraft flüchten möchte! Pfui, pfui, Elende! – Ich habe keine Tochter mehr.“

„Halt ein, Vater! Erbarmen! Laß mich vollenden, ehe Du mich verdammst! Was klagst Du mich der sündigen Leidenschaft an? Beschuldige mich lieber der feigen, erbärmlichen Furcht! Sie hat mich fortgerissen, bis ich mich selbst nicht mehr kannte. Statt mich dem besten der Männer zu Füßen zu werfen und ihn um seinen Schutz gegen den Fürchterlichen anzuflehen, griff ich zur Selbsthülfe, die uns nun Alle in’s Verderben stürzt. Bald nach meiner Verheirathung erfuhr ich, daß Zukits’s Verlöbniß sich wieder gelöst. Der Frau entschleierten ‚gute Freunde‘ die Lebensweise Zukits’s, eine Lebensweise, deren Schilderung man dem keuschen Ohre des Mädchens vorenthalten. Verachtung verscheuchte den letzten Rest der Trauer um Den, der in meiner Erinnerung als theurer Todter gelebt hatte. Vollständige Gleichgültigkeit löschte in den letzten Jahren ganz sein Bild in mir aus. Da stand er vor ein paar Tagen hier im Parke vor mir – er lag zu meinen Füßen.“

„Der Unverschämte!“ brauste der Oberst auf.

„Ich weiß nicht,“ sagte sie sanft, „war ich mehr empört oder zu Tode erschrocken, als ich den Mann in der verwahrlosten Kleidung, wie dem Erdboden entstiegen, auf einmal vor mir sah. Ich gebot ihm aufzustehen. Er gehorchte nicht. Er wollte vor mir liegen, bis ich versprochen, das gegebene Wort zu lösen. Dies zu fordern sei er da.

‚Welches Wort?‘ fragte ich verwundert. Das Wort: ihm zu folgen, antwortete er mir, zu folgen bis an das Ende der Welt, sein zu werden gegen alle Satzungen und Gebote, gegen die heiligsten selbst und trotz der Rechte, die man an mich geltend machen könne, mit ihm zu fliehen in die weite Welt vor den Menschen und ihren Gesetzen.

Ich lachte ihm in’s Gesicht und sagte ihm, daß seine Untreue den Pact null und nichtig gemacht, daß überdem die albernen Schwüre, von Blanche Waldow geschrieben, keine Gültigkeit mehr hätten, da deren Erfüllung sich bei der Baronin Falkenstein ja selbstverständlich verböte. Er stand plötzlich drohend auf seinen Füßen. Sein böses, leidenschaftliches Gesicht sah verzweifelt entschlossen aus; sein heißer Athem wehte mich an.

‚Die Briefe tragen kein Datum,‘ sagte er frech. ‚Die gewohnte Mädchennachlässigkeit trägt mir den Vortheil ein, daß ich vorgeben könnte, die Baronin Falkenstein habe sie mir – nehmen wir an: vorige Woche – geschrieben.‘

Ich stand wie versteinert vor so unerhörter Frechheit.

‚Ich werde den Commandanten rufen,‘ brachte ich endlich fassungslos heraus.

‚Thun Sie das, meine Gnädigste! Der Herr Gemahl wird das Geschenk dieser werthvollen Episteln ohne Zweifel hocherfreut entgegen nehmen.‘

‚Er wird seinem Weibe mehr Glauben schenken, als –‘

‚Diesen überzeugenden Worten schwarz auf weiß,‘ meinte er spöttisch. ‚Sie haben mir vor Jahren liebenswürdiger Weise Blanco Vollmacht gelassen. Ich habe mir die Erlaubniß genommen, Datum und Unterschrift zu vervollständigen. Sehen Sie her, meine Gnädigste, und gestehen Sie ein, daß das Facsimile mir doch ziemlich gut gelungen ist!‘

Sprachlos starrte ich auf den offenen Brief, den er mir hinhielt. Ich selbst hätte geschworen, daß das Datum, 25. Juli 18– und das F. F. neben dem B., von meiner eigenen Hand waren. Ich war wie von Sinnen vor Schreck. Ich glaube, ich legte mich auf's Bitten. Er hörte mich noch eine ganze Weile geduldig an. Dann sagte er mit frivoler Bewunderung:

‚Wie schön Sie geworden sind, Blanche! So viel entzückende Reize an einen Greis fortgeworfen! Das darf ich nicht zugeben.‘ Als ich mich mit einer Geberde des Abscheues von ihm abwandte, fügte er hinzu:

‚Nur nicht so spröde, tugendsam schöne Frau! Wir kennen die Frauen. Ich liebe Sie noch, oder sagen wir besser: wieder, [238] seit ich Sie zu dieser bezaubernden Blüthe entfaltet sehe. Still!‘ sagte er drohend, und seine verwüsteten Züge wurden noch düsterer. ‚Sie werden mir gern oder ungern angehören, und beleidigt mein Liebesgeflüster Ihr Ohr, so können wir es auch einmal mit der Aufrichtigkeit versuchen. Die wird Sie vielleicht besser von dem Ernste der Sache überzeugen, Baronin.‘

Mir war wie dem Vogel unter dem Blick der Schlange. Ich wäre gern geflohen – aber ich konnte keinen Schritt von der Stelle. Mit dem Rücken lehnte ich gegen den Baum und athmete schnell und beklommen. Er sprach hastig, wie Jemand, der über eine Fatalität möglichst schnell fortgehen will. Ich glaube, in diesem Augenblicke schämte er sich seiner tiefen Gesunkenheit, denn sein Auge suchte scheu den Boden.

‚Sie sollen klar sehen, Blanche,‘ sagte er. ‚Ich bin elender als ein Bettler. Ich werde steckbrieflich verfolgt wegen – wegen einiger kleiner Manipulationen, die unglücklich ausgefallen sind. Aber ich will nicht untergehen,‘ – er biß die blitzenden Zähne knirschend zusammen. ‚Ich war leichtsinnig; ich bin nicht absolut schlecht. Ich will nicht lechzen müssen nach Genüssen, für die ich meiner Seele Seligkeit bereits geopfert. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Vorwärts denn, vorwärts mit Dir, Blanche!‘

‚Und was kann ich dabei thun?‘ brachte ich, am ganzen Leibe zitternd, hervor.

‚Mein sein!‘

Ich glaube, er las den Abscheu auf meinem Gesicht. ‚Ich bin keine Goldprägemaschine,‘ sagte ich verächtlich.

‚Gar nicht nöthig, mein Täubchen!‘ – er schlug immer mehr zu dem Ton cynischen Spottes an – ‚Du bist reich genug, um uns ein paar Jahre in tollem Jubel dahintreiben zu lassen. Wisse, nur Dein Reichthum bewahrt mich vor dem Zuchthaus! Glaubst Du noch, daß ich diese gefälligen Briefe nicht als Pression bis zum Aeußersten ausnützen werde?‘

‚Man kommt,‘ flüsterte ich voll Todesangst.

‚Gut, ich erwarte Dich hier morgen Abend,‘ sagte er entschlossen, und dann ging er. Er schritt Ihnen gerade entgegen, Sibylle,“ sagte sie nach einer kurzen Pause und wandte der Angeredeten das Gesicht zu, „denn Sie kamen durch die Allee auf uns zugeschritten. Sie sahen ihn aufmerksam an.

Einen Moment später, Sibylle, stand ich vor Ihnen und stammelte etwas von einem reisenden Maler, als Sie mich gleich darauf fragten, wer der Fremde sei. An dem eigenthümlichen Blicke, den Sie mir zuwarfen, sah ich, daß Sie mir nicht glaubten. Welch eine Nacht, welch einen Tag hab’ ich darauf verbracht! Tausend Pläne, mich des Fürchterlichen zu erwehren, durchkreuzten mein Hirn. Bald wollte ich meinem Manne, bald Dir, Vater,“ – ihr Blick richtete sich wieder auf den Oberst – „Alles gestehen, aber die feige Furcht drängte den Gedanken zurück. Zukits’s sichere Hand war berühmt. Ich hätte für Euer Leben zittern müssen. Ich kannte meines Mannes und Deine Gesinnung ja zu gut. Ein Duell wäre unvermeidlich geblieben. Ich raffte alle Juwelen, alles Geld zusammen, das sich in meiner Schatulle fand. Vielleicht ließ er sich um diesen Preis bewegen zu gehen. Vielleicht verkaufte er mir dafür meine Briefe. Ich wollte es wenigstens nicht unversucht lassen.“

Blanche schwieg einen Moment. Dann sagte sie, zu Sibylle gewandt: „Den ganzen Tag fühlte ich Ihre beobachtenden Blicke auf mir. Der Nachmittag kam, der Abend auch; es war, als hätten Sie sich mir zur Wache gestellt. Die Hauptausgänge blieben mir dadurch versperrt. Von ferne sah ich Zukits um das Schloß irren. Mir wurde todesangst. Ich entschlüpfte durch die geheime Pforte und eilte zum Platz des Stelldichein. Er erwartete mich dort mit Ungeduld, zürnend, grollend, und ich hatte ihm kaum das Päckchen mit Pretiosen und Gold in die Hand drücken können – da raschelten die Zweige, und Sie, Sibylle, traten auf die in Mondschein gebadete Lichtung.

‚Excellenz schicken mich; sie wünschen zu soupiren und erwarten Euer Gnaden,‘ sagten Sie, und ich hörte den strengen Tadel aus der höflichen Stimme heraus. Sie verbeugten sich und traten, respectvoll wartend, einige Schritte zurück, aber Sie blieben doch so nahe, daß wir kein Wort mehr wechseln konnten.

‚Ich denke, Sie haben jetzt Ihren Zweck hier erreicht; wollen Sie mir die fraglichen Skizzen nun überlassen?‘ redete ich Zukits an, mich zu verzweifelndem Muthe aufraffend.

‚Sie sind mir von großem Werthe, meine gnädige Frau,‘ gab er geschmeidig mit gutgespielter Unterwürfigkeit zurück, ‚gestatten Sie nur erst zu untersuchen, ob der Kaufpreis im Verhältnisse zu denselben steht!‘

‚Es ist das Aeußerste, was ich dafür zu bieten habe. Reicht es nicht aus, müßte ich an die Großmuth des Commandanten appelliren, die er mir sicherlich nicht versagen wird,‘ sagte ich entschlossen, ‚die hiesige Luft dürfte Ihnen übrigens schlecht bekommen. Man sagt, daß Festungsluft Leuten von Ihrer Constitution gefährlich werden kann. Ich wünsche Ihnen daher glückliche Reise.‘

Er war furchtbar bleich geworden. Ich sah, ich hatte ihn durch diese Drohung – meine letzte Waffe – nun meinerseits einzuschüchtern verstanden. Er hatte die kleine ängstliche, schreck- und zaghafte Blanche von damals zu finden erwartet. Das entschlossene Weib imponirte ihm ohne Zweifel, denn er verbeugte sich bis zum Boden, als ich stolz an ihm vorüberschritt und Ihnen, Sibylle, zuwinkte, mir zu folgen.

Wir gingen ein paar Augenblicke stillschweigend neben einander. Ich zermarterte mein Hirn, wie eine passende Erklärung der Dienerin gegenüber einzukleiden sei, die mich bereits zwei Mal in jener abenteuerlichen Gesellschaft überrascht hatte. Sie wissen, Sibylle, daß ich mich zu einem unbefangenen Tone zwang, als ich die flüchtige Bemerkung schnell hinwarf: Die Kunst scheine heute nach Brod zu gehen, da jener unheimliche Gesell, der sich einen reisenden Maler nenne, mich wiederholt um eine Gabe angesprochen.

‚Ist Herr von Zukits bereits so weit heruntergekommen?‘ meinten Sie gelassen und dann gingen Sie ruhig weiter, als sähen Sie nichts von meinem tödtlichen Erschrecken. Es sollte noch ärger kommen. In dem geheimen Gange stand mein Mann und hielt den grünen Vorhang für mich offen. Ich war wie vom Blitz getroffen.

‚Gute, treue Seele!‘ sagte er mit seiner gewohnten Milde zu Ihnen, Sibylle, und streichelte Ihnen die Hand – und ebenso sanft zu mir: ‚Komm herein, mein Kind! Die Abenddämpfe könnten Dir Schaden thun,‘ während er mich, die ich halbtodt war, an dem Arme nahm und die Hintertreppe bis zum Speisesaale hinaufführte. Dort nahm er ruhig an der Tafel Platz und verzehrte mit größter Seelenruhe sein Abendbrod. Ich konnte nichts über die Lippen bringen.

‚Du siehst bleich und angegriffen aus, mein Kind,‘ meinte er besorgt. ‚Sag’ mir, Blanche,‘ und er schob plötzlich den Teller bei Seite, ‚ob Du Dich in diesen Jahren nicht ganz unglücklich an meiner Seite gefühlt; sag’ mir, daß Du mir kein allzu großes Opfer gebracht, indem Du Deine blühende Jugend an mein einsames Alter kettetest!‘

Ich lag zu seinen Füßen, ehe er vollenden konnte. O, warum hatte ich nicht eher Vertrauen zu diesem edlen verständigen Greise gefaßt, der die Welt und ihre Irrungen so mildversöhnlich betrachtete!

Er zog mich auf seine Kniee; er streichelte an meinem Haare liebevoll herunter. ‚Und nun wird meine kleine Blanche ja bald für all das Entbehren entschädigt werden. Wer weiß‘ – er sagte es träumerisch – ‚wie lange der greise Baum noch zwischen der frischen Blume und der Sonne steht, wer weiß … Versprich mir Eines, Blanche! Gieb jenen – jenen Menschen, den Zukits, nicht meinem Kinde zum Vater. Still, Kind! Was weinst Du so stürmisch? Es wird Zeit, daß ich heimgehe, um jungem Leben Platz zu machen. Still – ich will nichts wissen. Es wird sich morgen Alles finden. Ich möchte zur Ruhe gehen. Ich wollt’, ich könnte schlafen – ja, recht ruhig schlafen,‘ und dann, als käme ihm ein plötzlicher Einfall, ging er in’s Schlafzimmer, in seines oder meines, und als er zurückkam, forderte er sich ein Glas Chablis von mir, entkorkte ein Fläschchen, das er in der Hand trug, und ließ einige Tropfen in den Wein fallen. Mit einem Zuge leerte er das Glas. Mein Gott, ich weiß jetzt, daß es Gift war, das er getrunken!“

„Sie lügt,“ schrie Sibylle gewaltsam auf und riß ihren Arm ungestüm unter Blanche’s Kopfe fort. „Durch diese falsche Angabe hat sie die ganze rührende Erzählung zu einem feinen Lügengewebe gestempelt – hat sie sich selbst entlarvt. Fink-Falkenstein starb nicht von selbstmörderischer Hand, und es wäre auch gar kein Grund zu diesem Acte der Verzweiflung vorhanden gewesen. Er wußte nichts, absolut nichts, als was ich ihm zu sagen für gut fand. Glaubt Ihr, daß ich die Brandfackel in sein friedliches Leben zu schleudern vermocht hätte, ich, die ich tausend Tode für [239] sein Glück gestorben wäre? Ich that nur, was nothwendig war, um seine Ehre zu bewachen. Ich sagte ihm: der Zukits wäre wieder da und spähe der gnädigen Frau wahrscheinlich in der Absicht nach, von ihrer Gutmüthigkeit Geld zu erpressen. Wir wollten versuchen, eine Begegnung zu verhüten, und ich und er beschlossen bei ihren Promenaden ein wachsames Auge auf sie zu haben, damit der freche Mensch sie nicht behellige. An die versteckte Pforte lockte ich ihn durch die Aussicht, sie dort bei der Rückkehr zu überraschen. Ich dachte, das Gewissen würde ihr schlagen, wenn sie den alten ehrwürdigen Mann da auf der Schwelle ihres heimlichen Sündenweges stehen sähe, und am nächsten Tage wollte ich ihr selbst mahnend in’s Gewissen reden. Der nächste Tag! Mein Gott, möchte wir Menschen uns doch nicht immer mit der Hoffnung auf Zukünftiges vertrösten, sondern den Augenblick benutzen, der noch in unsere Hand gegeben ist!“

[252] Die junge Frau hatte sich mühsam erhoben. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Stuhllehne; die andere hatte sie gegen die Schläfe gepreßt, als müßte sie ihre Gedanken gewaltsam zusammenhalten.

„Ihr glaubt mir nicht,“ klagte sie müde und gleichgültig. „Ich habe Alles gesagt, was ich weiß. Möge denn das Gesetz seinen Lauf nehmen! O mein armer, armer Vater, wenn ich wenigstens Dich überzeugen könnte!“

„Gott wird helfen.“ Er riß sein wankendes Kind heftig aufschluchzend an seine starke Brust und hielt es fest umklammert. „Ich glaube Dir. Gottes Engel müßten selber trügen, wenn Dein Gesicht lügt.“

„Wo blieb die Flasche, von der die Baronin spricht?“ wandte ich mich Sibyllen zu. Sie zuckte die Achseln. In mir kämpften die widerstrebendsten Empfindungen. Rührend, daß es einem durch die Seele schnitt, war der Ausdruck stiller Resignation auf dem jungen Gesicht der unglücklichen Blanche, als sie sagte:

„Die Flasche nahm ich am Tage nach Falkenstein’s heftiger [254] Erkrankung vom Nachttische. Mir ahnte, daß ihr giftiger Inhalt seinen Zustand herbeigeführt, daß er sterben wollte, weil er mich untreu glaubte. Den Gedanken ertrug ich nicht. Wenn alle Welt mit Fingern auf mich wiese und mich des moralischen Gattenmordes anzuklagen kam! Ich flüchtete mit dem Fläschchen in mein eigenes Schlafzimmer, warf es in die tiefste Ecke des Schubfaches und verschloß dasselbe doppelt; den Schlüssel steckte ich zu mir.“

„Und wie kam Belladonna in Ihre Hände? Wie konnten Sie sich das tödtliche Gift verschaffen?“ fragte ich strenge.

„Muß auch das gesagt werden?“

„Ja.“

„Die Zeit liegt so weit hinter mir,“ sagte Blanche erröthend, „daß sie mir wie ein gaukelnder Traum vorkommt. O, wie furchtbar ernst, wie schwer ist das Leben! Wie ist es möglich, es zu vertändeln, wie ich es kürzlich noch gethan! Meine Eitelkeit hat Fürchterliches herbeigeführt. Ich galt – Ihr wißt es – für die schönste Frau unseres Kreises. Da kam nach längerer Abwesenheit der Adjutant meines Mannes mit einer jungen Frau heim. Sie war weniger regelmäßig gebildet als ich, aber sie hatte ein paar Augen, die alle Welt entzückten. Ich sah beleidigt, empört, zum Aeußersten gereizt, all meine Bewunderer zu meinem Feinde übergehen. Für eine Frau, die nur der Welt lebt“ – sie sprach es schamhaft zögernd und tief niedergeschlagen – „kommt das einem socialen Todesurtheile gleich. Ich zermarterte mein Hirn, wie diesem Mangel der Natur abzuhelfen sei, und mein Unstern spielte mir ein Buch über orientalische Frauen und ihre Schönheitsmittel, besonders über die Anwendung von Belladonna zur Vergrößerung der Pupille, in die Hände. Ein fieberhaftes Verlangen nach dem Besitze dieses Mittels erfaßte mich. In G. war ich zu bekannt, um den Versuch zu wagen. Ich benutzte daher den nächsten Ausflug in unsere Provinzhauptstadt dazu. Und leider ist es mir nach mehrfachem Mißerfolge geglückt, in einer Apotheke einen Provisor durch reiche Entschädigung zur Ueberlassung eines Fläschchens Belladonna zu überreden.“

Sie sank erschöpft zurück. Der Oberst nahm sie in die Arme und legte sie sanft auf ein Sopha nieder. Sie schloß die Augen und lag still und regungslos eine lange Weile.

„Oberst,“ wandte ich mich dem von Aufregung ermatteten Vater zu, „Sie müssen sich Ruhe gönnen!“

„Ich glaube, es macht mich noch wahnsinnig,“ murmelte er dumpf. „So wahr ich an Gott glaube, sie ist unschuldig, und Sie behaupten doch, daß er an Gift starb?“

„So wahr[2] ich an Gott glaube,“ wiederholte ich feierlich.

„Alles Nacht und Dunkel,“ sagte er in äußerster Verzweiflung, „ein undurchdringliches Geheimniß, das für mich nur ein Lichtpunkt durchstrahlt: mein Kind ist es nicht, das den Frevel beging.“

Ich hatte den Oberst auf eines der Ruhebetten niedergezwungen und ihm ein paar Tropfen Morphium gegeben, um seine Nerven zur Ruhe zu bringen. Dann winkte ich Sibyllen, und wir traten auf die Veranda hinaus. Das Unwetter hatte inzwischen ausgetobt. Die Sonne trat im Untergehen noch einmal hervor. Sie entlockte dem feuchten Erdreich und dem Blumenflor ein Meer von Duft. Wir stiegen langsam die Steinstufen herab.

„Nicht da hinunter!“ warnte Sibylle, als ich mich, den vom Gewitterregen aufgeweichten Erdboden nicht beachtend, dem Parke zuwenden wollte, „lassen Sie uns in den Obstgarten gehen! Dort sind die Wege mit Kies bestreut und daher viel passirbarer.“

Wir gingen in ernstem Gespräch langsam um das Haus herum und mußten den Küchengarten passiren. Plötzlich stehe ich wie gefesselt still. Der Platz kommt mir nicht fremd vor, und doch weiß ich, ich habe ihn noch nie betreten. Habe ich ihn im Traum gesehen? Nein, jetzt weiß ich’s. In der Todesnacht des Commandanten hab’ ich vom Bogenfenster der Treppe aus diese Partie des Gartens im Mondschein gesehen. Bleichgelbe Blumen, die eine schöne Aehre bilden, mit dunkelpurpurnen, unten rothbraunen Adern, wuchsen in großer Menge darauf. Ich weiß nicht, welch’ segensvoller Impuls mich jetzt diesen Gewächsen näher treten hieß; unwillkürlich beugte ich mich herab und unterwarf die widerlich betäubend riechende Blume einer genaueren Prüfung. Ich brach eine der Pflanzen ab und betrachtete mir sinnend und nachdenklich den ästigen, etwas klebrigen, zwei bis drei Fuß hohen Stengel und die lanzettförmigen Blätter, die abwechselnd darum standen, gekrümmte, schmutzig-grüne, wollige Blätter mit weißen Haaren, wie der Haushofmeister in jener denkwürdigen Nacht eines von meinem Aermel gebürstet hatte.

„Sibylle!“ Ich brachte es athemlos kaum hervor; in mir begann es ahnend zu tagen, – „kommen Sie, die Sie eine gute Botanikerin sein sollen, meinem Gedächtniß zu Hülfe! Sagen Sie mir, ist das nicht Hyoscyamus niger?“

„Ja, schwarzes Bilsenkraut,“ bestätigte sie verwundert.

„Licht!“ – Ich mag es förmlich hinausgeschrieen haben. Sie starrte mich an, als wäre ich von Sinnen.

Ich beugte mich nieder und suchte. – Ich hatte nach einer halben Secunde den kostbaren Fund gethan. Wie der Staatsanwalt seine Anklage auf Combinationen weiter baut, so hatte ich mit dem einen Lichtpunkte divinatorisch den Faden weiter gesponnen und hob das corpus delicti auf, das Blanche vor öffentlicher Bloßstellung bewahren sollte.

Es war ein kleines Bündel vertrockneten Hyoscyamus niger. Weil es nur halb trocken war, hingen die einzelnen zusammengeschrumpften, bald höher, bald tiefer abgebrochenen Stiele so eng zusammen.

„Triumph, Sibylle! Blanche ist unschuldig.“ Wie eine Siegestrophäe schwang ich das trockne Bündel mir um den Kopf, und dann eilte ich die Allee hinab und stand gleich darauf in der Küche.

„Geht Alle hinaus!“ herrschte ich das Personal an, das wie das aufgescheuchte Federvieh aus seiner gemüthlichen Kaffeesitzung aufgeschreckt war, und nur die Köchin, die sich scheu vorüber drücken wollte, hielt ich am Arme fest und bedeutete sie barsch, zu bleiben. Sibylle war mir gefolgt. In angstvoller Spannung sah sie meinem befremdlichen Treiben zu.

„Fräulein Unruh, ich bitte Sie, dienen Sie meinem Verhör hier zum Zeugen und führen Sie das Protokoll!“

Die Köchin war kreideweiß geworden. Sie hockte auf der Küchenbank nieder und nahm zu dem gewöhnlichen Mittel solcher Leute ihre Zuflucht: sie zog ihre Schürze vor den Mund und fing kläglich zu weinen und zu winseln an.

„Wenn Sie nicht still sind und mir nicht offen und vernünftig antworten, werd’ ich die Polizei gleich herein rufen.“

Das half.

„Wie heißen Sie?“

„Christine Auguste Mertens.“

„Verheirathet oder unverheirathet?“

„Wittwe.“

„Wie alt?“

„Einunddreißig Jahre.“

„Wie lange hier im Dienst?“

„Fünf Monate.“

„Hatten Sie Grund, Ihrem Herrn Böses zuzufügen?“

„Nein, er war ein sehr guter Herr.“

„Warum haben Sie ihn dann durch Bilsenkraut vergiftet?“

Ehe sie leugnen konnte, zog ich das Bündel aus der Tasche und hielt es ihr unter die Augen. Sie wurde um noch einen Schatten bleicher und fuhr erschrocken auf. „Das haben Sie in der Todesnacht Ihres Herrn in der Hand gehabt, als ich Sie fest hielt; Sie haben es dann hinausgetragen und auf den Schutthaufen geworfen, wo das Bilsenkraut wächst.“

Sie sah mich aus großen Augen wahrhaft entsetzt an und machte mir nun schnell umfangreiche Geständnisse, die ich als Resumé hier wiedergebe:

Frau Mertens war eine lebenslustige Wittwe, und da sie am 28. Juli zur Hochzeit gebeten war und vor dem Hochzeitsfest noch einen Gang zu machen hatte, war sie an diesem Abend sehr eilig. Mit den übrigen Dienstboten stand sie nicht allzu gut. Keiner wäre für sie eingetreten, und das Abendbrod für Excellenz brodelte auf dem Feuer und mußte noch tüchtig mit Petersilienwurzel versehen werden, die Excellenz am Hühnerfricassée besonders liebte. Da, wie der Retter in der Noth, kommt Gretchen, Frau Mertens’ siebenjährige Tochter, um die Mutter zu besuchen, aus der Stadt hinauf.

„Lauf ’mal hinaus und hol’ eine Hand voll Petersilie! Gleich vorn auf dem Erdhügel, weißt Du? Reiß’ die Wurzel mit aus und komm’, was Du laufen kannst! – Ich hab noch schnell einen Gang zu machen. Putz’ die Wurzel hübsch sauber ab, schneid’ sie in den Topf und paß mir auf, daß nichts überkocht oder anbrennt!“ [255] Frau Wittwe Mertens entfernte sich eilfertig. Gretchen empfing sie, als sie heimkehrte, mit einem ängstlichen Gesicht und sagte ihr, daß der Herr Kammerdiener zweimal nach dem Hühnerfricassée gefragt habe. Das Abendbrod war unter Gretchen’s Händen vollendet und jeder Abfall beseitigt worden.

Am Abend vor dem Tode des Commandanten fand die Mertens das Büschel im Abfallkasten zwischen Asche und Knochen. Wer beschreibt ihren Schrecken? Eine fürchterliche Ahnung dämmerte ihr auf. In ihrer Todesangst kannte sie nur das einzige Streben, die Reste des verhängnißvollen Krautes zu entfernen, damit es eventuell nicht gegen sie zeuge. Sie hatte, wie wir wissen, die Blätterstengel wieder an den Ort getragen, von wo Gretchen sie geholt hatte.

Das der Erfolg meines Verhörs.

Inzwischen hatte der Haushofmeister discret angeklopft. Er brachte mir die Botschaft, daß College Vogel da sei und mich bäte, zur Ausfertigung des Todtenscheins mich nach oben zu bemühen.

„Sagen Sie dem Herrn Obermedicinalrath, ich ließe ihn bitten, denselben allein auszustellen, Günther, ich wäre ganz meines Herrn Collegen Meinung.“ Zögernd genug kam’s heraus.

Als wir wieder hinauf kamen, überreichte mir Günther das fertige Document.

„So kann denn in Gottes Namen morgen die Beisetzung erfolgen, Fräulein Sibylle. Sehen Sie“ – ich überlief das Schriftstück schnell – „der Commandant General von Fink-Falkenstein ist am dreißigsten Juni an Magenkatarrh und hinzugetretener Apoplexie gestorben. O weiser Jünger Aesculap’s! Veröffentlichen müßte man es auf allem Gassen. Belassen wir es dabei! Ihr Freund ist todt – Friede seiner Asche! Und jetzt zurück zu den Lebenden! Sie sind eine gottgeweihte Krankenpflegerin und werden bald, wenn mich nicht Alles trügt, Ihren Beruf wieder aufnehmen können.“

„Blanche – die Baronin?“ fragte sie ängstlich.

„Nein, sie wird gesunden und erstarken in guter Luft und veränderter Umgebung, und je eher dies geschieht, um so besser für sie und meinen Freund, in dessen Körper schwere Krankheit sich vorbereitet; ich selbst muß morgen zurück in den Kreis meiner Berufspflichten, aber in Ihnen lasse ich meinen braven, tüchtigen Famulus zurück. In Ihre Hände lege ich vertrauensvoll Ernst Waldow’s Leben.“




In der Gruft der Edlen von Falkenstein ruhte längst der Letzte dieses alten Geschlechts. Jahre waren in’s Land gegangen.

Sibylle Unruh hatte meinen Freund, der, wie ich vorhergesagt, in schwere Krankheit verfallen, gepflegt, unermüdlich, aufopfernd, wie das nun einmal so in ihrer Natur liegt, und dann – dann hatte sie sich selber niedergelegt und war unhörbar und fast ungeahnt aus der Welt geschieden, die für sie nur Dornen gehabt hat. Auf ihrem Grabstein steht über ihr stilles, wirkensreiches Leben zu lesen: „Sie war das bravste Herz unter der Sonne.“ Ich glaube, die Nachtigall, die da im blühenden Syringenbusch ihr zu Häupten schluchzt, weiß, daß es ein wahlverwandtes Wesen ist, das tief da unten den ewigen Schlaf schläft.

Blanche von Falkenstein ist glücklich geworden. Wenige Monate nach dem Tode ihres Gatten genas sie eines Mädchens, das den Namen Sibylle empfing. Die Kleine sollte nicht vaterlos bleiben. In Monaco hatte ein glückliches Geschick die junge Wittwe mit einem Herrn von Treskow zusammengeführt, der seine blühende Frau durch den Tod verloren. Gleicher Schmerz ließ die beiden Herzen sich schnell finden. Unter der Sonne des Südens wurde der Bund geschlossen.

„Er hat sorgenvolle Tage gehabt, und die machen den Menschen nicht fröhlicher,“ schrieb mir Waldow damals über seinen neuen Schwiegersohn; „aber er ist ein echter Mann, ein fleißiger Landwirth, ein redlicher Mensch. Er wird der kleinen Sibylle der Vater sein, den Falkenstein seinem Kinde selber gewählt haben würde. Eine besonders brillante Partie ist er zwar nicht, aber das ist gerade ein Segen für meine kleine flatterhafte Blanche. Der Mensch muß zu thun haben, wenn ihn der eigene regsame Geist nicht vor Verflachung behütet. Das, was man eine Liebesheirath nennt, ist es nicht, aber ich hoffe, es wird eine glückliche Ehe geben.“ – –

Vor ein paar Monaten gab ich dem allgemeinen Bestürmen meiner Freunde am Rheine nach und suchte sie in ihrem romantisch gelegenen Heim auf. Unterwegs schloß sich mir ein junger Maler, Spanier von Geburt, an, und da es ein fröhlicher, geistvoller Gesell war, ließ ich mir die Gesellschaft gern gefallen und benutzte meinen freien Zutritt bei den jungen Treskows, ihm auf ihrer Besitzung ein Nachtlager zu verschaffen.

Wir hatten unser Fuhrwerk am Fuße des Abhanges verlassen, um das wundervolle Landschaftsgemälde im Gehen besser zu genießen. Rüstig schritten wir aus; plötzlich öffnete sich vor uns der Gutshof mit seinem villenartigen Herrenhause.

Unter der rebenumkränzten Säulenveranda war reges Treiben. Ein lebendes Bild in blühendem Rahmen stellte sich da entzückend zusammen. Auf der untersten Treppenstufe saß, ein glückliches Lächeln auf dem holden Antlitz, Blanche von Treskow; sie trug ihr zartes kleines Mädchen auf dem Schooße, welches die Blumen des Frühlings eifrig in die blonden Haare der jungen Mutter steckte.

Blanche war so versunken in Mutterstolz und Mutterglück, daß sie uns gar nicht kommen hörte.

„Madonna, o bella donna!“ rief der junge Spanier hingerissen in entzückender Ueberraschung.

„Still, nie wieder das Wort!“ Ich legte ihm mahnend die Hand auf den Mund. Blanche war aufgefahren, bleich bis in die Lippen. „Nie wieder,“ sagte ich nachdrücklich, „denn es weckt Erinnerungen, über welche kaum die Lethe hingeflossen. Damit Sie aber eine passende Bezeichnung für Ihre ,bella donna’, unsere liebenswürdige Wirthin, finden, mein junger Freund – wir nennen Frau von Treskow nur: Unsere liebe Frau.“

C. L.


  1. Die Namen dieser Schilderung sind ohne Ausnahme fingirte.
  2. Vorlage: 'war'