Textdaten
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Autor: Franz Hedrich
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Titel: Balbina
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–31, S. 417–420, 433–436, 449–452, 465–470, 481–486
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[417]
Balbina.
Sittenbild aus unsern Tagen.
Von Franz Hedrich.
1.

Die Burgsau ist ein lachendes Hochthal, im länglichen Kreise von majestätischen Bergkolossen eingeschlossen. Da, wo das Thal allein einem Fuhrwerke zugänglich ist, an einem steilen Hohlwege liegt der Markt gleichen Namens. Der kleine, allem Weltverkehr entlegene Ort besteht aus lauter hölzernen Häusern, von welchen sich die vornehmsten entweder nur durch die geringere Baufälligleit oder eine größere Fülle primitiver Ornamentik und mehr hingekleckster, als gemalter Heiligenbilder auszeichnen.

Seitwärts auf einer Anhöhe, in der Gestalt einer abgestumpften Pyramide, erhebt sich eine alterthümliche, graue Mauermasse, einer Citadelle vergleichbar und groß genug, um dem ihr zu Füßen liegenden Orte ein solideres Material zum vollständigen Umbaue zu liefern.

Es ist das fürstliche Schloß, ein Ueberbleibsel aus der Feudalzeit, welchem von seiner ehemaligen Herrlichkeit nichts übrig geblieben ist, als der Besitz der Patrimonial-Gerichtsbarkeit, und selbst diese war zur Zeit, da die nachfolgende Geschichte gespielt, ihrem Verscheiden schon sehr nahe.

Der Fürst, kein Freund eines idyllischen Gebirgsaufenthaltes, hatte, obgleich er schon seit dreißig Jahren Majoratsherr war, seine schöne Herrschaft Burgsau noch nie betreten und auch nur selten seinen übrigen Schlössern die Ehre seines Besuches erzeigt, da er sich nur in dem Luxus der Weltstädte behaglich fühlte. Sein Hofrath, Herr von Zintner, schaltete und waltete diese ganze lange Zeit über als oberster Verwaltungschef und Gerichtsherr, so daß sich die Bevölkerung daran gewöhnt hatte, den Stellvertreter des Fürsten gewissermaßen als den regierenden Herrn anzusehen.

Der Hofrath, bereits ein Siebenziger, war ein feiner, ästhetischer Epikuräer: Wohlleben war für ihn das höchste menschliche Ideal, welches er aber auch vollständig erreichte. Geschäftssorgen kannte er nicht, er ließ Alles beim Alten und seine Berufspflichten waren damit erfüllt, daß er die Maschine durch die nöthige Zahl von Unterbeamten im Gange erhielt und zu Zeiten eine seiner Mußestunden opferte, um eingelaufene Gesuche, die unmöglich länger aufzuschieben waren, zu erledigen und angeklagte Unterthanen zu verhören und zu richten.

Dieser bureaukratische und richterliche Theil der Stellung war derjenige, welcher dem Hofrath am schwersten fiel, nicht weil er ihn mit Arbeiten überbürdete, sondern weil der gestrenge Herr für die bagatellmäßigen Anliegen der Bauern gar kein Verständniß hatte und im Gefühle seiner Vornehmheit und seines Ranges fast die Berührung mit dieser schlichten Menschenclasse scheute. In einer Gegend, deren Bevölkerung das vollkommenste Still- und Gewohnheitsleben führte und in ihrem primitiven Zustande nächst Gott den Pfarrer und den Hofrath als die höchsten Wesen verehrte, gab es wahrlich keinen Luxus von Streit- und Justizfällen, welche überhaupt nicht in der Abgeschlossenheit der Berge, sondern da, wo reger Handel und Verkehr ist, ihren fruchtbaren Boden haben. Hier in der Burgsau ging man nur selten und nur nothgedrungen zu Gericht, und was da vorkam, bewegte sich in dem alltäglichsten Geleise, gerade wie das einfache und anspruchslose Gebirgsleben der Bewohner, ohne die Obrigkeit zu belästigen oder in besonderem Maße geistig anzustrengen.

Der Himmel weiß aber, wie der Hofrath mit diesem Theil seiner Amtspflichten fertig geworden wäre, wenn ihm das Schicksal nicht in der Person seines Gerichtsdieners einen Mann an die Seite gestellt hätte, welcher seine Gensd’armerie, sein Instructionsrichter, sein Staatsanwalt, seine Jury, sein Strafvollstrecker, oft Alles gleichzeitig bei einem und demselben Gerichtsfalle war.

Dieser Mann hieß Grüneisen und war ein alter, ausgedienter Corporal von dürrer Mittelgestalt, einem ordinären, aber biedermännischen Gesichte, welchem der borstige Schnurrbart, die buschigen Augenbrauen und die zerrauft über die Ohren herabhängenden Büschel, welche sein Kopfhaar vorstellten, einen Ausdruck von Wildheit verliehen. Er war auch ein Choleriker, aber streng rechtlich und gerecht, insoweit Heftigkeit und eine nicht geringe Beschränktheit, wie die seinige, jederzeit gerecht sein können. Seinen messingbeschlagenen Stock, den er beständig schwang und zwischen den Händen drehte, schien er sich von seiner militärischen Vergangenheit her als organischen Bestandtheil seines Wesens angeeignet zu haben.

Es war ein heißer Julitag. Der Hofrath hatte sich bequemt, wieder einmal im Gerichtssaale zu erscheinen. Seit frühem Morgen hatte er sich geplagt und auch die Streithändel einer bedeutenden Anzahl von Parteien entschieden. Mittagszeit war vom Kirchthurm längst verkündigt worden, aber es war ihm noch immer nicht vergönnt, sich in die liebliche Stille seiner Gemächer zurückzuziehen, denn es war noch der peinlichste Rest der Gerichtssession, mehrere Erkenntnisse rein strafrechtlicher Natur zu Ende zu führen.

Ein Handwerksbursche, der es gewagt hatte, mit einem abgelaufenen Wanderbuche in der Fremde zu existiren, sollte in seinem wilden Freiheitslaufe noch auf die Bahn der Polizeiordnung [418] zurückgebracht werden; ein Knecht, welcher, der Vorschrift entgegen, einen Abhang ohne Radschuh hinabgefahren war, mußte für die mißkannte Fürsorge der Obrigkeit, welche nur seinem eigenen Halse und seinen eigenen Knochen gegolten, exemplarisch bestraft werden, und endlich war noch eine Verbrecherin da, ein altes Weib, welches im herrschaftlichen Walde eine Schürze voll Laubstreu gesammelt hatte, um der Hausziege ein weiches Lager zu bereiten.

Als auch diese aufregungsreichen Verhandlungen mit des Himmels und Grüneisen’s Hülfe überstanden waren, schloß der Hofrath die Schubläden seines Secretairs für längere Zeit wieder zu und warf sich, nur Grüneisen’s Rückkehr erwartend, der die Waldfrevlerin escortirt hatte, in den weiten Lehnstuhl. Sein glatt rasirtes, wohlerhaltenes und wohlgeformtes Gesicht und seine nicht dicke, doch abgerundete Gestalt verriethen eine eigenthümliche Verweichlichung; indeß blieb es nicht räthselhaft, warum der alte Herr den ganzen Tag lang fahren, jagen und bis in die späte Nacht tafeln konnte, aber der geringsten ernsten Arbeit erlag. Stirn, Wangen bis an’s Kinn hinab waren mit Runzeln bedeckt, doch hinter jeder derselben schien schmunzelndes Wohlbehagen zu lagern.

Die Thür that sich nach ein paar Minuten auf, Grüneisen erschien. Der Hofrath erhob sich wie auf ein Signal zur Mittagstafel.

„Euer Gnaden,“ sprach Grüneisen eintretend mit sehr verdrießlicher Miene, „wir sind noch nicht fertig –“

„Was?“ rief der Hofrath zusammenfahrend.

„Eine Partei wartet noch draußen,“ fuhr der Gerichtsdiener fort, „eigentlich gesagt, zwei.“

„Daraus kann nichts werden,“ rief der Hofrath im vollsten Schrecken und wollte aus dem Gerichtssaale fliehen.

„Euer Gnaden haben zu befehlen,“ sprach Grüneisen mit scheinbarer Ergebung, „aber dann werden wir die Leute jeden Tag auf dem Halse haben; es sind Brautleute und die haben es sehr dringend.“

„Wer ist es denn?“ fragte der Hofrath sehr desperat.

„Der Stegwirth und Leonhard vom Unteranger,“ begann Grüneisen, als ihm der Hofrath schon dazwischenfuhr, indem er ausrief:

„Die haben ja bereits ihre Heirathsbewilligung, womit kommen sie denn noch? um mich todtzuplagen?“

„Ich weiß nicht,“ brummte Grüneisen, welcher es wirklich nicht wußte, aber doch die Audienz zu Stande bringen wollte, nicht aus Amtseifer, sondern aus Rücksicht auf den Stegwirth, bei welchem er des Jahres manches Gläschen Bier und Schnaps unentgeltlich leerte. „Etwas wegen Grundstücken, so habe ich halb und halb gehört; die Leute haben sich so rasend lieb und wollen sich vermuthlich noch Etwas zuschreiben.“

„Die Angelegenheit hat mir schon so viel Mühe gemacht,“ sprach der Hofrath, die Stirn reibend, „doch weiß ich nicht mehr, wen die beiden Burschen heirathen! Helf’ Er meinem Gedächtniß ein Bischen auf die Beine!“

„Na,“ erwiderte Grüneisen, „der Stegwirlh nimmt die Balbina vom Oberanger, das schönste Mädchen im ganzen Pfarrbezirk, und Leonhard nimmt die Brigitte, die Tochter vom Stegbauer, über die sich nur sagen läßt, daß sie nicht übel ist und eine eben so schöne Aussteuer hat, wie die Andere.“

„Richtig, richtig,“ murmelte der Hofrath.

„Da dächt’ ich nun,“ fügte Grüneisen wärmer hinzu, „Euer Gnaden sollten die Leute doch vorlassen, damit die Sache in Ordnung kommt; sie haben sich so lieb und haben eine höllische Mühe gehabt, ehe sie es so weit gebracht haben!“

„Ich sehe,“ versetzte der Hofrath einlenkend, „daß ich doch nicht früher zum Mittagstisch komme! Also schnell herein mit ihnen, aber, hör’ Er, wir wollen es kurz machen, recht kurz!“

Er nahm seinen Richterstuhl wieder ein. Der Gerichtsdiener ging, mit seinem Erfolge zufrieden, an die Thür und rief laut, nachdem er geöffnet:

„Ihr dürft hereinkommen, aber müßt Euch kurz fassen, sonst kommt unser gnädigster Herr vor lauter Verhören heute nicht zum Mittagsessen!“

Die beiden Brautpaare traten mit dem gedrückten Ernst, der den Bauern in der Kirche und im Amtssaale eigen ist, ein. Die Mädchen blieben dicht an der Thür, die Männer hatten sich kaum zwei Schritte weiter vorgewagt. Der Anzug Aller bezeugte, daß sie aus wohlhabenden Häusern waren. Die beiden Männer, ungefähr dreißig Jahre alt, hatten schwarze Sammtjacken mit dicken Seidenschnüren und funkelnagelneue Filzhüte mit schweren, echten Goldtroddeln, die Mädchen waren gleichfalls im Sonntagsstaate, sie trugen seidene Jacken, weite Schürzen von schwerster Seide, Hauben von Golddraht, der Hals war mit Perlenschnüren und Goldmünzen überladen.

Der Hofrath war plötzlich aufgestanden und näher gekommen. Seine Mienen waren die freundlichsten, doch war es nicht herablassendes Entgegenkommen gegen die schüchternen Unterthanen, sondern eine Folge der Anziehungskraft, welche Balbina’s hohe, reizende Gestalt und ihr madonnenähnliches Gesicht auf den hochbetagten Kenner weiblicher Reize ausgeübt hatten.

„Was giebt es noch immer?“ redete der Hofrath die Leute überaus leutselig an. „Ich hätte geglaubt, daß Ihr Euere kirchlichen Aufbietungen schon längst gehabt habt!“

„Wir haben es ganz verkehrt angefangen, Euer Gnaden,“ erwiderte der Stegwirth, ein unansehnliches Männchen, mit einem gewissen Humor, „und kommen auch deshalb, um zu bitten, daß Sie es, Euer Gnaden, mit ein paar Federstrichen wieder repariren!“

„Was denn, was denn?“ fragte der Hofrath, der in dem Gesagten keinen Sinn fand, stutzig.

„Ich muß nämlich Leonhard’s Mädchen, die Brigitta, heirathen,“ fuhr der Stegwirth fort, „und Leonhard die meinige.“

„Macht Er Spaß oder ist Er verrückt?“ rief der Hofrath, Grüneisen, der hinter ihm stand, einen Blick größter Verwunderung zuwerfend.

„Kein Spaß!“ versetzte der Stegwirth sehr ernst. „Wie würde sich unser Einer erfrechen, vor Euer Gnaden einen Spaß zu machen! Es ist so. Ich muß die seinige und er die meinige kriegen, und so hätte es von allem Anfang an gekommen sein sollen, damit Euer Gnaden selbst die kleine Mühe erspart worden wäre, welche es kostet, um in unseren Heirathsgesuchen die Namen der beiden Mädchen umzuschreiben.“

Er zog bei den Worten die betreffenden Papiere aus dem Innern der Jacke hervor.

Leonhard, ein bildschöner Mann von sehr hoher Gestalt, der bisher mit eigenthümlicher Apathie dagestanden hatte, rührte sich in dem Augenblicke und zog gleichfalls seine Papiere hervor.

Die Mädchen blickten stumm und reglos, wie bisher, vor sich auf den Boden. Diese Haltung aller Vier verrieth offenbar das vollkommenste Einverständniß.

„Wenn ich Euch nicht so vor mir dastehen sehen würde,“ sprach der Hofrath, die Hände zusammenschlagend, „so würd’ ich glauben, daß ich falsch und ganz unrecht gehört habe! Jetzt versteh’ ich erst, was Ihr verkehrt angefangen heißt! Das ist doch – aber ich fahre schon darüber so auf, ehe ich noch weiß, was Euch dazu gebracht hat! Die Gründe! die Gründe! –“

„Sie haben es errathen, gnädigster Herr,“ versetzte darauf der Stegwirth rasch und erfreut, „und darum werden Sie uns gewiß Recht geben. Ja, die Gründe! Ganz recht, deswegen geschieht’s! Meine Gründe grenzen gerade an die des Stegbauers, und der Unteranger, der dem Leonhard gehört, und der Oberanger, wo Balbina her ist, hängen aneinander und sind zwei Hälften, die eigentlich ein einziges Stück sein sollen. Der Gründe wegen sind wir für die Kreuzheirath und ich muß die Brigitta heirathen und mein Camerad Leonhard meine frühere Braut Balbina. Dann ist unser Besitzstand schön beisammen und wir sind, wie man im gelehrten Hochdeutsch sagt, ganz und gar arrondirt!“

„Ist Er zu Ende?“ schrie der Hofrath, welchem vor Aufregung die Zähne gegeneinander anstießen und die Hände zitterten.

„Wo hat Er die Unverschämtheit her, einen solchen gemeinen Tauschhandel hier in der fürstlichen Amtsstube vor meinen Augen aufzudecken und mir in’s Gesicht zu sagen, daß ich Euch Recht geben werde? Ihr zeigt einen Stumpfsinn und eine Habgier, daß so Etwas nicht unter den Wilden vorkommen könnte! Aber das scheint Ihr weder zu fühlen, noch zu wissen! Wenn man Euch sieht und hört, glaubt man Klötze, nicht Menschen, vor sich zu haben!“

„Aber ich begreife nicht –“ fing der Stegwirth an, indem er mit stupider Verwunderung seine Genossen anblickte, als ihm der Hofrath das Wort heftig abschnitt.

„Genug!“ rief er. „Ich werde heute vor Aerger keinen Bissen mehr hinabbringen! Und das hätt’ ich mir erspart, wenn ich mir nicht von Grüneisen so viel hätte zureden lassen! Was hat Er mir vorhin vorgeschwätzt?“ wandte er sich an den Gerichtsdiener, der seither mit offenem Munde, vor Ueberraschung starr, dagestanden hatte. „Was soll ich künftighin von Seiner Ansicht und [419] Fürsprache halten, wenn Er versichert, daß sich diese Leute so rasend lieb haben –“

„Ich hab’ es halt so gemeint,“ fuhr Grüneisen in desperater Selbstvertheidigung heraus; „Was, um des Himmel willen, soll der Mensch meinen, da ich doch selbst mit eigenen Augen gesehen habe, daß der Stegwirth alle Hebel angesetzt hat, um die Balbina zu kriegen, die lange Zeit gar nicht darangehen wollte? Was soll der Mensch meinen, wenn er sieht, daß sich Leonhard seit einem Jahre die Füße abläuft, um beim Stegbauer zu hocken; wenn er der Brigitta auf allen Jahrmärkten die theuersten Sachen kauft und zehnmal des Tages am Zaun mit ihr steht? Ja, wenn man das nicht für Liebe halten kann, so müßte man auch einen Hund für keinen Hund halten, wenn man ihn blos sieht und nicht auch bellen hört! Ich hab’ es halt gemeint und das hat auch die ganze Ortschaft gemeint!“

„Habt Ihr denn gar keine Religion?“ wandte sich der Hofrath sehr eindringlich an die Brautpaare. „Habt Ihr in der Kirche nicht oft genug gehört, daß die Ehe ein Bund der Herzen, ein heiliges Sacrament, nicht ein elender Güterschacher ist? Zu Eurer Ehre will ich glauben, daß Ihr in Euch gehen und Euch noch besinnen werdet! Auch der Herr Pfarrer wird –“

„Wir sind schon entschlossen,“ sprang der Stegwirth mit plötzlichem Trotz in’s Wort, „und sind nicht hierher gekommen, um das hohe Gericht zum Narren zu halten. Wir wissen, was wir wollen, und bleiben dabei!“

„Auch kann uns Nichts daran hindern,“ fügte Leonhard, der sich bisher so still verhalten, zur Unterstützung des Stegwirths energisch hinzu. „Uebrigens ist es viel besser, man thut einen solchen Schritt vor der Hochzeit zurück, als man bereut nachher.“

„Du triffst den Nagel – sehr wahr!“ bekräftigte der Stegwirth diese seltsame Logik.

„Ich kann und will Euch nicht mit Gewalt zurückhalten,“ versetzte der Hofrath darauf, „aber Ihr würdet verdienen, daß sich jeder Priester scheue, Euch einzusegnen! Und Du, Balbina!“ er richtete an die Genannte, die hinten wie eine Bildsäule stand, in freundlich zusprechendem Tone das Wort, „Du bist ein so schönes Mädchen! Deine Gesichtszüge sind so sanft und weich, daß man annehmen sollte, daß Du Herz und Gemüth in Dir hast. Deine großen Augen blicken so freundlich und, ich möchte beinahe sagen, so lieb, daß man Gefühl und weibliche Sitte bei Dir vermuthen dürfte. So oft Dich meine Frau in der Kirche sieht, erzählt sie mir mit wahrem Vergnügen, wie Du ihr gefällst und welchen besonderen Anstand Du immer zeigst! Du bist so häuslich, man sieht Dich nicht, wie Andere, bei allen Lustbarkeiten herumtoben, Du lebst nur für die Arbeit und Deine Mutter. Könntest Du das Ansehen, das Du bei allen besseren Leuten mit Recht genießest, so mit Füßen treten und, ohne von der äußersten Noth gedrängt zu sein, eine Heirath eingehen, welche keinen Zweck bat, als die Güter zweier Nachbarn zusammenzulegen? O pfui, das kann ich nicht – das kann ich nicht von Dir glauben!“

Balbina blieb wie ein Stein, ihre Augen hatten weder während der eindringlichen, sympathievollen Anrede des Hofraths, noch nachher den Boden verlassen, auf welchen sie die ganze Zeit über starr und fix geheftet waren.

In Brigitta dagegen, welche wahrscheinlich von den ihrer Mitbraut gespendeten Lobsprüchen gekränkt und verletzt war, erwachte plötzlich Leben, und sie sagte zum Hofrath in sehr lebhaftem und schnippischem Tone:

„Sie ist schon entschlossen, und wir denken da Eine wie die Andere! Ich heirathe den Stegwirth oder will Klosterfrau werden!“

„Dann bin ich mit Euch fertig!“ sprach der Hofrath mürrisch und unwirsch. „Reicht neue Gesuche ein, und wenn das Unglück über Euch kommt, das sich schon vorhersehen läßt, so hab’ ich Euch in letzter Stunde gewarnt und Ihr werdet kein Mitleid verdienen. Geht!“

Die Brautpaare machten auf das Geheiß Kehrtum und waren im Nu draußen.

„Hat man so Etwas erlebt!“ rief der Hofrath, als er mit Grüneisen allein war.

„Wie die Thiere,“ brummte Grüneisen, „wie die Thiere!“

„Was sag’ ich immer über die Bauern?“ fuhr der Hofrath fort. „Meine Frau glaubt, daß ich zu hart und zu lieblos urtheile! Es fehlt an tüchtigen Schulen, und die Kirche allein macht Nichts aus ihnen, Schulunterricht muß mithelfen –“

„Und ein derber Stock,“ fiel der ehemalige Corporal ganz wild in’s Wort. „Euer Gnaden sind zu nachsichtig, zu gnädig, zu fein. In der Armee hab’ ich es gesehen, aus welchen Lumpen der Stock die vortrefflichsten Menschen gemacht hat! Wenn ich der Herr Hofrath wäre, ich würde unter die Bauern dareinfahren, wie unter die Türken! Dann ging’s!“

„Nun, Gott bessre es!“ murmelte der Hofrath mit einem Seufzer. „Ich muß den Vorfall meiner Frau gleich erzählen.“

Er bewegte sich mit großer Eile nach seinen Gemächern.




2.

Der höhere Theil einer mächtigen Halde, welche, mit schönen Hochwiesen und Buchengehölzen bedeckt, ungefähr fünftausend Fuß hoch hinaufsteigt, wo die schroffen Wände des Gebirgskammes die Vegetation nicht mehr aufkommen lassen, heißt der Oberanger, der untere Theil der Unteranger. Ein Fußpfad und ein steiniger Hohlweg, dem trockenen Bette eines Wildbachs ähnlich, beide sehr steil, führen zu Leonhard’s Hofe, eine starke halbe Gehstunde über der Thalsohle gelegen, und von dort, mehr als doppelt so hoch, zu Balbina hinauf. Das Haus der Letzteren ist der höchste Bauernhof im ganzen Kessel der wildromantischen Burgsau, und von dem Markte gleichen Namens dritthalb Stunden weit entfernt.

Zu Mittag, mehrere Tage nach der geschilderten Gerichtssession, als die Sonne der Hundstage mit wahrhaft grausamen Strahlen herabglühte, kam Leonhard von einem Ausgange zurück. Von Weitem schleuderte er schon den Hut von der schweißbedeckten Stirn auf den hölzernen Tisch, der unter einer großen Buche stand, und warf sich selbst auf die Bank daneben, wie wenn ihn die Kräfte in solcher Hitze nicht bis in’s Innere deö Hauses zu tragen vermöchten.

„Hansel, Hansel!“ rief er mit seiner Löwenstimme seinem Stallknecht.

Hansel kam, ein mittelgroßer, dürrer, aber nerviger Mann im besten Alter, von jenem traurigen Phlegma des Ausdrucks und Wesens, welches die Gewohnheit, die niedrigsten Arbeiten zu verrichten, häufig erzeugt.

„Warst Du im Oberanger-Hof?“ fragte ihn der Herr.

„Gleich in aller Frühe,“ versetzte Hansel, „kaum, daß Du mir es angeschafft hast.“

„Wo sind die Papiere?“ fragte Leonhard hastig.

„Die hab’ ich in die Backstube hingelegt,“ war die Antwort.

„Bring’ sie her!“

Als sie Hansel gebracht hatte, griff Leonhard rasch darnach und sah sie durch.

„Dummer Kerl,“ rief er, einen der Bogen in den Händen auseinanderfaltend, „bei dem Gesuche fehlt die Unterschrift! Weßwegen hab’ ich Dich zur Balbina geschickt?“

„Ein dummer Kerl bin ich,“ gab Hansel mit der ruhigsten Ueberzeugung zur Antwort, „aber ich weiß nicht, ob sie unterschrieben hätte, wenn Du einen viel Gescheidteren, als mich, hingeschickt hättest!“

„Schweig, Strohkopf,“ herrschte ihn Leonhard an. „Sie hat auf die Schrift gewartet und gewußt, daß sie sie unterschreiben muß. Du mußt sie aber mit Deinem Zungengedresch ganz irre gemacht haben!“

„Hat sie es gewußt und nicht gethan,“ versetzte Hansel überaus gelassen, „so wird sie am besten wissen, warum, und ich kann da Nichts verdorben haben.“

„Wie hast Du ihr also meinen Auftrag ausgerichtet?“ fragte Leonhard.

„Gar nicht,“ lautete die seltsame Antwort, „kein Sterbenswörtlein habe ich gesagt und kann sie also nicht irre gemacht haben.“

„Da hat man es! Was hab’ ich gesagt?“ rief Leonhard mit einer vor Zorn mißtönenden Stimme, indem er sich wild erhob und auf den Knecht mit geballten Fäusten losstürzte. „Deine Ohren sollt’ ich Dir abreißen, Dummkopf!“

Hansel blieb unbewegt stehen, wie ein Meilenzeiger, wiewohl er nicht wissen konnte, daß die Drohung ohne alle Folgen bleiben werde.

„Was hätt’ ich sagen sollen?“ sagte der Knecht mit seiner vorigen Ruhe. „Was hättest Du gesagt? Sie ist oben am Fenster gestanden und hat mich in den Hof hineintreten sehen. ‚Du bringst gewiß die Papiere,‘ hat sie mir gleich heruntergerufen. Das hat sie sich freilich leicht denken können, denn sie hat gesehen, [420] daß ich sie in der Hand trage. ‚Geh wieder,‘ hat sie in einem Athem gesagt, ‚ich unterschreibe nichts, sag’s zu Hause, ich unterschreibe nichts!‘ Dann ist sie vom Fenster gleich fortgelaufen.“

Leonhard’s Augen zuckten, seine Züge veränderten sich, wie wenn er von einem Schreckensgedanken gefaßt worden wäre, und er stierte stumm vor sich hin.

„Gelt,“ rief Hansel mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, „jetzt kannst Du nichts mehr sagen! Ich habe meine Sache doch ganz gut gemacht.“

Er begab sich wieder in den Stall zurück.

„Hätte sich Balbina anders besonnen?“ murmelte Leonhard, „so wollt’ ich nun an dieser Buche gleich die Stirn einrennen! Nein, nein, sie ist vor Gericht darauf bestanden, ich habe sie erst gestern gesprochen, nein, nein – dahinter wird nichts stecken, als eine kleine, lumpige Ursache!“

Er lehnte sich an einen Baumstamm, und wiewohl er noch in Gedanken versenkt blieb, klärten sich seine Züge wieder auf und nahmen ihren gewöhnlichen Ausdruck heiterer Sorglosigkeit und liebenswürdigen Leichtsinns an.

Er war ein ungewöhnlich schöner Mann von sehr hoher, aber gefälliger Gestalt, ein Bild der Kraft. Ein paar lebenslustige, feurige, dunkle Augen blitzten aus dem jugendfrischen, ebenmäßigen Gesichte einnehmend hervor. Der Teint war männlich gebräunt, die Nase fein und edel gebogen, die Stirn, wie nach dem Vorbild der Antike geformt, mit glänzend schwarzen, gelockten Haaren geschmückt; der Mund schön geschnitten, voll der herrlichsten Zähne, von einem sich kräuselnden Schnurrbärtchen überschattet. Wie er dastand in der Joppe, dem leicht gebundenen Halstuch, den nägelbesetzten Bergschuhen, den Wollstrümpfen und Kniehosen, unter welchen die Kniee frei vorschauten, war er das wahrhafte Künstlermodell eines schönen Gebirgsmannes.

Der stehende Ausdruck seines Gesichtes, sorglose Jugendlust, wurde aber von Zeit zu Zeit von seinem wahren Gegensatze durchbrochen, nicht allein, wenn Leonhard in einen Affect gerieth. Die freundlichen Augen wurden stier, die bacchusgleiche Stirn runzelte sich, die Nasenflügel öffneten sich, wie bei einem scheuen Pferde, der Mund zog sich wie zum Schnappen und Beißen in die Breite. Es war das Portrait eines schönen Banditen, der einen Anschlag brütete oder gar ausführen wollte. Es verrieth sich eine wilde Thatkraft, welche zwar noch niemals zum Ausbruch gekommen war, obschon es in Leonhard’s Leben nicht an Proben der Leidenschaft fehlte. Dennoch ließ sich dem Manne nichts nachsagen, als daß er aus übergroßer Lebenslust zu leichtsinnig, sehr verschwenderisch und, von Getränk erhitzt, händelsüchtig war.

Ein paar Wucherer hätten ihm freilich ärgere Dinge nachzusagen gewußt, welche ihn in der öffentlichen Meinung todtgemacht hätten. Er galt für einen der Wohlhabendsten in der Burgsau; man wunderte sich über seine großen Ausgaben, weil man dieselben für luxuriös hielt, aber man glaubte nicht, daß sie den Grundstock seines Besitzes untergrüben. Das war indeß längst der Fall. Leonhard’s Hof war hoch überschuldet und sein gänzlicher Bankerott konnte nicht länger als noch vier bis sechs Wochen auf sich warten lassen, wenn er nicht bis dahin bedeutende Mittel zur Deckung gefunden hatte.

Dieser schlechte Vermögenszustand erklärt auch seine Liebe zu dem reichsten Mädchen des Ortes, der Stegbauerstochter Brigitta, welche auch trotz des langen Widerstrebens der Eltern zur Heirath geführt haben würde, wenn der Stegwirth nicht vor Kurzem mit dem Plane der Kreuzheirath aufgetreten wäre.

Den Stegwirth, der ein sehr industriöser, aber bis zum Geize knauseriger Mann war, leiteten dabei zwei sehr nüchterne und einträgliche Motive. Brigitta war etwas reicher, als Balbina, und ihr Hof hing mit seiner Wirthschaft gerade so zusammen, wie der Ober- und Unteranger. Ihm war es daher mit der Arrondirung vollkommenster Ernst.

Anders verhielt es sich mit Leonhard, als er auf den Vorschlag des Stegwirths so rasch und unbedingt einging. Er verzichtete auf das reichere Mädchen, welches noch einen sehr energischen Vater hatte, und entschied sich für Balbina, die den großen Vorzug besaß, nur noch eine alte, gute und schwache Mutter zu haben, welche ihn nicht gehindert hätte, nach Belieben zu schalten und zu walten und über das angeheirathete Gut zur Deckung seiner Schulden mit rücksichtsloser Freiheit zu verfügen.

Bei dieser Sachlage hatten die Ueberraschung und der Schrecken nicht gering sein können, nachdem der Knecht die auf die neue Heirath bezüglichen Papiere ohne Balbina’s Unterschrift wieder zurückgebracht hatte.

Leonhard hatte lange Zeit an dem Baumstamme gelehnt. Seine Gesichtszüge hatten ihre Aufheiterung nicht lange behalten und waren seitdem wie von bösen Ahnungen und finsteren Zweifeln überflogen. Ein schwerer Kampf ging in ihm vor und die innere Unruhe zeigte sich durch das rastlose Trampeln der Füße.

Urplötzlich griff er nach seinem Hute und den Papieren, die auf dem Tische lagen, machte einen Seitensprung zum Brunnen, wo er an der Wasserröhre einige rasche und starke Züge that, setzte über den Hofraum und sprengte, trotz der wachsenden Tageshitze, den Fußsteig zu Balbina hinan.

Eine Magd war vor dem Hause, als er oben angekommen war.

„Wo ist Balbina?“ fragte er heftig, da sich seine innere Aufregung mit der physischen verstärkt hatte.

„Beim Bleichen,“ war die Antwort, „hinten bei den drei Kreuzen.“

Leonhard bog blitzschnell um die Ecke und sah schon Balbina keinen Büchsenschuß weit auf einem grünen Rundplatze, wo drei ungeheure Kreuze – Christus und die zwei Schächer – standen und mehrere Riesenblöcke lagen, wie sie die weit umher ausgebreitete Leinwand mit der Gießkanne emsig überspritzte.

Das Mädchen wurde seine Ankunft nicht früher gewahr, als bis er dicht hinter ihm stand und es angeredet hatte.

„Warum hast Du nicht unterschrieben?“

Balbina wandte sick überrascht, ja betroffen um und setzte die Gießkanne nieder, faßte sich aber sogleich und sagte, indem sie das lose gewordene Kopftuch dabei band, fest und ruhig: „Das könntest Du Dir schon denken!“

„Denken?“ lispelte ihr Leonhard zusammenzuckend mit ausgehender Stimme nach.

„Da willst Du es nicht verstehen,“ sprach Balbina, indem sie die hohe Gestalt aufrichtete und alle Verlegenheit mit einem Male abschüttelte, „darum sag’ ich Dir, daß ich von dem ganzen Handel nichts mehr wissen will!“

[433] „Mich trifft der Schlag!“ rief Leonhard aus, den Balbina’s Antwort außer sich gebracht hatte.

„Weshalb?“ entgegnete das Mädchen ruhig. „Deine Liebe kann nicht so weit her sein!“

„Liebe hin, Liebe her,“ rief Leonhard. „Eine fest abgemachte Geschichte bricht man nicht! Das ist erzschlecht, elend – Du mußt!“

„Ich muß?“ versetzte Balbina mit einem Ausdruck des Stolzes in allen Mienen. „Mir ist nicht zum Lachen, daß Du solches Zeug sprichst.“

„Ja, Du mußt,“ schrie Leonhard unbändig. „Deinetwegen hab’ ich Brigitta fahren lassen!“

„Hättest Du es nicht gethan!“ warf Balbina mit der kühlsten Gleichgültigkeit hin. „Mach’ aber keinen solchen Lärm über Etwas, worüber sich auch ruhig sprechen läßt. Ich will Dir sagen, wie es so gekommen ist, und Du wirst mir nicht bös sein können, aber wenn Du es wärst, so würde es Dir auch nichts helfen.“

„Also heraus damit!“ rief Leonhard in größter Bestürzung über die sich immer steigernde Entschiedenheit des Mädchens. „Gewiß muß mich Jemand bei Dir angeschwärzt haben!“

„Glaub’ es nicht,“ versetzte Balbina. „Es liegt anderswo. Du weißt, daß es mir vor und nach dem Tode meines Vaters nicht an Bewerbern gefehlt hat, ich aber von keinem Etwas wissen wollte –“

„Ich weiß,“ fiel ihr Leonhard mit einer gewissen Beziehung höhnisch in’s Wort. „Ich weiß auch, warum!“

„Unterbrich mich nicht!“ fuhr ihn das Mädchen heftig an.

„Wie Dich das aufbringt!“ rief Leonhard lebhaft mit schadenfroh funkelnden Augen. „Aber sprich nur weiter.“

„Am letzten Lichtmeß,“ fuhr Balbina nach einer kleinen Pause fort, „war ich schon zweiundzwanzig Jahre. Da sagte meine Mutter, als ich aus der Kirche kam: ‚Warum Du nicht heirathest! Gar so jung bist Du auch nicht mehr. Ich bin alt und kann für die Wirthschaft nichts mehr leisten, ich bin kränklich und Du kannst früher, als Du denkst, ganz allein dastehen. Unser Hof braucht längst einen Mann, heirathe, folge mir! Der Stegwirth ist ein kreuzbraver, thätiger Mann, und ich habe gehört, daß er ein Auge auf Dich hat, aber sich gar nicht hervortraut, weil gar kein Mann weiß, was er aus Dir machen soll!‘ So hat sie den ganzen lieben Tag in mich hineingeredet, ich habe es mir überlegt und endlich der Mutter den Willen gethan, einen Mann in unsere Wirthschaft zu bringen. So kam es, daß ich den Stegwirth geheirathet hätte, wenn Du mit ihm nicht am letzten Sonntag den neuen Plan ausgeheckt hättest. Der Stegwirth wollte auf einmal die Brigitta, und sie wollte ihn, und ich habe nichts dagegen gehabt, Dich zu nehmen, aber merke Dir ja gut, daß ich der Mutter versprochen habe, für unsern Hof einen Mann zu schaffen!“

Sie hatte den letzten Satz mit einer besonderen Betonung gesprochen, damit der für Leonhard unschmeichelhafte Sinn durchaus nicht mißverstanden werden könnte.

„Und was bringt Dich davon ab?“ fragte Leonhard mit der peinlichsten Spannung.

„Sieh,“ fuhr Balbina fort, „es ist mir damit Ernst gewesen. Im Gerichtssaale hab’ ich mich bis in den Boden hinein geschämt, bin aber nicht abgesprungen; noch gestern hab’ ich es Dir zugesagt. Mir war dabei, als wär’ ich bei den Haaren fortgezogen, aber ich wollte mich so fortziehen lassen; heute geht es nicht mehr, heute denk’ ich anders, himmelweit anders! Ich habe eine Nacht gehabt zum Verrücktwerden und kann es nicht mehr thun und thäte es nicht, wenn mein seliger Vater im Leichentuche vor mir erscheinen und mich bitten würde, Dich zu heirathen, damit ich seine arme Seele aus dem Höllenfeuer erlöse!“

Ihre wunderschönen Gesichtszüge, welche immer liebliche Ruhe und süße Sanftmuth waren, und ihre großen, von langen schwarzen Wimpern beschatteten, tiefblauen Augen hatten sich durch den Ausdruck einer wild kämpfenden Energie ganz verändert, aber ihre Schönheit war so vollständig und unverwüstlich, daß dieselbe auch in einem solchen Affect auf eine unerwartet neue Art leuchtete und fesselte.

„Du sprichst schrecklich,“ erwiderte Leonhard klagend und eine Hand in die Haare einwühlend, von dem Aussehen des Mädchens gepackt und von den vernommenen Worten zerschmettert. „Aber,“ fuhr er mit aufsteigendem Zorne fort, „warum Du plötzlich so wortbrüchig wirst, geht mir doch in den Kopf, es wäre denn, daß Du bei Gott und allen Heiligen Dein Seelenheil verpfändet hast, auf den Veit so lange zu warten, bis er auf dem Schub wieder heimgekommen ist!“

„Fängst Du schon wieder an?“ ermahnte ihn Balbina gereizt und böse.

„Nun,“ versetzte Leonhard rasch darauf, „warum thust Du so über Nacht Deiner Mutter den Willen nicht mehr?“

„Weil ich in mich gegangen bin,“ sprach das Mädchen im Tone der Reue, ja der Zerknirschung: „weil mir neulich die Rede des Herrn Hofraths in’s Herz gefahren ist.“

[434] „Da muß ich lachen!“ entgegnete Leonhard, „Du weißt so gut, als ich, daß der Geistliche immer predigen und der Amtsherr immer schelten muß! Wenn Du sagst, daß der Herr Hofrath Recht gehabt hat, so will ich nicht einmal Nein sagen, denn auf mich haben seine Ermahnungen nicht gepaßt. Ich habe eine himmelweit verschiedene Ursache, als der Stegwirth gehabt!“ Er ging in einen liebhabermäßigen Ton über. „Du hast mir immer besser gefallen, als Brigitta, und der wäre ein stockblinder Narr, dem Du unter Allen nicht am besten gefallen würdest! Sieh, bin ich denn meinem wahren Nutzen nachgegangen, als ich Brigitta fahren gelassen habe, die doch weit reicher ist, als Du, und zu einer Anderen hinübergelaufen bin, blos weil unsere Güter aneinander grenzen? Meine Liebe ist weiter her, als Du gemeint hast und vielleicht noch immer meinst. Ich aber sage Dir, daß Du mir so sehr gefällst, daß ich Dich heirathen möchte, wenn Du nichts weiter im Vermögen hättest, als hier diese Gießkanne!“

„Und ich,“ gab Balbina sofort zur Antwort, „würde Dich nicht zum Manne nehmen, wenn Du alle Höfe und Almen besitzen würdest, wie sie in der ganzen Burgsau liegen!“

Das war dem verzweifelten Freier zu stark. Sein Grimm wollte losbrechen und es kostete einen mühseligen Entschluß, in der Heuchlerrolle noch auszuharren.

„Ich kann es nicht glauben,“ sprach er. „Du mußt Dich noch einmal besinnen.“

„Du sprichst in den Wind,“ war die kurze Antwort.

„Wir passen so gut zu einander,“ flehte er unerschütterlich weiter. „Du bist groß, ich bin groß: was Du zu ernst bist, bin ich zu lustig; unsere Höfe liegen so, daß sie nur ein einziger Hof sein sollten; sieh, wir sind wie für einander geschaffen! Ich gebe Dir noch bis morgen Bedenkzeit!“

„Ich brauche keine,“ warf das Mädchen hin.

„Gute, beste Balbina!“ seufzte Leonhard.

„Du richtest nichts aus,“ versetzte das Mädchen, indem es auf ein haushohes Felsstück, das in länglicher Würfelform in nächster Nähe dalag, mit dem Finger zeigte. „Diesen Block wälzest Du mit gleicher Mühe weiter!“

Leonhard konnte sich nicht länger halten. Die schreckliche Ueberzeugung, daß seine Sache hier verloren sei, entzügelte seine Wuth und der schöne, aber nicht heimliche Bandit kam auf allen seinen Gesichtszügen zum Vorschein.

„Du Meineidige!“ fuhr es aus ihm heraus. „Nicht umsonst hast Du den Ruf, daß Du ein gar eigenes Ding bist, ich aber habe die Meinung, daß Du so einsam und traurig lebst, weil Dich eine böse Ursache dazu zwingt und irgend ein Fluch plagt! Darum heirathest Du nicht, doch warst Du kaum aufgeschossen, da warst Du den Männern nicht so spinnefeind, wie heute, da hast Du den Veit gern gesehen und bist auch mit ihm weit gegangen. Ich und Andere haben es gesehen, wie oft er zu Dir des Nachts hinaufgeschlichen ist! Dort drüben an den Sandgruben, um nicht an den Häusern vorüber zu müssen, ist er hinauf und herunter, knapp, ehe es Tag geworden ist! Der steckt Dir im Kopf, und wenn auch Niemand weiß, warum er davongelaufen und ganz verschwunden ist, Du wirst es wissen. Erwart’ ihn, erwart’ ihn, aber ehe er kommt, soll aus Dir ein altes, runzliges Weib werden und längst zuvor bei Eurer elenden Weiberwirthschaft Hof und Vieh zu Grunde gegangen sein!“

Er machte eine Bewegung, als ob er über Balbina herfallen wollte, ließ aber die Wuth auf einen todten Gegenstand aus, indem er mit einem gewaltigen Fußtritte Balbina’s Gießkanne weit hinschleuderte, worauf er wild umkehrte und nicht auf dem gewöhnlichen Rückwege, sondern der Schneide des Bergrückens entlang am Abhange hinlief.

Die Sonne warf ihre letzten Strahlen aus und vergoldete nur noch die höchsten Bergspitzen, als Leonhard nach langem, angestrengtem Laufe im Markte Burgsau angelangt war. Am äußersten Ende desselben, ein Stück hinausgerückt, liegt das Wirthshaus des Stegwirths. An diesem ging er, ohne sich umzusehen, vorüber und überschritt unweit davon einen ziemlich breiten Steg, der über einen wilden Bergbach führt und dem Wirthshaus am rechten Ufer sowohl, als dem Bauerhof auf dem linken den Namen giebt. Nachdem er eine mäßige Anhöhe hinaufgestiegen war, befand er sich beim Stegbauer.

Brigitta, ein Mädchen von zwanzig Jahren, klein, gewöhnlich, doch nicht ungefällig, kniete in einem Beete und war mit dem Ausjäten des Unkrautes beschäftigt. Ihre Laune war die beste, sie sang mit weitschallender Stimme ein lustiges Liedchen.

„Wer kommt denn da?“ rief sie mit einer scherzhaften Verwunderung.

Leonhard hatte nicht so viel Zeit, um bis an die Gartenthür weiter zu gehen. Er blieb, dem Mädchen gegenüber, gleich an den hölzernen Planken, welche den Hof eine halbe Mannslänge hoch umgaben, stehen und rief hinüber:

„O Brigitta! Ich bin der unglücklichste Mensch!“

Brigitta sprang auf den Wehruf empor und stellte sich auf der inneren Seite der Planke vor ihn hin.

„Was fehlt Dir denn?“ fragte sie, als sie die tiefe Röthe und das hochaufgeregte Aussehen seines Gesichtes wahrgenommen hatte. „Du mußt einen tüchtigen Rausch haben!“

„Nur Du,“ wimmerte Leonhard, „nur Du kannst mir helfen!“

„Soll ich Dir vielleicht zur Ader lassen,“ erwiderte Brigitta muthwillig, „damit Dich nicht der Schlag trifft?“

„O, Du bist lustig,“ rief Leonhard, „ich Dummkopf könnte es auch sein, wenn der verwünschte Stegwirth sein Maul gehalten hätte!“

„Was hat er Dir gesagt?“ fragte Brigitta ahnungslos. „Bring’s einmal heraus und geh’ nicht so lang’ um die Kirche herum!“

„Ach, Brigitta,“ sprach Leonhard, bereit seinen ganzen Schmerz zu entladen, „ich bereue die Geschichte, welche wir am letzten Sonntag zusammen angezettelt haben, schrecklich und möchte mir alle Haare ausreißen! Jetzt erst seh’ ich, wie ich an Dir hänge, da ich eine Andere nehmen soll! Diese Balbina, die immerfort ein Gesicht macht, als wäre das ganze Jahr Charfreitag, und Du, so lieb und herzig, voll Späße und Narrenstreiche – Ihr seid so grundverschieden, wie der Tod und das Leben! Ich kann sie nicht heiratheu, ich habe es ihr bereits gesagt, es wird nichts daraus werden.“

„Du brauchst sie nicht zu heirathen,“ gab Brigitta, ihm in’s Wort fallend, zur Antwort. „Der Priester hat noch nicht den Segen gegeben.“

„Du aber auch nicht den Stegwirth,“ bemerkte Leonhard rasch.

„Ich muß freilich nicht,“ sagte Brigitta, „aber ich will und nehm’ ihn!“

„Ei, das wäre!“ rief Leonhard, sich schüttelnd. „Einen solchen Knirps, einen solchen Pfennigfuchser, einen so habgierigen Kopfhänger könntest Du mögen?“

„Er ist nicht so schön, wie Du,“ versetzte Brigitta hitzig, „aber arbeitsam, sparsam, ordentlich, was Du Alles nicht recht bist! Aber ich heirathe ihn besonders darum, weil ich in’s Wirthshaus komme, wo ich immer andere Menschen sehe und es immer eine andere Unterhaltung giebt. Bäuerin bin ich seit Kindheit gewesen und habe die Plage satt und will nicht, sobald ich aufhöre, mich für die Eltern lahm zu arbeiten, für meinen Mann solch ein freudloses und einsames Leben fortführen. Wirthin, hab’ ich mir immer gedacht, ist das Schönste und Lustigste, was sich denken läßt, und jetzt, da ich eine werden kann, sollt’ ich mein Glück fortstoßen? Besser sterben! Ich will Wirthin sein, je eher, je lieber! Glaubst Du, Narr, daß ich zu dem Tausch Ja gesagt hätte, wenn der Stegwirth nicht ein Wirthshaus hätte? Da wären wir nicht auseinander gekommen, Leonhard!“

„Hast Du schon unterschrieben?“ fragte Leonhard erblassend mit zaghafter Stimme.

„Längst,“ war die Antwort, „die Papiere sind schon ein paar Tage auf dem Amte!“

„So!“ stieß Leonhard hervor, während ihm die erhaltene Antwort einen Stoß gab, daß die zwei Latten des Gartenzaunes, welche er mit den Händen gehalten hatte, krachten und aus den Fugen gingen.

„Du reißest den ganzen Hof ein,“ rief Brigitta überrascht. „Wie kann Dich das aufbringen? Abgemacht ist abgemacht!“

„Da bist Du auf dem Holzwege!“ rief Leonhard ganz wild, daß er nur halb und halb wußte, was die Wuth aus ihm hinausredete. „Ich habe unsere frühere Heirathsbewilligung noch in Händen und fange einen schrecklichen Proceß an!“

„Da kommst Du weit!“ hohnlachte Brigitta. „Da wirst Du ausgelacht, so viel verstehe ich auch.“

„Nein, nein,“ fuhr Leonhard fort, „ich kann sagen und beweisen, [435] daß mich der Stegwirth betrunken gemacht hat, um handelseinig zu werden. Ich war auch ganz berauscht, als ich Ja gesagt habe.“

„Aber,“ versetzte das Mädchen schlagend, „am andern Morgen warst Du auf dem Amte vor dem Herrn Hofrath ganz nüchtern! Plappre nicht so! Du hast mir gekündigt und ich Dir. Jetzt kriegst Du mich nicht!“

„Das wäre der Teufel!“ brüllte Leonhard, wie besinnungslos um sich schlagend.

„Nein,“ versetzte Brigitta. „So lasse ich mich nicht aus einer Hand in die andere schieben. Thue jetzt, was Du willst, komm aber nicht wieder. Hier ist es für Dich vorbei.“

Sie entfloh mit eiligen Sprüngen in’s Haus.

Wie im Taumel trat der Verzweifelte seinen Rückweg an.

Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er am Stegwirthshaus vorübergegangen war, ohne dort einzukehren.




3.

Der Stegwirth, seiner Braut sicher, hatte bereits alle Anstalten zur Feier seiner bevorstehenden Vermählung mit Brigitta zu treffen begonnen, und er war insoweit so glücklich, wie es ein Mensch bei einem Naturell wie das seinige sein kann.

Er war ein kleines, dürres, doch sehr flinkes Männchen von dreißig Jahren, sehr fleißig und industriös, aber auch sparsam und genau bis zum Geiz. Seine flachen Gesichtszüge erinnerten an einen Knaben, welcher nun ein alter Sauertopf geworden war; in seinen Augen und Mienen lag ein beständiger Kummer, welcher die unbefriedigte Gier ausdrückte, alle Tage noch mehr Geld zu verdienen, als thatsächlich einlief. Nur, wenn das Wirthshaus so vollgepfropft war, daß er durch das unaufhörliche Einschenken und Auftragen von Athem kam und von Schweiß triefte, konnte er Späße, sogar gute, machen, aber wenn er nur eine Stunde dastand, ohne daß ein Glas Bier verlangt oder eine Zeche gezahlt wurde, versank er in die tiefste Melancholie.

Sein verschossener und abgewetzter Anzug, aus einer Jacke, farblosen Hosen und groben Schuhen bestehend, war nicht im Stande, seine armselige Erscheinung aufzuputzen, sondern erinnerte immerfort an den blutarmen Bierzapfer, der er noch vor zwei Jahren in der fürstlichen Brauerei gewesen, ehe er das Wirthshaus übernommen hatte.

Mit der Uebernahme des Stegwirthshauses hatte es folgende Bewandtniß.

Der frühere Besitzer starb, als er kaum die Frau verloren hatte, im besten Alter und hinterließ ein zweijähriges Kind als natürlichen Erben. Dieses Umstandes halber hatte er die testamentarische Verordnung gemacht, daß der gegenwärtige Stegwirth, der ein entfernter Anverwandter war, das Wirthshaus und die nicht unbedeutende Oekonomie mit allen Rechten des Eigenthümers zu übernehmen, aber nach Eintritt der Großjährigkeit des leiblichen Erben dem letzteren im Statu quo ante wieder zu übergeben habe.

So weit war der ehemalige arme Bierzapfer mit dem Testamente höchst zufrieden, denn es sicherte ihm für zweiundzwanzig Jahre, also ein halbes Menschenalter lang, den einträglichsten Besitzstand in der Burgsau, aus dessen jährlichen Einkünften sich im Laufe einer so langen Zeit ein selbständiges Vermögen leicht erwirthschaften ließ. Weniger war der im Testament vorhergesehene Fall, wenn das Kind vor zurückgelegter Großjährigkeit sterben sollte, nach seinem Geschmacke, ja geradezu ein Gegenstand ärgster Unruhe, denn an demselben Tage, wo diese Katastrophe eintrat, hatte er alle Besitzrechte verloren, und diese gingen an eine Muhme des Verstorbenen, als Universal-Erbin, über.

Der Erblasser hatte absichtlich oder zufällig ein weises Testament zu Wege gebracht, denn die angeführten Bestimmungen sicherten dem allein stehenden, hülflosen Kinde eine gute, schonende Behandlung. War es wirklich Absicht gewesen, so wurde sie über alle Erwartung erreicht. Der Stegwirth liebte das Kind. dessen Vormund und Pflegevater er zugleich war, über die Maßen. Sonst nicht zärtlicher Natur, war er hier der trefflichste Vater, ja beinahe schon die sorgsamste und ängstlichste Mutter. Bei Tag und Nacht sah er nach dem Kinde, obgleich er ihm sogar eine eigene Wärterin hielt, ohne es einmal im größten Tumult des Geschäftes zu vergessen, und scheute keine Plage und kein Opfer, damit es wohlgedeihe und die Großjährigkeit erreiche.

Diese maßlose Liebe hatte aber gräßliche Prüfungen zu erdulden, da das Kind ein sehr schwächliches und gebrechliches Wesen war, dessen Zustand beständig Besorgnisse einflößte und das Herz des Pflegevaters mit grausamen Aengsten erfüllte.

Es war ein Knäblein, Toni mit Namen, gegenwärtig vier Jahre alt, von einem angenehmen, doch blassen und schmalen Gesichte, welches, mit den spindeldürren Gliedern der Gestalt zusammengehalten, die äußerste Nervenschwäche bekundete. Für diesen feinen Körper war die größte Ruhe die erste Nothwendigkeit, wenn sich die Kräfte entwickeln und sammeln sollten, allein diese Vorschrift war bei Toni’s krankhafter Lebhaftigkeit und Aufgeregtheit gar nicht zu erfüllen. Da ihm das Weinen und alle Aufregungen sehr schadeten, blieb der Umgebung Nichts übrig, als alle seine Launen auf das Rascheste zu befolgen, und da diese Methode bei der Liebe des Stegwirths keine Grenzen kannte, wurde Toni das verzogenste und eigensinnigste Kind, das in seinem gegenwärtigen Alter sich schon klar bewußt war, daß es mit Lärm und Thränen Alles ausrichte. Das gewöhnliche Mittel, sein Toben zu beschwichtigen, waren Näschereien, namentlich Zucker, den es leidenschaftlich liebte, weshalb es auch allgemein im ganzen Orte mit einer auf den Stegwirth gemünzten Ironie nur Zucker-Toni genannt wurde.

Es war ein sehr heißer Nachmittag. Unter den Anstalten, die der Stegwirth bereits zu seiner Hochzeit traf, befand sich auch die frische Uebertünchung des Wirthshauses. Diese Arbeit war schon vollbracht und es blieb noch die Ausführung der Frescogemälde übrig, womit man hier zu Lande die Außenseite der Häuser schmückt. Auch dieser künstlerische Theil der Aufgabe ging seiner Lösung entgegen, denn der Dorfmaler, dem das Werk übertragen war, malte mit derselben raschen Virtuosität, mit welcher er kurz zuvor getüncht hatte.

Es war Peter Auringer, ein alter, aber lustiger Kauz, der Schöpfer einer Unzahl von gräßlichen Madonnen und der verschiedensten Heiligen, welche alle durch ihr bengelhaftes Aussehen die Individualität des Künstlers unverkennbar kennzeichneten. Vom Landvolke, das die Schlagwörter liebt, wurde er nie anders als Schmier-Peter genannt, eine Bezeichnung, welche er durch seine Leistungen vollständig rechtfertigte und hier und da sogar auf sich selbst anwandte, nicht aus Mangel an Künstlerbewußtsein, sondern aus Pfiffigkeit, um die Wohlfeilheit anzudeuten, wenn er die Leute plagte, sich noch mehr Gemälde hinschmieren zu lassen, als sie ursprünglich im Sinne gehabt hatten.

Schmier-Peter saß auf einem Gerüste über dem Hausthor und malte an einem von vier schweren Pferden bespannten Fuhrmannswagen. Seinem Gesellen, der seitwärts hoch auf der Leiter arbeitete, hatte er die Ausführung der schablonenmäßigen Arabesken und Borduren vertrauensvoll überlassen.

Da kam der Stegwirth zum Vorschein. Sein erster Blick fiel auf die vielen Tische und Bänke, die von alten Ahornbäumen beschattet und sämmtlich unbesetzt waren.

„Gar keine Seele da!“ seufzte er zum Gerüst hinauf. „Kein Mensch, als Ihr Beide, und Euch halt’ ich noch dazu frei! Aber es sei Euch vergönnt – da trinkt!“

Er reichte dem Maler einen Labetrunk empor, der in einem Glase zusammengegossenen Bieres bestand.

Schon wollle er sich wieder in das Haus begeben, als er bemerkte, daß eben zwei Gäste in der nächsten Nähe an einem Tische Platz genommen hatten. Hurtig rannte er auf sie zu, um sie zu bedienen.

Einer der Gäste war der Gerichtsdiener Grüneisen, der andere der Chirurg des Bezirks, Namens Weißbart, welcher mehr auf Grund seiner angekauften Gerechtsame, als seiner medicinischen Kenntnisse Menschen und Thiere curirte.

„Wo steckst Du denn?“ rief der Stegwirch dem Gerichtsdiener auf das Freundschaftlichste zu. „Wenn ein so alter Stammgast ausbleibt, das thut weh!“

„Ich war Dir recht bös!“ gab Grüneisen zur Antwort. „Du weißt auch, warum! Ich hätte Dir es nicht zugetraut! Der Hofrath hat ganz Recht gehabt, und wie er denkt, denke ich auch. Das verdaue ich schwer und es wird mir noch lang im Magen stecken,“ schloß er, sich in die Entrüstung über die Kreuzheirath hineinredend.

„Geh.“ erwiderte der Stegwirth oberflächlich, „Du mußt immer Etwas haben, worüber Du brummst! Deshalb wird Dir mein delicater Kaiserkümmel doch bei mir schmecken!“

[436] „Erst will ich einen Krug Bier,“ erwiderte Grüneisen, während Augen und Mienen fortgrollten, „dann ein Gläschen von dem Kaiserkümmel!“

„Mir ein Gleiches!“ sagte der Chirurg Weißbart und wandte sich, sobald sich der Stegwirth entfernt hatte, an Grüneisen neugierig mit der Frage:

„Was habt Ihr denn mit einander gehabt?“

„Die Heirath!“ gab Grüneisen zur Antwort. „Das ist ja eine Geschichte, die nicht unter den Wilden vorkommen könnte, ohne daß sich die Polizei hineinmengen und dareinschlagen würde! Aber unsere Gesetze sind zu mild –“

Der Chirurg besann sich, wessen Partei er ergreifen sollte, da er eben so sehr dem Hofrath, als dem Stegwirth gram war. Mistgunst und Uebelwollen waren die Grundzüge seinen Wesens. Seine kleine, überdicke Gestalt, der große Schädel, der auf einem sehr kurzen Halse saß, das grobe Gesicht, welches, von einem graugesprenkelten Barte eingerahmt, noch voller aussah, als es war, und die zwei starr hervortretenden Augen gaben ihm auch äußerlich die Aehnlichkeit mit einem bösartigen Büffel, welche er indeß nicht minder in seinem Berufe an den Tag legte, denn er war ein geschworener Feind der Zähne, des Blutes und aller jener Leute, welche sich selbst rasirten.

„Höre, Grüneisen,“ sprach er nach kurzem Besinnen, „es ist doch nicht ganz so, daß man darüber gleich herfahren und den Stab brechen kann! Nein, nein, bei Gott nicht!“

Grüneisen verschluckte die Antwort, weil der Stegwirth soeben das Bier und den Kümmel brachte, aber Weißbart war nicht willens, das Gesprächsthema einschlafen zu lassen.

„Du strengst Dich aber an.“ sagte er zum Stegwirth, auf die Tüncharbeiten hindeutend. „Dein Wirthshaus wird jetzt ein nobles Gesicht kriegen! Sapperment! Du beschämst den Leonhard! Ich bin schon heute bei ihm vorübergegangen, aber sein Wohnhaus sieht noch immer so schmutzfarbig aus, wie wenn seine Hochzeit gar nicht vor der Thür wäre!“

„Es wird auch Nichts daraus!“ platzte der Stegwirth heraus. „Ich stehe gut dafür!“

„Was Teufel!“ rief Weißbart überrascht.

„Nichts wird es!“ wiederholte der Stegwirth.

„Geh,“ wunderte sich Weißbart. „Daß ich noch Nichts gehört haben sollte?“

„Der Stegwirth hat Recht,“ ergriff der Gerichtsdiener mit einer gewissen Prätension das Wort. „Das ist eine ausgemachte Sache. Balbina will nicht –“

„Könnte sein,“ rief der Maler von seinem Gerüste herunter, „daß sie auf den Veit noch wartet, aber da könnte ich eben so gut warten, daß mir die Zähne wieder nachwachsen, welche mir Herr Weißbart seit ein paar Jahren gerissen hat!“

„Versteht sich!“ rief der Stegwirth. „Vom Veit wird kein Stäubchen mehr da sein! Am nächsten Himmelfahrtstag werden es sechs Jahre sein, daß er verschwunden ist. Hätte man nicht schon eine Silbe über ihn gehört? Wo sollte er hingerathen sein?“

„Das denk’ ich auch!“ versetzte der Gerichtsdiener. „Wir haben ihm gleich Steckbriefe nachgeschickt, weil er ohne Wanderbuch davongelaufen ist, aber wenn wir es nicht gethan hätten, so wüßten wir eben so viel!“

„Drum mein’ ich das!“ sagte der Stegwirth entschieden. „Er ist verunglückt und in eine Felsscharte hineingefallen, wo ihn die Geier und Füchse gefressen haben.“

„Das ist nicht dumm!“ rief der Maler von oben herab. „Er war ein fideler, kreuzlustiger Kerl und hat die Balbina gern gesehen, wie sie ihn. Das ist weltbekannt. Er war in das Mädchen gerade vernarrt, das muß ich am besten wissen. Da läuft man nicht ohne Ursache davon und eine Ursache war nicht dagewesen!“

„Keine Spur davon!“ rief der Stegwirth.

„Sonderbar,“ sagte Weißbart verwundert. „Vor sechs Jahren, kurz vor Himmelfahrt, hab’ ich mich hier ansässig gemacht und so hab ich den Veit ein paar Mal nur noch gesehen. Ich erinnere mich an ihn und doch wieder nicht so recht, das weiß ich aber, daß er ein sehr schöner Kerl gewesen ist –“

„Wie der Leonhard,“ bestätigte der Stegwirth, „wenn nicht weit schöner, und müßte auch jetzt in seinem Alter, den Dreißig nahe, sein!“

„Ihr könnt glauben,“ hob der Chirurg wieder an, „daß ich seither mit keinem Gedanken auf ihn verfallen bin. Was geschieht mir aber, als ich einmal in diesem Frühjahr zu meinen Patienten nach Steinkirch in meinem Einspänner fahre? Auf halbem Wege begegnet mir ein zugedeckter Einspänner, der nach Burgsau hinfährt, und darin sitzt ein junger Franciscaner. Sobald ich den erblicke – es war freilich im Flug, mein Pferd ist gar scharf – kommt mir der Gedanke, wie wenn es in mich eingeschlagen hätte: Das ist der Veit!“

[449] Der Maler war bei den letzten Worten des Chirurgen vom Gerüste herabgestiegen und an den Tisch der Gäste gekommen. „Pah!“ rief er, „wie sollte ein so flotter, toller Kerl Franciscaner geworden sein!“

„Das denk’ ich mir auch,“ sprach der Chirurg, „drum eben und zugleich deshalb, weil der Franciscaner, wie mir vorkommt, viel schmächtiger und schmäler, beinahe abgezehrt aussah, hab’ ich es mir gleich ausgeredet.“

„Wie aber,“ sagte der Stegwirth, die Ohren spitzend, mit höchstem Interesse, „wenn er es doch gewesen wäre – ?“

„Du erschrickst ja gerade,“ bemerkte der Maler, „Ist er Dir vielleicht Etwas schuldig?“

„Leider,“ seufzte der Stegwirth. „Zehn Gulden sogar! Ich schreibe ungern Zechen auf – mein Sprüchwort kennt Ihr! Wie ich bei dem Kerl so viel habe stehen lassen können, noch dazu zu einer Zeit, da ich als armer Bierzapfer in der fürstlichen Brauerei jeden Pfennig selbst gebraucht habe, ist mein größter Schwabenstreich. Da ist er immer in meine Kammer gekommen und hat mich so beschwatzt. Dort könnt Ihr den Schlingel an der Wand sehen! Dort hat er sich mit der Kohle einmal selbst hingezeichnet.“

„Ich hab’ es gesehen,“ sagte Grüneisen. „Zum Sprechen ähnlich und mit wenigen Strichen –“

„Ja,“ fiel Schmierpeter in die Rede, „ein tüchtiger Maler wäre er geworden, wenn er länger bei mir geblieben wäre! Einen solchen Gehülfen hab’ ich nie im Leben gehabt. Flink war er, wie wenn er vier oder sechs Hände hätte, mit einem Wort ein Teufelskerl!“

„Der heilige Michael,“ sagte Geißbart, „den er auf das Pfarrgebäude gemalt hat, zeigt auch, daß er Etwas geleistet hat, was ihm nicht Alle nachmachen. Darüber sind alle Leute einig.“

„Das hab’ ich oft genug hören müssen,“ versetzte Schmierpeter. „Die dummen Leute bedenken aber nicht, daß er es in meiner Schule gelernt hat!“

„Noch einen Kümmel!“ rief Grüneisen.

„Mir auch!“ sagte Weißbart.

Während der Stegwirth einschenkte, erhob sich ein Geschrei, wie wenn ein Kind gespießt würde. Der Stegwirth. ganz erschrocken, ließ sich kaum die zum Einschenken nöthige Zeit, denn es war die Stimme des Zucker-Toni.

„Was giebt es denn wieder?“ schrie er durch das Fenster des Erdgeschosses in die Stube hinein, aus welcher der Lärm herausdrang. „Wozu lass’ ich Dich bei dem Buben sitzen, wenn Du ihn so schreien läßt?“

„Das ist nicht meine Schuld,“ tönte die Antwort der Kinderfrau heraus.

„Wessen sonst?“ fuhr der Stegwirth ergrimmt fort. „Spiel’ mit ihm besser, so wird er nicht auf’s Weinen verfallen!“

Zucker-Toni hatte indessen sein Geschrei nicht gemäßigt, sondern mit solcher Anstrengung gesteigert, wie wenn er sich die Lunge zerreißen wollte.

„Um Christi willen!“ rief der entsetzte Pflegevater aus. „Er thut sich einen Schaden! Thu, dumme Person, was er will!“

„Wie kann ich das?“ vertheidigte sich die Wärterin. „Er will aus dem Bette und das darf er nicht!“

„Das darf er freilich nicht,“ versetzte der Stegwirth. „Es ist ihm streng verboten, weil er sich sonst eine schwere Krankheit zuziehen kann! Hättest Du ihm ein Stück Zucker gegeben!“

„Er hat es weggeworfen,“ war die Antwort. „Da liegt es auf dem Boden.“

„Das ist ein Kreuz!“ wimmerte der Stegwirth, die Hände zusammenschlagend, seinen Gästen rathlos zugewandt.

„Ah,“ sagte der Chirurg, „dem Buben wird nicht so viel fehlen! Gewisse Leute machen aus einer Mücke einen Elephanten, blos um dann sagen zu können: ‚Da seht meine Wundercur!‘“

Auf diese Bemerkung, welche die ganze Bitterkeit erkennen ließ, daß Weißbart nicht der behandelnde Arzt im Hause des Stegwirths war, erwiderte der letztere:

„So glauben Sie, daß das Kind aufstehen kann? Es schreit sich todt!“

„Erkälten kann es sich heut nicht.“ gab der Chirurg zur Antwort, indem er sich die Schweißtropfen an der Stirn trocknete.

„Da laß ihn heraus!“ rief der Stegwirth der Kinderfrau zu, worauf einige Augenblicke später Zuckertoni barfuß, nur mit einem Höschen bekleidet, hervorgesprungen kam.

Es war ein hübsches, krankhaft lebhaftes Kind. Gewöhnlich blaß, war es heute bedeutend geröthet. Der Stegwirth war ihm zärtlich entgegengelaufen und hatte es an der Hand zu den Gästen geführt.

„Da sehen Sie, Herr Chirurg,“ sagte er mit jammervoller Stimme, „da sehen Sie, wie roth heute die Bäcklein meines Toni sind! Hat das Nichts zu bedeuten?“

„Das versteh’ ich nicht,“ versetzte der Chirurg mit unerbittlicher [450] Malice. „Da mußt Du schon Deinen Hausdoctor fragen!“

Zucker-Toni hatte indeß die Quaste an Grüneisen’s Pfeife erschnappt und schrie dabei aus vollem Halse: „Ich will es haben! Ich will es haben!“

Grüneisen hatte Mühe, nicht nur die Quaste, sondern auch die Pfeife vor dem Untergang zu retten, als es ihm aber gelungen war, lärmte und tobte das Kind, daß es dem Ersticken nahe kam.

„Mein Gott!“ jammerte der Stegwirth, das Kind auf den Arm nehmend. „Still, lieber Toni, still! Ich kaufe Dir eine schönere, eine goldene, nur still!“

„Ich will die haben,“ schrie Zucker-Toni, mit den Händen zurückgreifend, während er von seinem bemitleidenswerthen Pflegevater in’s Haus zurückgetragen wurde.




4.

Den Hintergrund des Burgsauer Thalkessels schließt ein mächtiger, kahl aussehender Berg ab. Seine drei nebeneinander stehenden Spitzen oder Zacken, welche in ihrem Zustande der äußersten Verwitterung das Aussehen phantastischer Kronen besitzen, können vielleicht die ersten christlichen Bewohner des Thales veranlaßt haben, ihn den Dreikönigsberg zu nennen. Die Front bildet eine unzugänglich steile, obgleich wild zerrissene Wand, deren rastlos sich herabschiebendes Gerölle keinen Grashalm, noch weniger einen Stamm festen Fuß fassen läßt. Nur an einigen, von hervorsickerndem Wasser feuchten Stellen vermag sich dünnes, schimmelähnliches Moos festzuhalten.

Diese Wand schießt in eine finstere, schwarze Schlucht hinab, auf deren höchst ungleichem, morastigem Boden eine urwaldähnliche Vegetation aller möglichen Holzarten, Sumpf- und Farrenkräuter im wildesten Durcheinander tausendjähriger Felstrümmer und vom Sturm hingestreckter, faulender Riesenstämme wuchert. Der Ort ist schaurig, auch ohne den unheimlichen Aufputz von Geschichten, denen zufolge unsaubere Mächte ihr Wesen hier treiben sollen, durch die dumpfe, kühle Kellerluft und den beständigen Modergeruch, wie auch als beliebter Aufenthalt von Molchen und Schlangen und allen Sorten von Nachtvögeln, welche in den finsteren Felsspalten mit Vorliebe nisten.

Die Schlucht ist von den Niederlassungen der Menschen weit entfernt und, da dort kein Weg zu einer Alm oder auf einen Holzplatz hindurchführt, wenig besucht und wohl deshalb besonders gescheut. Dennoch steht am Eingange, an einem Bächlein, welches aus dem nahen Dickicht ungestüm hervorbricht, ein zwar hölzernes, aber im besten Zustande befindliches Haus. Es steht auf der Stelle einer baufälligen Baracke, welche sich daselbst von Alters her befunden, und zeigt, daß sich der Wohlstand der dort domicilirenden Familie bedeutend gehoben haben muß. Die ganze Vorderseite ist mit einem ungewöhnlichen Reichthum von Gemälden geschmückt, so daß beinahe alle Patrone dargestellt scheinen, welche vor den Krankheiten schützen, von denen die Bewohner der Gegend am häufigsten geplagt werden. Von diesen Schutzheiligen umgeben, nimmt das Mittelbild den weitesten Raum ein. Es stellt einen der erstaunlichsten Heilerfolge vor, welcher vor langen Zeiten vorgekommen, seitdem aber nicht wieder erreicht worden ist, nämlich die Auferweckung des verstorbenen und bereits begrabenen Lazarus.

Der überaus grelle Ausdruck dieser Kunstwerke, welche sämmtlich vom Schmierpeter stammen, verräth durchwegs die Absicht des Meisters, seinen Werken wenigstens durch das dickste Auftragen der Farben unvergängliche Dauer zu verleihen.

Es ist klar, daß diese Bilder nicht allein aus landesüblicher Gewohnheit da oben prangen, sondern durch ihren innigen, ideellen Zusammenhang noch einem anderen Zwecke dienen und die Beschäftigung und den Beruf des Hauseigenthümers bezeichnen, welcher unter dem schlichten Namen „der alte Balthasar von der Dreikönigswand“ eine große medicinische Berühmtheit in der weitesten Umgegend der Burgsau ist.

Dieser große Arzt, frühzeitig verwais’t und verlassen, hatte seine Studien bei Leonhard’s Vater auf dem Unteranger als sogenannter Kühbube begonnen und war dreißig Jahre alt geworden, als er sich zum Hirten auf der Gemeinde-Alpe emporgeschwungen hatte. In dieser eigentlich selbständigen Stellung, in welcher er neunzig bis hundert Stück Vieh zu hüten hatte, war er bereits einige Jahre, als in der Burgsau und den angrenzenden Bergbezirken eine Viehseuche ausbrach, welche Opfer auf Opfer forderte und der Schrecken der ganzen Gegend wurde. Nur ausnahmsweise war der Stall irgend eines Hofes verschont worden, dagegen war keine einzige Alm zu finden, welche nicht die bedeutendsten Verluste erlitten hätte. Blos der Gemeindehirt Balthasar hatte seinen ganzen Viehstand unversehrt erhalten, wie wenn die furchtbare Todesmacht, welche auf den zunächst liegenden Sennhütten wüthete, nicht gewagt hätte, die Hecken und Zäune seiner Alm zu überschreiten.

Es war in der That kein gewöhnliches Schauspiel, als Balthasar im Herbst noch unter dem Nachhall einer solchen Katastrophe seine kranzgeschmückte Heerde mit allen traditionellen Ehren von der Alm hinabführte, welche nur demjenigen zukommen, dessen Hüteramt ohne alle Unfälle abgelaufen ist. Die Leute, deren jeder Einzelne eine Klage über Verluste noch frisch im Herzen trug, betrachteten den Gemeindehirten wie einen Wundermann und hätten sich nicht einreden lassen, daß hier nur Zufall gewirkt haben sollte.

Balthasar hatte anfangs auf die allseits an ihn gestellten Fragen, welche Mittel er angewandt habe, keine Antwort zu geben, als man ihm aber sein Geheimniß abkaufen wollte, erspähte er seinen Vortheil und stand endlich nicht an, seinen geheimen thierärztlichen Kenntnissen den Erfolg zuzuschreiben.

Von diesem Augenblicke an war er der gesuchteste Thierarzt, um welchen sich alle Welt riß, und nicht lange darauf mußte er sich, vom allgemeinen Vertrauen berufen, auch entschließen, Menschen zu curiren. Er hatte natürlich seinen Hirtenstab sofort weggeworfen und den neuen Beruf ergriffen, an den er nie zuvor gedacht und bei dessen Ausübung er sich seitdem einen wahren Wunderglauben an seine Heilkunst erworben und alle Taschen gefüllt hatte.

Innerhalb einer dreißigjährigen Praxis hatte er jedoch zwei Drittel dieser Zeit schwere Verfolgungen zu erleiden gehabt, weil ihn Weißbart’s Vorgänger, durch Balthasar’s erdrückende Concurrenz zur Raserei gebracht, durch gerichtliche Strafurtheile unschädlich zu machen und zu vernichten gesucht hatten. Diese Epoche dauerte so lange, bis endlich sich der gegenwärtige Hofrath von Zintner entschloß, den Pfuscher ganz geheim zur Consultation zu berufen, nachdem er weder von dem befugten Ortschirurgen, noch von anderen legitimirten Aerzten von einem hartnäckigen Uebel befreit worden war. Die Cur gelang, und Balthasar war post hoc oder propter hoc ein gemachter Mann. Der dankerfüllte Hofrath hatte ihm nämlich nicht nur eine schöne Geldsumme, sondern auch ein Heilpatent zum Geschenke gemacht.

Letzteres war die Quelle, aus welcher Weißbart’s Ingrimm gegen den Hofrath floß und ein tiefer Groll gegen den Stegwirth hervorströmte, weil dieser, als einer der zahlungsfähigsten Insassen, sich den alten Curpfuscher zum Hausarzt gewählt hatte.

Es war noch frühester Morgen, die Sonne hatte die Linien der hohen Bergrücken kaum überstiegen. Der alte Balthasar hatte das Bett schon längst verlassen und war bereits als Pharmaceut thätig, weil er den ganzen Tag über bis in die späteste Nacht von einem Krankenbette zum anderen, aus einem Stalle in den anderen zu wandern hatte. Er stand mit umgebundener Schürze in seiner Küche vor einem Kessel und sott ein Tränklein, welches wie Weihwasser hochgeachtet und in allen Bauernhäusern vorräthig gefunden wurde.

Balthasar war ein Mann von fünfundsiebenzig Jahren, jedoch so wohlerhalten, daß er für einen vorgerückten Fünfziger angesehen werden konnte. Seine Gestalt war hoch und breit, weniger dick, als knochig, seine Haltung noch immer kerzengerade, sein Kopf sehr bedeutsam. Seine hoch und breit gebaute Stirn bekundete kräftigen Verstand, die tiefliegenden grauen Augen hatten etwas Träumerisches von der Gewohnheit angenommen, viel nach innen zu schauen. Dieser obere Theil des Gesichtes mit der wohlgeformten Stumpfnase machte den Eindruck, daß man nicht einen Alltagsmenschen vor sich habe, dagegen war die untere Partie so beschaffen, daß man meinen konnte, eine Verwechslung habe stattgefunden und jene ursprünglich einem anderen Menschen gehört. Der Mund war roh, wulstig und fast thierisch zu nennen. Zwei auffallend breite und tiefe Falten, die zu beiden Seiten hinabliefen, während die übrigen Gesichtsrunzeln wie mit einem Rasirmesser fein gezeichnet waren, trugen zur Verhäßlichung noch das Ihrige bei und halfen die Voraussetzung begründen, daß [451] rohe, heftige Leidenschaften im Inneren ihr Wesen trieben. Das konnte der Fall sein, obwohl sich Balthasar des besten Rufes erfreute, weil er vielleicht mit dem Willen und Verstande, die auf seiner Stirn abgeprägt waren, alle derartigen Ausbrüche zu bekämpfen und niederzuhalten oder zu verheimlichen wußte. Man wird aber schwerlich fehl gehen und aus seinem Aeußeren, der Sprache und der ganzen Art und Weise falsch schließen, wenn man annimmt, daß man es mit einem ganz vollendeten Dorf-Cagliostro zu thun hatte.

Er war Junggesell, der seine Wirthschaft mit Hülfe einer alten Dienstmagd führte und außer seinem Berufe allen Umgang mit Anderen wohl aus der Berechnung vermied, daß ihm durch nähere Berührung der Menschen nicht der Nimbus des Wunderbaren vom Leibe gestreift werde.

Balthasar zerstampfte eben ein Ingrediens, das in den Kessel hineingehörte, als er draußen auf dem Hausflur hastige, starke und ihm unbekannte Tritte hörte, Leonhard trat bei ihm ein. Athemlos, die Thür noch in den Händen, ohne nur den Morgengruß angebracht zu haben, sagte er, während ihm aus dem Gesichte die höchste Erregung und aus den funkelnden dunklen Augen eine wilde Erwartung leuchtete:

„Mich hat es gar kein Auge zuthun lassen! Ich habe gestern gehört, daß der Zucker-Toni so krank ist, hättest Du vielleicht doch –“

„Kommst Du heute schon wieder damit?“ unterbrach ihn der Wunderdoctor höchst ungestüm. „Da verdientest Du schon, daß ich Dich bei Gericht anzeige oder mit einem Knittel zur Thür hinausprügle!“

„Mache keinen solchen Lärm,“ erwiderte Leonhard, weiter vortretend. „Warum könnt’ ich es mir nicht denken, da ich höre, daß der Bube auf einmal so krank wird?“

„Dummes Zeug!“ rief Balthasar. „Wer Dir das gesagt, hat selbst nichts gewußt oder Dich blau anlaufen lassen! Dem Kind ist nichts! Ich war gestern dort. Den Magen hat es ein Bischen verdorben und daran leidet es nicht von gestern und heute. Wenn sie es nicht mit süßen Sachen wieder überfüttert haben, so springt es wahrscheinlich heute schon wieder herum. Das hat gar nichts zu bedeuten – nichts!“

„Nichts!“ stieß Leonhard leise aus, indem er sich ganz niedergeschlagen niederließ.

„Gar nichts,“ fuhr Balthasar finster fort, „aber Deine miserablen Reden will ich niemals mehr hören! Sonst spann’ ich noch andere Saiten an. Ich bin da, um den Menschen zu helfen, nicht, um sie umzubringen! Ich weiß gar nicht, wie Du bei solchen Dingen auf mich verfällst, aber es muß Dich gerade der Teufel reiten, denn als so grundschlecht bist Du mir nicht bekannt!“

„Du stellst Dir gar nicht vor,“ gab Leonhard im Tone der Entschuldigung jammernd zur Antwort, „wie Einem ist, der so ganz verzweifeln muß, wie ich. Wenn mir jetzt auf dem Heimweg der leibhaftige Satan begegnet und zu helfen verspricht, ich erschrecke vor nichts und danke noch Gott dafür!“

„Du sprichst, daß es nur graust!“ sagte Balthasar. „Du mengst Gott und den Teufel zusammen. Mit Dir kann es nicht recht richtig sein!“

„Denke das nicht,“ versetzte Leonhard. „Ich weiß zu gut, woran ich bin. Ich weiß auch genau, was mein einziger und letzter Ausweg ist. Die Brigitta ist es! Die muß ich wieder haben und die nimmt mich wieder; sie hat es deutlich und klar genug gesagt – sobald der Stegwirth vom Wirthshaus gejagt ist und wieder Bierzapfer werden muß. Nur so geht es, nicht anders, sonst bricht das Eis unter mir. Dann kannst Du Dir den Schuldschein, den Du von mir hast, einrahmen!“

„Du malst Dir Alles schlimmer, als es ist,“ warf Balthasar, den Kessel vom Feuer setzend, hin.

„Das glaubst Du?“ rief Leonhard lebhaft. „Da irrst Du Dich! Mir bleibt nichts, kein Strohhalm! Das Hypothekenbuch allein frißt Alles! Frage den Amtsschreiber. Ich hab ihn abgeschmiert, damit er das Maul hält! Frag’ in meinem Namen an.“

„Krieg’ ich nichts von Dir, gut!“ sagte Balthasar. „Dann mache ich über meine Fünfhundert das Kreuz! Ich habe sie sauer zusammengespart. Gott Lob, ich kann mir mein Brod noch immer verdienen. Das ist mein Trost.“

„Du nimmst es leicht mit Deinem Gelde!“ rief Leonhard ein wenig spöttisch. „Sonst bist Du nicht so. Der Zimmermannsfrau hast Du wegen sieben Gulden das Bett weggepfändet. Das ist nicht so lange her!“

„Dich pfände ich allerdings nicht aus,“ sagte der Dorfarzt, „wie Andere, denn ich habe viel Gutes bei Deinem Vater genossen. Das hab’ ich immer vor Augen und lege mich nie zu Bett, ohne ein Vaterunser für ihn zu beten.“

„Mein Vater hat freilich viel für Dich gethan,“ sprach Leonhard. „Du bist eine schöne Zeit bei uns gewesen und gut gegangen ist es Dir auch. Ein Bettelbube bist Du gewesen und wärst mit der Zeit nichts als ein elender Vagabund geworden, wenn man sich nicht Deiner bei uns angenommen hätte; das hat meine selige Mutter oft genug gesagt. Durch meinen Vater bist Du Gemeindehirt geworden und dadurch Alles, was Du jetzt bist. Willst Du wirklich dankbar sein, so sind Deine Vaterunser das Allerwohlfeilste, was Du dabei herzugeben hast! Schau, Balthasar, der Zucker-Toni ist immerfort kränklich und wird es bleiben und doch nicht viel älter werden; sein Leben ist doch kein Leben – Du hast es so leicht, kein Hahn wird danach krähen.“

„Du thust meinen Ohren weh!“ sagte Balthasar, indem er sich vor den Verzweifelnden hinstellte mit bittend gefalteten Händen. „Nimm Deine Vernunft zusammen. Schlage Dir so schreckliche Dinge aus dem Kopf, willst Du aber um jeden Preis einem Malheur entgehen und Dir dafür ein siebenfaches auf den Hals laden, so wende Dich an irgend einen Galgenstrick, nicht an mich! Ich habe mich redlich durchgebracht und bin in Ehren grau und alt geworden. Hast Du je etwas Schlechtes von mir gesehen oder nur gehört, daß Du eine so fürchterliche Meinung von mir hast? Lieber wollt’ ich Dir mein Haus schenken und das Bischen, was ich habe, und von Waldwurzeln leben und in einem Dachsloche wohnen!“

„Geh!“ sagte Leonhard, durch den Widerstand aufgebracht. „Für so rein halt’ ich Dich freilich nicht! Ich weiß, warum, und man munkelt es auch und noch weit mehr.“

„Man munkelt freilich viel,“ unterbrach ihn der Alte sehr heftig, „aber das ist das alberne Zeug, das von den Chirurgen herrührt, von diesen Dumm- und Schröpfköpfen, von diesen Blutabzapfern und Bartkratzern! Wenn ich so wäre. wie Du denkst, warum würde ich Nein sagen und um meine fünfhundert Gulden kommen? Warum das Trinkgeld wegwerfen, das Du mir versprichst? Ich bin das nicht, was Du denkst! Da bist Du mit Deiner üblen Meinung an einen harten Stein bös angerannt! Und gerade von heute an sollst Du sehen, daß ich mir besondere Mühe nehme, den Zucker-Toni auf die Beine zu bringen. Der Bube ist kerngesund, leidet an nichts im Inneren, nur der Magen, der Magen! Das kommt aber von den Näschereien her und da soll es auch anders werden. Noch heute nehm’ ich den Stegwirth beim Ohr, und sobald der Bube erst wieder gehörig verdauen kann, wird er gesund und frisch, wie das Fischlein im Wasser. Jetzt hast Du es gehört!“

Nach diesen Worten ging er in die Nebenkammer, um sich anzukleiden, denn es war die Zeit, wo er bei den Patienten seine tägliche Runde zu machen anfing. Leonhard war stumm, hoffnungslos und wie vernichtet sitzen geblieben. Kopf und Arme hingen ihm schwer hinunter, bald irrten, bald wurzelten seine verstörten Augen auf dem Boden.

Ein paar Minuten waren so vergangen, als plötzlich das Geräusch von einem Wagen zu hören war, welcher auf dem steinigen Fahrwege mit größter Eile heranrumpelte. Eine Weile später trat Balthasar, der das Geräusch gehört und sich mit dem Ankleiden beeilt hatte, hervor, als der Wagen eben vor der Hausthür angehalten hatte.

„Wer mag das sein?“ murmelte er.

Aber schon flog die Thür weit auf, und der Stegwirth stürzte wie ein Wahnsinniger herein.

„Balthasar!“ schrie er mit gebrochener, schluchzender Stimme, „mein Toni, mein lieber, armer Toni ist todt!“

Er warf sich auf einen danebenstehenden Block, der zum Holzspalten diente, um nicht vor Jammer zusammenzubrechen. Leonhard, der bei der Neuigkeit erst gewaltig emporgefahren war, saß bald darauf wie niedergedonnert da, aber seine Blicke, sowie die Balthasar’s, der die Ruhe eines alten Arztes behalten hatte, fuhren mit eigenthümlicher Beredsamkeit hinüber und herüber.

„Todt, sagst Du?“ war Balthasar’s erstes Wort. „Ich kann es gar nicht glauben!“

[452] „Es ist nicht anders,“ wimmerte der Stegwirth unter Thränen. „Der arme, arme Toni!“

„Wann ist es denn geschehen?“ fragte Balthasar. „Habt Ihr denn nichts zuvor gemerkt, daß Ihr nicht nach mir geschickt habt?“

„Hast Du Etwas gemerkt,“ lautete die Gegenfrage des Stegwirths, „als Du gestern Nachmittag bei ihm gewesen bist?“

„Nichts von der Welt, aber gar nichts,“ gab der alte Doctor zur Antwort. „Ich habe ihm auch nichts verordnet, gar nichts einnehmen lassen – keinen Tropfen.“ Er warf dabei einen Seitenblick auf Leonhard, welchen dieser wohl verstehen sollte. „Nicht wahr, Stegwirth?“

„Ich weiß in diesem Augenblicke nichts,“ erwiderte der Stegwirth, „als daß der Knabe todt ist und mich ein schreckliches Unglück heimgesucht hat!“ Sich erhebend und Leonhard, der hinter ihm am Heerde saß, anblickend, setzte er rasch hinzu: „Du hier? Jetzt kriegst Du die Brigitta wieder! Jetzt wird sie nicht mehr Nein sagen, Du glückliches Sonntagskind!“

Leonhard verzog keine Miene und blieb stumm.

„Ueber was hat er denn geklagt?“ fragte Balthasar mit Interesse. „Es muß doch Etwas vorgegangen sein, denn es fällt gar so selten vor, daß der Tod kommt und nicht zuvor ein Zeichen giebt!“

„Doch war es so,“ sagte der Stegwirth. „Wir haben nicht eher an’s Sterben gedacht, als bis die Leiche kalt vor unseren Augen lag. Toni war erst unruhig, das ist er aber oft gewesen, schlief aber um Mitternacht fest ein. Gegen zwei Uhr war er wieder erwacht. Seine Mienen waren so verzogen und die Reden so irre, daß mich die Magd zu wecken ging. Als ich gekommen war und das Kind mich sah, wollte es eine Taube. Ich ließ schnell eine aus dem Taubenschlag holen, aber ehe sie gekommen war, hatte Toni den letzten Seufzer gethan. Ich hab’ es nicht geglaubt, ich hab’ es noch lange nicht geglaubt! Ach, Jesus, ach, Jesus!“

„Du kommst gewiß, mich zu holen?“ sagte Balthasar.

„Deshalb komm’ ich,“ erwiderte der Stegwirth. „Komm und fülle mit allen belebenden Mitteln, die Du hast, Deine Taschen, vielleicht ist es ein Starrkrampf – aber nein, nein, das Kind ist todt, der Weißbart hat es gesagt – o, das Kind ist todt und ich wollte, ich wäre es auch!“

Unter diesen Wehklagen stürzte er zur Thür hinaus.

„Das kommt Dir recht,“ flüsterte der alte Balthasar hinausgehend, um dem Stegwirth zu folgen, Leonhard zu. „Es ist, als ob der Teufel diese Nacht Deine bösen Wünsche erhört und dem armen Kleinen an den Leib gegangen wäre!“

„Mag es so sein oder so,“ versetzte Leonhard, sich emporrichtend. „mir ist es gleich. Ich kriege die Brigitta und Du kriegst Dein Geld!“

Der Wagen brauste, während auch Leonhard gleichzeitig heimging, mit derselben Schnelligkeit davon, mit welcher er gekommen war. Aber der Stegwirth hatte seine Pferde umsonst so angestrengt und umsonst den Wunderarzt in’s Haus herbeigeholt. Der Zucker-Toni war todt und blieb todt.




5.

Mariä Himmelfahrt war herangekommen. An diesem Tage bildete die Eröffnung und Ausweihung einer altberühmten, der Mutter Gottes geweihten Kapelle, die in Folge eines Brandes über zehn Jahre lang geschlossen war, ein besonderes Kirchenfest, welches eine mächtige Anziehung auf die Burgsauer und die ganze Umgegend übte. Seit der Vornahme der Wiederherstellung waren die Gemüther auf diesen Act lange gespannt und die Gerüchte wußten immerfort etwas Neues über die Pracht des Hochaltars, über die kunstvollen Schnitzwerke und namentlich über ein riesengroßes Wandgemälde zu erzählen, von welchem letzteren es sogar hieß, es sei so gelungen, daß künftighin nicht einmal ein glaubensloser Städter, sei er Jude oder Protestant, an der Burgsau vorübergehen werde, ohne es in Augenschein genommen zu haben.

Fast in der Mitte der Burgsauer Thalfläche stand auf einer sanften Anhöhe ein Franciscaner-Kloster, ein Jahrhunderte alter Bau von imposantem Umfange in byzantinischem Style. Es hatte einst bessere Tage gesehen, als daselbst vierzig bis fünfzig Mönche gewohnt und bei einem frömmeren Menschenschlage, als der heutige, ein äußerst schwunghaftes Bettelgeschäft betrieben hatten. Gegenwärtig war die Zahl derselben auf vier Conventpater mit einem Guardian an der Spitze und ein paar Laienbrüder zusammengeschrumpft, welche von dem Mutterstift der Landeshauptstadt abhängig waren.

Die ebenerwähnte Kapelle, ein späterer Zubau im Styl der Lorettokirchen, befand sich auf einem wohlgewählten Platze dicht am Kloster und gerade am Eingange zum Kirchhof, welcher, trotz der in neueren Zeiten errichteten Pfarrei im Markt Burgsau, noch immer zur allgemeinen Begräbnißstätte diente.

Dem gegenwärtigen Guardian, einem der modernen Zeit durchaus nicht feindseligen Mönche, unter welchem die Kapelle in ihrem Inneren bis auf die kahlen Mauern ausgebrannt war, gebührte auch das Verdienst, die Wiederherstellung nach seinen eigenen Anordnungen bewerkstelligt und überhaupt ermöglicht zu haben.

Der schönste Tag begünstigte die kirchliche Feier und daher war der Zudrang so groß, daß die colossale Klosterkirche, wo das Hochamt celebrirt und eine lange Predigt gehalten wurde, die Menschenmenge kaum zu fassen vermochte. Als hierauf die Einweihungs-Ceremonie vorgenommen worden war, stand oder kniete natürlich Alles auf freiem Felde draußen, den stechenden Sonnenstrahlen ausgesetzt, während nur ein kleines Häuflein der heiligen Handlung im Innern der Kapelle beiwohnen konnte.

Unter der Mehrzahl derer, welche ihre Andacht da außen verrichten mußten, befand sich auch Balbina mit ihrer Mutter, einer sehr alten, zusammengeknickten Frau, auf deren faltenreichem und bekümmertem Gesichte sich keine Spur mehr zeigte, wie schön und lustig sie auch einst gewesen war. Doch, trotz Schicksalen und Jahren, waren die Züge tiefster Herzensgüte unverlöscht geblieben. Mutter und Tochter lagen nebeneinander auf den Knieen, im Gebete ganz versunken. Ihre ganze Haltung bekundete, daß ihre Andacht das besondere Bedürfniß eines aufgewühlten und Hülfe erflehenden Herzens war.

Die Tochter hielt krampfhaft das Gebetbuch in den Händen, welche von Zeit zu Zeit leise erzitterten und bald darauf heftig zusammenzuckten, und ließ keinen Blick nebenaus schießen, während die Mutter, trotz ihrer gleich eifrigen Andacht, ihre Augen gar oft zum Himmel und auf Balbina richtete, wie wenn sie für diese, nicht für sich Hülfe brauchen und beten würde. Gewiß war auch viel Mutterangst dabei, daß sie die Tochter so oft in’s Auge faßte. Endlich war die Eröffnungsfeier vollbracht und es begann das Ein- und Ausströmen der Neugierigen, von welchen die meisten auf diesen Moment sehnlichst gewartet hatten, um die neue Ausstattung der Kapelle zu besichtigen.

„Wir aber gehen jetzt heim,“ sagte Balbina, deren Aussehen das einer äußerst Zerstreuten war.

„Was fällt Dir ein!“ versetzte die Mutter höchst verwundert. „Wie kannst Du es über das Herz bringen? Und die Kapelle anzusehen, gehört heute zur Andacht obendrein!“

„Du hast Recht,“ sagte Balbina, „aber Du glaubst nicht, wie schrecklich mir die vielen Leute sind!“

„Wir wollen uns nicht drängen, nicht stoßen,“ sagte die alte Frau. „Zu versäumen ist Nichts.“

Sich stumm fügend, folgte erst Balbina der Mutter durch den Menschenknäuel langsam nach, bald aber fing sie sich sehr mannhaft vorzudrängen an, daß die Mutter nahe daran war, sie aus den Augen zu verlieren.

„Balbina!“ ermahnte die Alte, ihre Tochter hinten am Kleide zupfend.

„Warten macht keine Freude,“ erwiderte Balbina ungeduldig. „Ich danke Gott, wenn es vorbei ist.“

Sie hatte es kaum gesagt, als sie sich schon mit einer am Weibe ungewöhnlichen Entschlossenheit durch die dichtgedrängten Menschengestalten hindurcharbeitete. Bald darauf kam sie der Mutter aus dem Gesicht und mußte schon lange vorher in der Kapelle gewesen sein, ehe die alte Frau nur die Thür erreicht hatte. Hier an dem einzigen Eingange war das Gedränge durch das Ein- und Ausströmen der Leute am größten.

„Nicht wahr?“ redete ein alter Bauer sie an. „Da geht es sauer, aber nur Courage, reuen wird es Dich nicht!“

[465] „Ist es da drinnen gar so schön, Michel?“ fragte Balbina’s Mutter den aus der Kapelle heraustretenden alten Bauer.

„Nachbarin,“ erwiderte der alte Michel in Ekstase, „das ist schon prächtig. Der Hauptaltar, dann die Schnitzerei – das ist sehr schön, aber gefällt mir lange nicht am Besten! Denn sieh, geschnitzte Engel sieht man alle Tage, aber die Malerei auf der Hinterwand ist so ausgefallen, daß Du meinst, Du kannst auch greifen, was Du siehst! Das ist überaus künstlich, und sobald Du eintrittst, merkst Du schon, daß es nicht vom Schmierpeter ist! Da wirst Du die Augen aufreißen!“

„So?“ rief die Alte hochgespannt. „Ein so schönes Bild?“

„Weißt Du, Oberangerin,“ gab Michel zur Antwort, „eigentlich ein Bild ist es nicht. Die Sache ist so. Wie die Hinterwand klafterhoch und -breit hinläuft, ist sie von der Malerei ganz bedeckt. Wenn wir es doch am Ende ein Bild nennen wollen, so ist es eines, das keinen Rahmen hat, aber auch keinen braucht! Du wirst Dein Wunder daran sehen! Wenn es oben auf der Dreikönigsspitz aufgehängt wäre, so ginge ich mit meinen alten Beinen hinauf! Also behüte Dich Gott und laß Dich die Mühe nicht reuen!“

Es war Thatsache, daß das Wandgemälde, von welchem die Rede war, das allgemeine Interesse ausschließlich an sich gerissen halle und daher der Wahl des Stoffes, so wie der Ausführung eine künstlerische Leistung zu Grunde liegen mußte, um einen so durchschlagenden Erfolg zu erzielen, wenn auch die Schwärmerei des alten Michel nicht als Maßstab des Kunstwerthes betrachtet werden konnte. Den Beifall des Landvolkes theilten aber auch die Gebildeten, worunter der Hofrath, die höheren Beamten und Geistlichen zu zählen waren. Der Guardian, ein unterrichteter und kunstsinniger Mann, unter dessen Protection das Werk zu Stande gebracht worden war, hielt es sogar für ein großes Meisterwerk.

Das Wandgemälde stellte nämlich das jüngste Gericht in einer ganz selbständigen und gewiß geistvollen Auffassung vor, und zwar nicht den Moment der Scheidung der Seligen und der Verdammten, sondern lange Zeit, vielleicht Jahrhunderte darnach.

Der Himmel, welcher das oberste Drittel des Raumes einnahm, war, allen Abbildungen entgegen, welche ihn in seligem Selbstgenügen oder gar in Wonne schwelgen lassen, von Trauer erfüllt. Es war hohes, himmlisches Mitleid mit den ehemaligen Mitmenschen, welche nun für ewig in die Hölle gestürzt waren. Dieser Gedanke vereitelte die Seligkeit der Auserwählten, und selbst Gott Vater wendete sein ehrwürdiges Greisenhaupt bei Seite und schien die Pein seiner unerbittlichen Gerechtigkeit zu fühlen.

Der Himmel war sonach der Reflex der Hölle, auf welche der Künstler die ganze Kraft seines Talentes geworfen hatte und die sich auch auf einem doppelt größeren Raume ausbreitete. Hier war ein lebendiger Jammer, eine künstlich genährte Verzweiflung, ein psychologischer Reichthum aller Schmerzen, welche das Herz empfinden kann, eine ganze Stufenleiter innerer Qualen zu erblicken. Um zwei Hauptgruppen herum reihte sich eine Fülle kleinerer Scenen, meist pathetischer, nur selten humoristischer Natur.

Bei der einen Gruppe, welche reich an Figuren war, sprang ein König mit seinem Gefolge in die Augen. Er hatte einen brennenden Pechkranz auf dem Haupte und die Flammen bildeten seine Krone. Die Hände waren am Rücken gebunden, und er stand im geschmolzenen Silber erpreßter Steuern. Vor ihm gaukelten einige als Hofschranzen verkleidete häßliche Teufel, welche ihn unter Grimassen tiefster Devotion verhöhnten und sogar anspieen. Zu seinen Füßen spielten einige noch unausgewachsene, kinderähnliche Teufelchen mit seinem Reichsapfel Fangball. Einige Minister, im Leben gewöhnt sich mit der Unverantwortlichkeit der Krone zu decken, waren auf diesem Platze nicht so glücklich, sich hinter dem Rücken des Monarchen vor den Griffen der Ungeheuer sicher zu stellen. Einer derselben ließ sich in feigster Angst wie ein Kautschukmann beliebig zusammendrücken; eine andere Excellenz hielt ein Teufel im linken Arm, wie eine Baßgeige, welcher sie auch frappant ähnlich sah, während seine Rechte mit dem Behagen eines passionirten Musikers dieselbe über den Rücken mit einem Schwerte strich, eigentlich sägte. Der König, von solchen Excessen umgeben und von eigenen Qualen gepeinigt, stand dennoch unverzagt da, das Gesicht mit einem knirschenden, blasphemischen Ausdruck gegen den Himmel gekehrt, auf welchen er im Leben so sicher gerechnet und der ihn nun so im Stiche ließ.

Bei der anderen Gruppe sah man einen See, über welchem eine Unzahl auf das Dichteste aneinandergedrängter Weiberköpfe in Hohlkugelform hoch in der Luft schwebte und gleichsam das Firmament bildete. Es waren Köpfe gefallener Mädchen, von Sünderinnen und Verbrecherinnen aller Art, mit dem abwechslungsreichsten Ausdrucke von Verzweiflung und Entsetzen und Reue, meist jung und schön. Aus aller Augen perlten Thränentropfen [466] hervor, welche, unten in einem weiten Becken aufgefangen, jenen Thränensee bildeten. Dieser See half eine von allen Seiten von unzugänglichen Felsen umringte, kerkerartige Einöde abschließen. Das durchweg nackte Gestein und das grünliche, durchsichtige Wasser, an dessen Ufer wenig blattloses Krüppelholz stand und einige Legföhren hinkrochen, zeigten an, daß dieses Terrain in hoher, frostiger Bergregion gelegen war.

Diese Landschaft war der grauenvolle Aufenthalt eines jungen, reizenden Weibes in poetisch ausgeschmückter Bauerntracht. Es floh in wildester Eile vom Ufer in den Hintergrund hin, die eine Hälfte des lieblich sanften, seelischen, aber von Entsetzen entstellten Gesichtes zurückwendend. Es war, als wollte es noch einmal zurückschauen, ohne jedoch den Muth und die Kraft dazu zu finden, denn dahinter aus dem See blickten die Füße eines Kindes oder Säuglings hervor, welcher hineingeworfen worden war und zu Grunde sank. Ueber dem Kopfe des schönen unglücklichen Weibes und über dem Haare, das sich auf der Flucht ganz gelöst hatte, schwirrten phantastische Insecten, welche das Opfer gleich wüthenden Hornissen und Bremsen verfolgten und die schrecklichen Gedanken und Gewissensbisse symbolisirten.

Um diese beschriebenen drei Hauptgruppen herum schlang sich noch ein reicheres Detail kleinerer Scenen, welche gleichfalls innerhalb des Ideenkreises und Fassungsvermögens des Landvolkes lagen und hauptsächlich deshalb ihre sofortige Wirkung hervorbrachten.

Der alte Nachbar Michel war schon eine gute Weile fortgewesen, ehe es Balbina’s Mutter gelungen war, an die Schwelle der Kapelle zu treten, oder vielmehr hineingeschoben und hineingestoßen zu werden.

In diesem Augenblicke erschallte aus dem Hintergrunde der Kapelle ein geller, das Mark durchdringender Weiberschrei, dem das laute Gemurmel der versammelten Menge folgte. Gleichzeitig war eine Bewegung im Innern des Kirchleins entstanden, die Leute mußten zurückweichen und Platz machen. Auch die alte Frau war wieder in’s Freie bei Seite geschoben worden. Bald darauf trugen vier Männer eine Frauensperson hinaus.

Die alte Frau, die auf ihrem Platze nichts sehen konnte und nur gehört hatte, was vorging, fragte einen vor ihr stehenden großen Burschen mit athemloser Hast:

„Es wird doch nicht Balbina sein?“

„Die ist es schon,“ war die kurze Antwort.

Die alte Frau stürzte blindlings nach, erreichte aber den Zug erst in des Küsters Hofe, wo ein Brunnen stand, in dessen Nähe Balbina auf einen Rasen soeben hingelegt worden war.

Das Aussehen des Mädchens war erschreckend; es war bleich, entfärbt, ein wahrhaftes Wachsgesicht, wie todt.

.Du darfst Dich nicht so ängstigen,“ sagte einer der Männer, die Balbina getragen hatten, zu deren Mutter, welche unter tiefen Wehklagen alle Anstrengungen machte, ihr Kind zur Besinnung zurückzuführen. „Bei dem Gedräng’ und der Hitze ist nichts leichter! Während des Hochamts ist die Müllerin gerade so hingefallen. Sie kommt schon zu sich.“

Dieses Prognostikon traf ein, hatte aber ein besorgtes Mutterherz zu lange auf sich warten lassen. Endlich regte und rührte sich Balbina, hatte die Augen aufgeschlagen und wurde mit der Mutter Hülfe in eine sitzende Stellung gebracht, in welcher sie tiefe Athemzüge that und eine Weile mit gesenktem Kopfe sprachlos verblieb. Mit dem Eintritt dieses Moments hatten sich die Neugierigen, die sich angesammelt, entfernt und Mutter und Tochter allein gelassen.

„Mutter,“ sagte Balbina mit schwacher Stimme und düsteren Blicken, „das thut wohl! Ja, daheim ist daheim! Ich habe es vorhergesagt, wie schrecklich mir unter den Leuten ist. Du bist schuld!“

„Hätt’ ich das vorher gewußt!“ seufzte die Mutter.

„Aber,“ sagte Balbina, plötzlich sich ringsherum scharf umsehend, „wir sind ja nicht zu Hause! Wo hast Du mich wieder hingeführt?“

„Sprich nicht so viel, liebes Kind,“ bat die Mutter, die Tochter zärtlich an sich drückend. „Du bist noch voll Schwindel! Halte Dich nur ein Weilchen ganz ruhig, dann geht Alles vorüber!“

„Nein,“ rief Balbina, indem sie sich wie ein Blitz erhob. „Ich bin nicht so schwach und bleibe nicht, ich will nach Hause!“

Mit den letzten Worten im Munde eilte sie schon zu der Thür, die aus dem Hofe in’s Freie führte, hinaus, ohne sich von den Rufen der Mutter zurückhalten zu lassen. Draußen aber, sobald sie die Menschenmenge erblickt hatte, prallte sie zurück und sagte, auf die Mutter zueilend, ganz bestürzt:

„Die Leute! Da kann ich nicht durch und nicht vorbei! Lieber hier in diesen Brunnen, als unter die Leute! Ich müßte mich zu Tode schämen!“

„Fahre nicht gleich so auf,“ beschwichtigte sie die Mutter. „Das ist ja sonst nicht Deine Art, aber daraus siehst Du, daß Du Dich noch still verhalten mußt, damit Dein Blut aus seiner Unruhe kommt. Wir wollen zum Hinterpförtchen hinausgehen, wenn Du es willst. Mir ist es ja recht. Wir wollen uns führen, Balbinchen!“

Sie nahm die Tochter am Arm, und Beide gingen auf einem Umwege rückwärts hinaus.

„Warum hättest Du Dich zu schämen?“ brach die Mutter das bisherige Schweigen, als sie auf einen einsamen Feldweg gekommen waren. „Eine Ohnmacht ist ja keine Schande und kein Verbrechen! Das kann auch der Frau Hofräthin und sogar der Kaiserin geschehen.“

„Der Feldweg ist schmal,“ sagte Balbina darauf. „Laß mich los!“

Sie entzog der Mutter ihren Arm und ging voran, erst in ziemlich gleichem Schritte, bald aber schneller und immer schneller, ohne auf die Zurufe der Mutter zu hören, und bald war sie auf dem beholzten Fußsteig, der die Halde hinaufführte, entschwunden. Die Mutter erblickte sie nicht eher wieder, als bis sie zu Hause angekommen war.

Balbina war schon lange in ihrer Kammer, die im oberen Stockwerk lag, als die Mutter dort eintrat. Das Mädchen war noch in ihrem ganzen Sonntagsstaat, ohne ein einziges Stücklein abgelegt zu haben.

„Wo willst Du denn hin?“ fragte die Mutter, darauf anspielend, mit erzwungenem Lächeln, während sie die Tochter ängstlich beobachtete.

„Ich danke dem Schöpfer, daß ich hier bin!“ sagte Balbina und gleichzeitig brach ihre tiefe Aufregung ganz hervor. „Von hier bringt mich Niemand mehr heraus! Ich muß dableiben! Ich kann mich in diesem Leben nicht mehr öffentlich zeigen! O, diese Schande – ach, wär’ ich gestorben, ehe ich so Etwas erlebt!“

„Aber, liebe Närrin,“ wollte die Mutter ihr zureden, als die Tochter wieder sagte: „Hast Du es nicht selbst gehört? Alles hat auf mich gedeutet, mich groß angeschaut, laut und heimlich sich es gesagt! O, stelle Dich nicht so, Mutter! Wo hättest Du die Ohren gehabt? ‚Balbina ist es,‘ schrie Alles um mich her wie aus einem Munde! ‚Balbina ist es,‘ das sagte man ohne Ende! Ja, es ist wahr, ich bin es! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Wer hat mich an die Wand einer Kirche für ewige Zeiten so hingemalt? Lange, lange hab’ ich darauf geschaut und nicht geglaubt, daß ich es bin, da aber alle Leute gerufen haben: ‚Balbina ist es!‘ so hab’ ich eingesehen, daß ich nicht blos träume! Ich bin es und ich bin es!“

Sie rang verzweiflungsvoll die Hand, sich zu Boden krümmend.

„Aber nein,“ sagte die Mutter, über den Zustand der Tochter auf’s Höchste beunruhigt, „Du bist es nicht! Kein Mensch hat es gesagt! Niemandem ist es eingefallen, als Dir, weil Du noch im Schwindel redest und durch Dein tolles Nachhauselaufen Dein Blut wieder rebellisch gemacht hast! Ich hätte es ja gehört –“

„Hast Du es denn nicht selbst gesehen,“ sagte Balbina, „und die Aehnlichkeit herausgefunden?“

„Ich habe die Malerei freilich nicht gesehen,“ versetzte die Alte, „denn als ich eintreten sollte, da haben sie Dich, unglückseliges Kind, eben herausgetragen!“

„Dann hast Du es doch gehört,“ sagte Balbina rasch. „Da war schon aller Leute Mund voll davon!“

„Einbildung, nichts als Einbildung,“ erwiderte die Mutter. „Unsere Kuhmagd war auch in der Kapelle. Ich gehe, sie zu rufen und zu fragen!“

„Bleib!“ rief die Tochter. „Ich habe sie bereits gefragt. [467] Sie leugnet es, wie Du, weil sie mir gut ist. O, gäbe der Himmel, daß ich es nicht gewesen wäre! Ich bin es aber, ich bin es! Wenn ich an diese Schande denke, so können sich alle meine Gedanken verkehren und ineinander verwirren!“

„Kein Wunder!“ rief die Mutter jammernd. „Du sprichst im Fieber, Du mußt einen Löffel voll von den Tropfen einnehmen. Wo hast Du die Flasche? Das wird Dich ruhiger machen. Aber noch besser, ich schicke gleich hinunter zum alten Balthasar –“

„Ich will ihn nicht!“ fuhr Balbina ganz schreckenbleich zusammen. „Ich brauch ihn nicht! Willst Du mich todt machen?“

„Also nicht,“ versetzte die Mutter, allen Launen der Kranken nachgebend. „Sei ruhig; er soll nicht kommen, bis Du ihn haben willst!“

„Laß mich allein,“ sprach Balbina, „das hilft mir am Besten. Ich lege mich – ich bin so müde – ein Stündlein Schlaf und mir wird wieder gut werden, so gut, als es sein kann, wenn man in einer Kirche an die Wand gemalt ist!“

Sie taumelte bis an’s Bett und fiel hinein. Die Mutter nahm ihr die Golddraht-Haube und alle lästigen Kleidungsstücke ab, worauf sie sich entfernte, da Balbina inzwischen die Augen geschlossen und sich nicht mehr geregt hatte.

Als die Mutter dann herabgekommen war, sagte sie zur Kuhmagd:

„Sag’ mir, um Gotteswillen, was ist denn mit der Malerei in der Kapelle? Balbina ist wie närrisch!“

„Nichts ist es,“ versetzte die Kuhmagd. „Gar nichts. Ich habe es der Balbina auch schon gesagt. Sie rappelt! Sie rappelt, wenn sie es sagt! Keinem Menschen ist so Etwas in den Sinn gekommen, ich bin lange genug in der Kapelle vor dem Bild dagestanden. Aber, Frau, merkst Du denn nicht, was mit ihr ist? Ich bin jetzt den dritten Sommer hier und habe selbst gesehen, daß Balbina um Himmelfahrt herum jedesmal ganz aus dem Häuschen ist!“

„O, Du hast Recht, Du hast Recht,“ stimmte die Alte klagend ihr bei.

„Sobald aber die Zeit weiter kommt,“ fuhr die Kuhmagd fort, „wird es besser und geht vorüber, und so wird es auch diesmal sein.“

„Gott geb’ es!“ wünschte die Mutter, die Hände faltend. „Gott geb’ es!“

„Die Leute müssen doch Recht haben,“ sprach die Kuhmagd weiter, „wenn sie sagen, daß sie noch immer an den Veit denkt. Es soll gerade Himmelfahrt gewesen sein, als er auf und davon ist.“

„Sehr möglich,“ erwiderte die Frau, „aber an dem Unglück ist nur mein Mann – Gott hab’ ihn selig! – schuld. Er war zu streng, zu hart und konnte den Veit nicht leiden –“

„Nach so langer Zeit,“ bemerkte die Kuhmagd, „sollte es auch schon ruhen. Die gestrige Nacht kann Balbina auch nicht viel geschlafen haben. Ich hörte sie, so oft ich erwachte, über mir herumgehen und sich bewegen.“

„O ich auch, ich auch,“ sagte die Mutter. „Mein Gott, mein Gott! Ein einziges Kind hab’ ich, aber ich weiß nicht, ob ich mehr Sorgen hätte, wenn ich ihrer zehn, wie meine Schwester, hätte!“

Sie hatte sich darauf in die Stube begeben, wo sie sich zu den ersten Bissen zwang, da sie seit dem Morgen Nichts zu sich genommen hatte. Die Nacht war hereingebrochen und Balbina hatte sich in ihrer Kammer noch immer nicht gerührt, wie oft auch die besorgte Mutter heraufgekommen war und an ihrer Thür gelauscht hatte. Der Himmel hatte sich umzogen. Die Wolken gingen zwar noch sehr hoch, weissagten aber den Ausbruch eines Gewitters. Ein wüthender Sturm heulte an den Felswänden, die Bäume auf den Höhen rauschten, wie wilde Wasserfälle.

Die alte Frau hatte lange gewacht, um bei der Hand zu sein, wenn Balbina sich melden oder herunterkommcn sollte, bis ihr auf ein Mal die Augen von selbst zugefallen waren. Es war Mitternacht längst vorüber, als sie plötzlich munter wurde. Ohne Zweifel war sie von den Tritten geweckt worden, welche sie schon im leisen Schlafe mütterlicher Besorgniß durch die Decke hindurch vernommen hatte. Sie griff nach der Oellampe, um sich sogleich hinauf zu verfügen, als in dem Moment die ganze Zimmerdecke widerhallte, wie wenn in der oberen Kammer ein schwerer Gegenstand zu Boden geworfen worden wäre.

Athemlos kam die Alte oben an. Die Kammer war stockfinster, aber der Schein der Oellampe zeigte ihr sofort Balbina, welche auf dem Rücken, der ganzen Länge nach, auf dem Boden lag.

„Balbina!“ rief die Mutter außer sich, allein ihre Mienen ebneten sich, als die Tochter auf den Ruf sich zusammengerafft hatte und sogleich emporgesprungen war.

Balbina’s Aussehen war verstört, das Haar wirr, das Gesicht von einer eigenthümlichnn, von höchster Aufregung zeugenden Blässe, auf der Stirn und um die Nase herum hingen leichte Schweißperlen.

„Gottlob, daß Du kommst, Mutter!“ rief sie mit wilder Lebhaftigkeit. „Um mich wär’ es sonst geschehn! Laß mich nie mehr allein, o es ist gräßlich, ich halte es nicht aus! Sie kommen – sie kommen gewiß wieder und schleppen mich mit sich fort! Laß mich nicht allein, liebste Mutter, oder Du siehst mich nie wieder! Sie kommen gewiß und passen mich ab – ach, lieber sollte mich der Satan anfassen, als diese Kerle mit solchen entsetzlichen Gesichtern!“

„Grundgütiger Heiland!“ schrie die Mutter, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. „Bist Du bei Trost? Niemand will Dir Etwas thun, alle Leute haben Dich lieb, nur Du quälst Dich allein und mich mit Dir! Das ist sauber! Ich denke, Du schläfst –“

„Ich habe geschlafen,“ fiel ihr Balbina in’s Wort, „aber die Träume, die Träume! Das sollte nicht sein! Wie in Verzweiflung bin ich aus dem Bett gefahren und bin hier an das offene Fenster getreten und habe die Hände gefaltet und drüben auf die drei Kreuze geschaut und zum Erlöser gebetet und ihn mit Thränen inbrünstig um Hülfe angefleht, daß sich ein Stein meiner erbarmt hätte! Da – höre doch, Mutter! – da fangen sich drüben die Kreuze zu bewegen an, ja – schüttle nicht den Kopf – die Kreuze gingen herum, ich habe es nicht blos gesehen, sondern auch gehört, wie das schwere Holz auf den Steinplatten angeschlagen hat! Da kommen sie heran, immer näher, immer näher, und als ich ganz deutlich sehen kann, sind es nicht drei Kreuze, sondern nur zwei! Es sind die Kreuze, auf welchen die Schacher hängen – diese kommen heran, Christus hat sich garnicht gerührt, er allein hat sich von seinem Fleck nicht gerührt!“

„O hör’ auf!“ schrie die Mutter, die es kalt überlief.

„Wenn es nur aus wäre,“ fuhr Balbina noch exaltirter fort. „Die Schächer kommen und stellen sich hier an diesem Fenster ganz knapp vor mich hin. Ich war wie starr. Ihre Gesichter kann ich in diesem Leben nie wieder vergessen! Sie erheben die Köpfe, sie arbeiten sich einen Arm aus den Stricken los, mit dem andern halten sie sich an den Kreuzen – ich sehe, wie sie nach mir langen wollen, dennoch kann ich nicht vom Fenster fort! Ich habe Todesangst, ich will davonrennen, aber meine Füße sind Blei. Endlich kommen die zwei schrecklichen Arme fast bis an mich heran – da fall’ ich vor Entsetzen zurück und das war das Glück! Mit ihren Fingerspitzen haben sie mich schon berührt!“

„Unglückliche,“ klagte die Mutter, „aber doch nicht unglücklicher, als ich es bin! Wie soll ich Dir von diesen tollen Einfällen helfen! Komm’ und setze Dich auf das Bett neben mich und sage mir und beichte mir einmal aufrichtig, was Dir ist und was Dich auf solche Gedanken bringt! Vor Deiner Mutter sollst Du nicht immer wie das Buch mit den sieben Siegeln sein. Komm’, komm’, meine einzige Balbina!“

„Ja, Mutter,“ sagte Balbina mit einer beinahe schüchternen Fügsamkeit, als wenn ihr sonst starker Wille vollständig gebrochen wäre. „Doch sei so gut und schließe das Fenster zuvor recht fest zu!“

Die Mutter hatte das Fenster geschlossen und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, auf welches sich Balbina bereits niedergelassen hatte.

„Nicht wahr,“ begann die Mutter vertraulich, „Du denkst immerfort an den Veit –“

„Ja,“ versetzte die Tochter, sehr lebhaft auffahrend, „an ihn und Alles, was darumhängt, und das ist mein Fluch!“

„So haben die Leute wirklich Recht,“ warf die Mutter hin.

„Die Leute haben Recht!“ sagte Balbina, „und auch der Maler hat Recht! Ich habe geschwiegen, so lange es Niemand gewußt hat, als ich allein, und wenn ich es Dir noch immer nicht gestehe, so hörst Du es morgen von allen Leuten an allen Ecken ohnedies! Hilf mir, rathe mir! Ich will es Dir so erzählen, [470] wie wenn ich schon vor Gottes Richterstuhl stehen würde und bekennen müßte! Ich freue mich sogar, Dir Alles mitzutheilen, es wird mir gewiß leichter, denn Du glaubst gar nicht, welche Last ein solches Schweigen ist und wie ein so verstecktes Herzleid am Herzen frißt! O hätte ich Dir längst Alles anvertraut, o hätte ich gleich von allem Anfang an Alles gestanden, dann wäre es vielleicht ganz gut und ganz glücklich ausgegangen, dann hätt’ ich auch nie einen Tag wie den heutigen erlebt und die beiden Schächer wären gewiß nicht gekommen.“

Sie sank nach den Worten, in Schmerz und Wehmuth zerflossen, auf das Kissen. Die alte Mutter stand, auf die Enthüllungen wartend und vor ihnen zitternd, da, bis sich Balbina gesammelt und wieder erhoben hatte.

„Jetzt höre Alles,“ sagte Balbina, während sie die Hand der Mutter ergriff, „versprich mir aber, daß Du mir Alles glaubst!“

„Geschwiegen hast Du oft,“ versetzte die Mutter, „gelogen noch nicht!“

Balbina wollte beginnen und hatte schon das Wort auf der Lippe, schluckte es aber rasch hinab, wie wenn sie den Muth verloren hätte. Eine Pause war eingetreten, als sie plötzlich den Kopf wieder erhob und, die Worte furchtsam hinhauchend, sagte:

„Einen einzigen Sommer im Leben war ich auf unserer Alm Almerin –“

„Das ist wahr,“ versetzte die Mutter voll Erwartung. „Ich und der Vater wollten es gar nicht zugeben.“

„Hast Du Dir Nichts dabei gedacht,“ fragte Balbina, ängstlich auf die Antwort lauschend, „daß ich damals darauf so bestanden habe?“

„Gewiß,“ sagte die Mutter. „Du wärst aber mit dem Veit doch zusammengekommen, wenn Du auch nicht oben gewesen wärst.“

„Ach, hättest Du es mir nicht erlaubt!“ schrie Balbina laut auf und brach jammernd die Hände. „Ich bin einem größeren Unglück entgegengegangen, als sonst zu befürchten gewesen wäre! Ich habe eine schwere Ursache gehabt, auf die Alm zu gehen. Ich habe gewollt, daß ihr mich nicht länger seht, Nichts von der Schande wißt, die ich über Euch und mich selbst bringe –“

„Mein Gott!“ rief die Mutter mit schreckengleicher Ueberraschung emporfahrend. „So weit –“

„So weit ist es mit mir gekommen!“ ächzte Balbina unter dem Tuche, mit welchem sie ihr schamerglühtes Gesicht bedeckt hatte, dumpf hervor. „Gerade den Tag vor Himmelfahrt kam das Kind zur Welt – –“

„Und –“ fragte die Mutter, das entsetzliche Gewicht ihrer Frage fühlend, mit bebender Stimme, „und was ist aus dem Kind geworden?“

„O Mutter!“ schrie Balbina auf, indem sie emporsprang und alle ihre Gesichtszüge, die seither beruhigt waren, den früheren Ausdruck fieberischer, wilder Aufregung annahmen. „Jetzt erst wird es schlimm! Ich liege auf dem Heuboden, das Kind schläft neben mir. Da hör’ ich die Stimme des Vaters. Er flucht, weil er mich nirgends findet. Ich kann mich nicht rühren, kann auch nicht antworten. O, wäre Veit einige Stunden früher gekommen, als der Vater, so hätte er das Kind mitgenommen und es wäre in den besten Händen aufbewahrt gewesen! Da seh’ ich, daß der Vater auf den Heuboden hinaufkommt – die Leiter rührt sich – und in diesem Augenblicke giebt das Kind einen Laut von sich.

Da schießt Kraft in mich. Ich verberge das Kind unter dem Heu und lege die Hand auf seinen Mund. Da schaut schon der Kopf meines Vaters herein. ‚Bist Du taub?‘ schreit er mich an.

‚Ich bin krank,‘ geb’ ich nach Gott weiß wie viel Zeit zur Antwort. ‚Wo fehlt’s?‘ sagt er darauf. ‚Du siehst wirklich recht übel aus?‘ Ich sagte: ‚O mir ist auch übel! Geh geschwind hinab und laß den alten Balthasar kommen!‘ ‚Gut,‘ sprach der Vater, ‚mir scheint selbst, daß es vonnöthen ist. Aber warum hast Du Dich auf den Heuboden gelegt?‘ ‚Ich weiß gar nicht,‘ sag’ ich mit einem gescheidten Einfall. ‚Ich gehe hinab, geh nur voran!‘ Der Vater stieg hinab, meine Glieder zitterten so, daß er mir von der Leiter hinabhelfen und mich in die Kammer hineintragen mußte. Der Vater ist nicht lang geblieben wegen Balthasar – “

„Das war also damals Deine Krankheit!“ rief die Mutter, der ein spätes und fürchterliches Licht aufgegangen war, sich auf die Stirn klopfend.

„Eilends bin ich auf den Heuboden wieder hinauf,“ fuhr Balbina, wie von dem Entsetzen ihrer Geständnisse fortgerissen, fort, „um nach dem Kinde zu sehen. O hätte es mir doch von Weitem entgegengeweint! Mutter – – es war erstickt –!“

Die Alte that einen Schrei.

„Es war erstickt!“ wiederholte die Tochter mit noch stärkerer Betonung, ohne Rücksicht auf die zurückfahrende Mutter, nur dem unheimlichen Genius gehorchend, welcher ihr heute mit sinnverwirrender Gewalt die finsteren Geheimnisse abpreßte. „Ich war wie verrückt. Stunden vergingen auf Stunden – was half das? Es war erstickt. Da wickle ich es in ein Tuch – ich wußte noch nicht, was damit – ich laufe das breite Geröll hinauf – immer höher und höher, und mein Bündel war so schwer! Ich komme so weit hinauf, bis unter die Dreikönigsspitz und wußte noch immer nicht wohin, aber immer höher treibt’s mich, als wollte ich auf meinen Händen das Kind bis in den Himmel tragen! Da – da steh’ ich plötzlich vor dem kleinen grünen See und ohne mich weiter zu besinnen, werf’ ich das Kind hinein und ohne zu warten, renne ich, vom Satan gejagt, wieder zurück. Ich liege im Sterben darauf in meiner Kammer, als der alte Balthasar kommt. Ich lüge ihm Allerlei vor, er aber sagt: ‚Du, das ist anders. Wo ist das Kind?‘ Ich hab’ ihm gleich die Wahrheit gesagt. Er sagte: ‚Hast Du nicht warten können, bis ich komme? Ich hätte es untergebracht. Wenn es nach ein paar Tagen ausgeworfen wird und aus dem Wasser schaut, wie dann?‘ Dieser Gedanke hat mein Hirn durchbohrt und steckt noch darin. Gleich am anderen Morgen hab’ ich zum Dreikönigssee hinauflaufen wollen, und an jedem Tage bis heut, doch vermocht hab’ ich es nicht – drum ängstigt’s mich, drum schlaf ich nicht – drum geh ich zu Grund und das Kind kommt vom Grund über das Wasser hinauf! Das begreifst Du –“

Sie stierte die Mutter an, wie eine Geistesabwesende.

„Du erzählst mir ein schreckliches Unglück,“ sagte die Alte, „aber es ist nicht so, daß es nicht schlimmer hätte ausfallen können, denn Deine Hand hat sich an Nichts vergriffen, was leben soll, sondern ist selbst unglücklich gewesen! Fasse Dich und Gott wird Dir verzeihen, wie ich Dir verzeihe!“

„Warum hat mich aber Veit verflucht?“ rief Balbina jammervoll. „Er ist an’s Ende der Welt gelaufen, um nicht jemals wieder meine Hände zu berühren! Mir sollten auch die Hände abgehauen werden, wenigstens die eine ungeschickte Unglückshand!“

„Ach, leg’ Dich, leg’ Dich, unglückliches Kind!“ rief die Mutter, von dem Zustande der Tochter nicht weniger, als von den Enthüllungen entsetzt. „Du brauchst Ruhe, schlaf’, oder Du kommst noch von Sinnen!“

Sie faßte sie am Arme und wollte sie in’s Bett drängen.

„Ruhe?“ sprach Balbina in tiefster Betrübniß. „Wer könnte ruhen und schlafen, wenn alle Leute um ihn herum ‚Balbina ist es!‘ schreien? Balbina ist es! und wer stopft der ganzen Welt den Mund?“

„Es weiß es Niemand –“ sagte die Mutter zum Troste. „Nur Du fühlt’st es –“

„Es ist heraus,“ rief Balbina, „für immer heraus! Der Dreikönigssee ist in die Kapelle hinuntergeflossen und steht dort an der Wand! Das Kind schwimmt oben und ich werde dabei erwischt! Alle Kirchenleute sehen mich – Mutter, ist denn das Nichts? Doch horch –“

Sie horchte, plötzlich von einer entsetzlichen Angst ergriffen.

„Es ist ja Nichts,“ sagte die Mutter im Tone der Beruhigung.

„Es hat geklopft!“ flüsterte Balbina, sich mit zitternder Hand an die Mutter anklammernd.

„Der Wind, der Wind,“ sagte die Mutter.

„Nein,“ rief Balbina mit der Energie, die einem hochgestiegenen Paroxysmus eigen ist, „an’s Fenster hat’s geklopft! Oeffne, um Himmelswillen, nicht! Siehst Du dahinter die Gesichter? O, die Schächer, die Schächer! Sie steigen ein – ich sehe den Fuß des einen und auch schon des anderen – weh mir!“

Sie that ein paar Schritte, als wollte sie die Flucht mit rasender Eile ergreifen, und stürzte besinnungslos zu Boden hin. Die Unglückliche erholte sich wieder, nachdem sie mit Hülfe der herbeigerufenen Magd in’s Bett gebracht worden war und einige Zeit geruht hatte, aber ihr Geist war gestört, und die Schächer verließen sie nicht mehr.

[481]
6.

Der Zucker-Toni war schon über vierzehn Tage im Grabe. Die Krankheil, an welcher er so plötzlich gestorben war, hatte der Chirurg Weißbart, der die Todtenschau im Namen des Gerichtes vorgenommen, als Nervenschlag bezeichnet. Dieser Todesfall war aber gegen alle Erwartung ohne die Folgen geblieben, auf welche Leonhard so siegesgewiß gerechnet und welche der Stegwirth als seinen Untergang gefürchtet hatte.

Die alle Muhme nämlich, welcher das ganze Erbe des kleinen Knaben anheimgefallen, war durch allerhand Vorkommnisse im Schooße ihrer Familie plötzlich gehindert, das Stegwirthshaus, ihrem Wunsche gemäß, zu übernehmen, und hatte deshalb gleich am Begräbnißtage dem Stegwirth aus eigenem Antrieb den Vorschlag gemacht, das ganze Besitzthum unter sehr billigen Bedingungen käuflich an sich zu bringen. Der Haufen der Sparpfennige, welche der Stegwirth seit zwei Jahren erübrigt hatte, war nicht groß und hätte bei weitem nicht hingereicht, den Kauf zu realisiren, wenn der Stegbauer, sonst nicht eben als hochherzig bekannt, seinen Säckel nicht aufgethan und tief hineingegriffen hätte, um sich seinen Schwiegersohn zu erhalten.

So war der Stegwirth durch ein Unglück, vor dem er Tag und Nacht gezittert, aus einem provisorischen Dasein herausgekommen und ein unabsetzbarer Besitzer geworden. Da aber hatte er auch nicht mehr länger gesäumt, Hochzeit zu machen, um dem tückischen Schicksal keine Zeit mehr zu lassen, ihm von irgend einer Seite ein neues Hinderniß der Arrondirung auf den Weg zu wälzen. Am nächstfolgenden Sonntag nach dem Himmelfahrtsfeste ging schon die kirchliche Trauung des Stegwirths und Brigitta’s vor sich. Ein großartiges Hochzeitsmahl schloß sich derselben unmittelbar an, zu welchem der Bräutigam die zahlreiche Verwandtschaft und mit einer sein Geschäft berücksichtigenden Noblesse alle ansehnlichen Stammgäste und Kunden eingeladen hatte.

Im Gebirge sind Hochzeiten allgemeine Volksfeste, an welchen sich alle Welt von nah und fern zu betheiligen pflegt. Je angesehener das Brautpaar ist, desto größer der Zudrang. An dem heutigen Tage war daher eine solche Menschenmasse zusammengeströmt, wie man es bei einer gleichen Veranlassung seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das Wirthshaus und alle Plätze im Freien waren von Gästen vollgepfropft, von welchen die Mehrzahl den Tanz, diesen Glanz- und Gipfelpunkt eines solchen Festes, ungeduldig erwartete.

Der Abend war schon da, als die Musik nach beendigter Tafel endlich beginnen durfte. Es wurde auf drei verschiedenen Plätzen getanzt, im Vorhause, im kleinen Saal, die im oberen Stockwerk gelegen waren, und unten zu ebener Erde in einem sehr geräumigen Local, welches auch den Namen seiner ursprünglichen Bestimmung, der Hochzeitssaal, führte. Es verstand sich von selbst, daß sich in diesem letzteren das Hochzeitspaar und die vornehmere Welt beim Tanz belustigte und herumtummelte.

Der Stegwirth war äußerst lustig, voll einer ausgelassenen Freude, welche man gar nie an ihm gekannt hatte und die beinahe mit der frischen Trauer, welche er im Herzen trug, nicht so recht vereinbar schien. Auch Brigitta war von einer außerordentlichen Fröhlichkeit und konnte die Ausbrüche ihrer Freude kaum bändigen, daß sie ihr Ideal erreicht hatte und eine Wirthin geworden war.

Nicht minder lebhaft und fröhlich, als im Tanzsaal, ging es in der anstoßenden Stube her. Hier war großes Geräusch, überlautes Lachen, viel Gezänk, unerträgliche Schwüle und ein undurchdringlicher Tabaksqualm. Um die Hochzeitstafel herum, die in der Mitte stand, waren die zahlreichen Tische von einem gemischten Publicum, meist von Burgsauern, besetzt. Jeder saß da, wo er beim Kommen Platz gefunden hatte.

Nur ein größerer Tisch machte eine Ausnahme. Um diesen saßen die Honoratioren herum, der Herr Pfarrer mit dem Caplan, mehrere Verwaltungsbeamte in fürstlichen Diensten, der Chirurg Weißbart und sogar Grüneisen mit dem unvermeidlichen Corporalstocke. Am Nachbartische befand sich ein vollständig obscures Publicum, bis auf drei Personen, den Dorfmaler Peter Auringer, vulgo Schmierpeter genannt, den alten Balthasar und den Ortskrämer Staubmann.

Auf Mitternacht war es nicht mehr weit. Der alte Balthasar, kein Freund geselliger Unterhaltung, hatte dem Stegwirth die Ehre anthun müssen und es hatte ihn viel Ueberwindung gekostet, so lange auszuharren. Eben war er endlich im Begriffe zu gehen, als ihn ein am Honoratiorentische begonnenes Gespräch von Neuem an seinen Stuhl fesselte.

„Daß aber der Förster noch immer nicht kommt!“ rief der Caplan. „Da geben Sie Acht, da ist Etwas passirt!“

„Jetzt glaub’ ich es selbst,“ versetzte Weißbart. „Der bleibt bei einer Lustbarkeit ohne Ursache nicht aus, am wenigsten heute. Um zwei, drei Uhr sollte er schon zurückgekommen sein. Leicht möglich, daß einem der fremden Herren ein Unglück zugestoßen ist!“

„Nichts leichter!“ sagte der Rentbeamte. „Ich war auf der [482] Dreikönigsspitz nicht oben, aber ich höre von den besten Steigern, daß das seine großen Mucken hat. Da fällt man nicht blos hin, wenn man Unglück hat, da zerschlägt man sich gleich zu Brei.“

„Um den Förster ist’s mir nicht bange,“ bemerkte der Pfarrer. „Der versteht’s, der hat ein Gangwerk! Aber die Herren, die Herren!“

Balthasar’s Aufmerksamkeit wurde in dem Moment abgelenkt und auf eine höchst unangenehme Weise anderswohin gezogen.

Leonhard war eingetreten. Den Hut weit und keck auf einer Seite, schlenderte er mit dem Schein seiner gewöhnlichen Sorglosigkeit und Ungenirtheit in den Saal herein. Sein erster Blick fiel auf Balthasar, welcher sich gern vor ihm unsichtbar gemacht hätte.

„Rücke weiter!“ sagte Leonhard zum Wunderdoktor, während er sich schon an die Ecke der Bank setzte und Balthasar nicht gerade sanft an den Nachbar weiter drängte.

„Wo kommst Du so spät noch her?“ fragte Balthasar mit schwer erkünstelter Cordialität.

Es erfolgte keine Antwort, Leonhard saß, den Hut auf dem Kopfe, die Hände in der Tasche, zu Boden blickend und finster brütend, da.

„Es thut mir leid, daß ich gerade schon gehen muß,“ sagte der Dorfarzt.

„Wir gehen miteinander,“ warf Leonhard verdrießlich, doch auch gebieterisch hin.

„Weißt Du, es ist wegen morgen,“ bemerkte Balthasar in einem Rücksicht erbittenden Tone. „Meine Patienten!“

„Deine Patienten?“ rief Leonhard ziemlich laut und höhnisch. „Muß denn morgen wieder Einer crepiren?“

Balthasar fuhr wie geschossen zurück, während der Ortskrämer, der es gehört hatte, doch ohne die tiefere Beziehung verstanden zu haben, mit der wildesten Schadenfreude lachte.

„Du kennst Dich aus, Leonhard!“ sagte er und lachte von Neuem, als wenn er platzen wollte.

Leonhard erwiderte Nichts und saß, wie früher, stumm und brütend da.

Balthasar traute sich kein Wort vorzubringen und dachte nach, was nun am besten zu thun sei.

„Stark angetrunken ist er und ein böser Kerl durch und durch! Er macht heute einen Scandal! Fortgehen läßt er mich nicht oder es bricht los! Ließe er mich fortgehen und bliebe er hier, so gewinne ich sehr wenig dabei. Er wird im Rausche Dinge plaudern, die mir gerade so schaden, als wenn ich dasäße. Gescheidter wird es sein, ich bleibe und behalte den Teufel im Auge und in der Hand! Ich weiß schon, wie!“

„Camerad!“ sagte er unmittelbar mit jovialer Miene. „Was glaubst Du, wenn wir unser Bier stehen lassen und eine Flasche Wein trinken?“

„Zwei Flaschen, drei Flaschen, wie Du willst!“ gab Leonhard, wie aufgemuntert, zur Antwort.

Balthasar bestellte den Wein, wobei er für sich brummte: „Trinken soll er, daß er seine Zunge nicht heben kann! Herrgott, das gäbe eine elende Geschichte!“

Das Gespräch am Nebentische hatte sich inzwischen noch immer um die Bergbesteiger gedreht.

„Einer der Herren soll ein Baron aus Wien sein,“ sagte einer der Beamten.

„Der andere ein Maler,“ fügte Weißbart aus dem Stegreif hinzu, um Schmierpeter zu necken, der sich in die Nähe gestellt und dem ganzen Gespräch beigewohnt hatte.

„Ein Maler?“ fragte Jemand.

„Ja,“ versetzte der Chirurg dreist. „Es soll der Maler sein, der das große Gemälde in der Kapelle gemalt hat.“

„Welcher von den Herren ?“ fragte Schmierpeter, neugierig anbeißend. „Der mit dem schwarzen, oder der mit dem blonden Bart?“

„Der Schwarze!“ gab Weißbart zur Antwort. „Er soll dafür zweitausend Gulden erhalten haben.“

„Da seh’ Einer her!“ rief Schmierpeter wie elektrisirt. „Zwei tausend Gulden! Da läßt sich freilich viel dafür leisten!“

„Für so viel Geld,“ rief ihm der Krämer vom anderen Tische zu, „würdest Du gewiß die ganze Welt beschmieren!“

„Schimpft zu!“ sagte Schmierpeter. „Für das, was Ihr zahlt, ist meine Malerei noch zu gut! Da auf dem Wirthshaus hab’ ich ein Bild gemalt! Da ist darauf ein Fuhrmann, ein Lastwagen, vier schwere Pferde, fünf Bäume und ein Pintsch – und das Alles für achtundvierzig Kreuzer! Hinten ist das Auge Gottes – da hab’ ich fünf Groschen verlangt und der Stegwirth zieht mir noch einen Groschen ab! Bei diesen Preisen soll Einem ein Bild gelingen! Wenn man mich so bezahlt, daß ich nicht eilen und mit dem Pinsel galoppiren muß, so liefere ich ein Gemälde, das dem in der neuen Kapelle nicht nachstehen soll!“

„Trabe nicht auf einem so hohen Pferd!“ fiel der Rentbeamte den Dorfmaler an. „Du bist der Schmierpeter, aber jener Andere ist ein großer Künstler, welcher Dich gar nicht brauchen könnte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen!“

„Das muß wahr sein!“ rief der Krämer, indem er an den Honoratiorentisch trat, mit viel Feuer. „Das glaubt auch Jedermann. Ich habe schon oft das jüngste Gericht abgemalt gesehen, aber ich erinnere mich nicht, daß ich einmal viel dabei gedacht hätte. Da aber konnt’ ich mich nicht satt sehen! Am besten freilich hat mir die Kindsmörderin gefallen. Es ist abscheulich, was sie gethan hat, aber ich konnte die Augen gar nicht von ihr wegbringen. Zu guter Letzt hat sie mich noch mehr gedauert, als der arme Wurm!“

Da erhob sich Grüneisen ingrimmig und sagte, mit dem Stocke auf den Boden klopfend, zum Krämer: „Schäme Dich, so was zu sagen! Eine solche Person könnte mir ein Gesicht machen, welches sie wollte, so arretire ich sie, und ihr gehört der Strick!“

„Was heißt das?“ sprach Weißbart hetzend. „Gar Nichts! Wenn Jemand das im Wirthshaus über einen König sagte, was der Maler hingemalt hat, so arretirst Du ihn auch!“

„Das ist auch zu stark freisinnig!“ rief der Gerichtsdiener voll Hitze. „Das würde die Censur nirgends in der Welt durchmachen, aber in einer Kirche läßt man es ruhig hängen. Ein gesalbtes Haupt ist ein gesalbtes Haupt!“

„Auf Erden, aber nicht drüben!“ rief Leonhard, sich einmischend, mit dem Weinglase in der Hand dem Gerichtsdiener zu. „Wenn der größte König vor unseren Herrgott treten soll, so glaube ja nicht, daß zuvor Böllerschüsse abgefeuert werden, alter Narr!“

„Das soll ich von Dir lernen?“ erwiderte der Gerichtsdiener, wie zum Losschlagen bereit. „Von Dir, der Du noch keinen König im ganzen Leben gesehen hast, außer dem Eichelkönig oder dem Herzkönig? Ich bin aber schon vor dem König von Toscana Wache gestanden, vor dem Großfürsten von Sachsen –“

„Du hast Könige gesehen,“ sagte Leonhard mit ein wenig holpriger Zunge, „aber wenn Dich einer von ihnen gesehen hätte, dann könntest Du davon reden!“

Ohne die Antwort abzuwarten, noch sie anzuhören, trat er einige Schritte zurück und sang mit hellklingender, Alles beherrschender Stimme:

„Ich kümmre mich nicht um die Leut’,
Bin alleweil lustig und munter,
Und hab’ ich d’rin ein Herzeleid,
Nehm’ ich das Glas und schluck’s hinunter!“

Er stürzte das Glas hinab und ließ einen gewaltigen Jodler folgen, worauf er sich auf seinen alten Platz setzte.

„Er kommt doch auf andere Gedanken,“ sagte Balthasar zu sich selbst und rieb sich unter dem Tisch die Hände.

Da wurde der Stegwirth, der, vom Tanzen und Serviren immerfort in Anspruch genommen, durch die Wirthsstube eilte, an den Honoratiorentisch gerufen und dort von dem boshaften Chirurgen mit den Worten empfangen:

„Du tanzest heut alle Weibsbilder nieder! Du hast auch viel Kummer gehabt. Gott Lob, daß man Dir heute nichts anmerkt, da Du doch vor so kurzer Zeit Deinen Toni verloren hast!“

Die meisten der Anwesenden lächelten spöttisch, nur der Stegwirth blieb ernst und sagte ernst: „Ich habe viel Freude mit dem Kinde gehabt, aber auch viel Sorge. Wenn es so fortgedauert hätte, ich wäre vor Aengsten verrückt geworden! Wenn der Toni geschrieen hat – und daran hat es den ganzen lieben Tag nicht gefehlt – so habe ich einen Stich bis in die Eingeweide bekommen, daß ich selber gern mitgeschrieen hätte. Das glaubt mir, Ihr Herren! Aber der liebe Gott weiß am besten, was er thut und was uns gut ist!“

Leonhard, der halb träumend, halb brütend dagesessen hatte, schlug die Augen auf und heftete seine Blicke auf den Stegwirth. Balthasar war dabei unheimlich zu Muthe.

[483] „Der Zucker-Toni hat uns nichts genutzt,“ sagte Leonhard so laut, daß es die Umsitzenden hören konnten, und fuhr, obwohl ihn Balthasar unter dem Tische stieß und zwickte, mit ungedämpfter Stimme fort: „Diesem Bierzapfer da, dem hättest Du mit einem Loth Rattengift die Suppe salzen sollen! Da wären wir sicherer gegangen! Ja, wer zu rechter Zeit an Alles dächte! Der Zucker-Toni hätte am Leben bleiben können!“

Er schlug sich mehrmals unbarmherzig auf die Stirn. Balthasar, der ganz gebebt hatte, sah sich überall um und beruhigte sich erst ein wenig, als er sich überzeugt hatte, daß Niemand auf Leonhard aufmerksam gewesen war. „Du trinkst nichts!“ sagte er, dem schrecklichen Mitzecher sein Glas reichend.

Leonhard that einen raschen Griff darnach und goß es auf einen Zug in den Hals hinunter.

„Der Wein ist gut,“ sagte er mit schwerer Zunge, „aber bald wird es heißen: ‚Leonhard, trinke Wasser!‘ So wäre es nicht gekommen, wenn Du dem Stegwirth das Pulver verordnet hättest, welches Du dem Zucker-Toni eingegeben hast! Das war ein scharfes Pulver!“

„Bist Du närrisch?“ sagte Balthasar außer sich, da der Krämer aufzupassen begann. „Du weißt nicht mehr, was Du sprichst!“

Leonhard hörte ihn nicht, er war eingeschlummert.

„Was thun?“ fragte sich der Wunderdoctor im Stillen. „Ich muß ihm etwas weis machen!“ Er schüttelte Leonhard.

„Was giebt’s?“ fragte dieser in großem Rausche.

„Was Wichtiges!“ sagte der Alte mit leiser Stimme. „Das ist ein guter Einfall und das Aeußerste, was uns übrig bleibt, Dir, um eine Braut zu kriegen, mir, um zu meinen fünfhundert Gulden wieder zu kommen.“

„Ei, der Tausend!“ rief Leonhard wie ernüchtert.

„Ich gebe Dir mein Wort,“ sagte Balthasar, „daß Balbina, ehe vier Wochen vergehen, Dein Weib werden wird!“

„Das war der Mühe werth, daß Du mich weckst,“ versetzte Leonhard voll Geringschätzung, wieder zusammenfallend.

„Ich weiß, was ich sage,“ fuhr der Alte fort, „Du kriegst sie; sie ist Dir gewiß!“

„Wie das?“ fragte Leonhard. „Hättest Du auch solche Zaubertränke?“

„Ja und nein,“ gab Balthasar zur Antwort. „Ich habe nämlich eine eigene Macht über sie. Ich weiß, wo ich mit dem Daumen drücken muß, um diesen eigensinnigen Weiberschädel zu öffnen! Da verlaß Dich darauf!“

„Sage mir doch, wie?“ sagte Leonhard, dem die Hoffnung wieder leuchtete.

„Das behalt’ ich noch für mich,“ gab der Wunderdoctor zur Antwort. „Ich verspreche Dir, daß ich es zu Stande bringe, und das ist Dir genug!“

„Du meinst?“ rief Leonhard, freudig aufspringend.

„Gewiß,“ lautete die Antwort.

„Da wäre noch Alles gut!“ rief Leonhard. „Prächtig, prächtig! Thu’s! Aber auf die frohe Botschaft muß noch eine Flasche ihr Leben lassen!“

„Einverstanden!“ sprach Balthasar. „Aber höre,“ flüsterte er ihm zu, „über den Zucker-Toni kein Wort mehr! Es ist ohnehin nur dummes Zeug, aber wenn Jemand aufpassen würde, könnten wir uns die Finger verbrennen!“

„Da hast Du Recht!“ stimmte Leonhard bei, sich den Rest aus der Flasche einschenkend. „Stoß’ an, alter Camerad und Herzensbruder!“

Sie stießen an, Balthasar war mit dem Erfolge zufrieden.

Leonhard hatte sich mit einem Glase aus der frischen Flasche erhoben und sang ohne alle Rücksicht mit der vollsten Anwendung seines Organs:

„Wenn alle Leute auf der Welt,
Ein Leben wie die Heil’gen führen,
Dann hat der Pfarrer keine Seel’,
Als seine Köchin zum Absolviren!“

Er hatte kaum zu Ende gesungen, als Grüneisen wie ein Rasender auf ihn zugesprungen kam und ihn andonnerte: „Ein solches Lied! Weißt Du nicht, wer Alles dasitzt?“

„Das Lied ist nicht neu,“ gab Leonhard mit erstaunlicher Ruhe zur Antwort. „Das solltest Du schon hundert Mal gehört haben, denn ohne Dich geht kein Tanz zu Ende und keine Trinkerei!“

„Gehört hab’ ich es freilich schon,“ polterte der Gerichtsdiener, „aber Du solltest mehr Anstand haben! Der Herr Pfarrer sitzt beinahe neben Dir und muß sich, wenn er so was hört, bei der Nase nehmen!“

Es erhob sich ein schallendes Gelächter, in welches der Pfarrer selbst einstimmte und in Folge dessen Grüneisen’s Zorn grenzenlos wurde.

„Ich arretire Dich!“ rief er, nach Leonhard die Hand ausstreckend.

„Laß gehen!“ sagte dieser zurückweichend mit erhobenem Finger. „Wenn ich nach Dir lange, so bist Du im Ruhestand bis zum jüngsten Tag!“

Dieser Streit, auf solcher Höhe angelangt, wurde durch die mehrstimmigen lauten Rufe: „Der Förster, der Förster!“ unterbrochen.

Der Förster war wirklich noch so spät gekommen, als schon Alles dem Auseinandergehen nahe war.

„Euch ist gewiß ein Malheur passirt!“ rief man ihm von allen Seiten entgegen.

„Ja,“ sagte der Förster, „ein Malheur ist allerdings passirt, das uns aber nichts angeht. Wir übernachten heut auf der Oberanger-Alm und kommen glücklich zum Sonnenaufgang auf die Dreikönigsspitz hinaus. Auf dem Rückweg heute, ungefähr um elf, halten wir Mittag, vom Dreikönigssee einen Büchsenschuß weit. Da geht inzwischen einer der Herren an’s Ufer und schreit uns zu, daß wir hinkommen. Wir kommen, da liegt auf einer Stelle, wo das Wasser nur eine gute Klafter tief ist, ein Leichnam auf dem Grund – eine Frauensperson. Und denkt, wer? Das fällt Keinem ein! Die Balbina, die Balbina!“

Diese Neuigkeit erregte die größte Sensation und Verwunderung in der ganzen Stube, aber die Wirkung, die sie auf Leonhard hervorbrachte, war von schlagähnlicher Gewalt. Wie leblos saß er da, alle Glieder waren in der nämlichen Haltung erstarrt, welche sie gehabt hatten, als der Name der Ertrunkenen genannt worden war. Er hielt noch immer die Weinflasche, aus welcher er sich hatte einschenken wollen, jedoch nur ihren Hals. Das Glas hatte dem krampfhaften Zusammenziehen und Zusammenpressen der Finger nicht widerstanden und die Flasche war entzweigebrochen.

„Was hätte ein so stilles und ordentliches Mädchen in’s Wasser getrieben?“ ergriff der Pfarrer das Wort, sobald der Förster seinen Bericht geschlossen hatte. „Sie muß irgendwie verunglückt sein!“

„Gott weiß,“ rief der Rentbeamte voll Bedauern.

„Sie hat sich hineingestürzt, das glaub’ ich!“ sagte der Chirurg Weißbart, allem Mitleid unzugänglich und gleich bereit, aus dem erschütterndsten Ereigniß einen Prügel für Andere zu schneiden. „Sie wird sich arg geschämt haben! Ist das eine Kleinigkeit? Sie war zweimal Braut innerhalb von vier Wochen, und der Eine und der Andere hat sie sitzen lassen!“

„Wenn ich ledig gewesen wäre,“ rief der Krämer mit hoher Wärme, „die hätte die Meinige werden müssen und keine Andere!“

Leonhard war indeß aus seiner Erstarrung erwacht und hatte sich langsam wie ein Verschlafener erhoben. Ebenso langsam hatte er die Hand, mit welcher er die Flasche gehalten, emporgehoben und sah in ihre Fläche kopfschüttelnd hinein. Die Hand war an mehreren Stellen verletzt und blutete sehr heftig.

Wie von dem Anblick des Blutes belebt, raffte sich Leonhard stramm zusammen und wandte sich mit wilden Blicken nach allen Seiten hin, wie wenn er Jemanden suchte, um über ihn herzufallen, aber er senkte gleich wieder den Kopf, sah seine verwundete Hand an und stürzte hin- und hertaumelnd, aber doch schnell aus der Stube hinaus.

„Habt Ihr den Leonhard angesehen?“ sagte der Pfarrer.

„Ja,“ versetzte Grüneisen, „den hat es garstig gepackt!“

„Das glaub’ ich nicht, Hochwürden,“ erkühnte sich Balthasar das Wort zu ergreifen, um alle Excesse, die er von Leonhard bei dessen Rückkehr sicher erwartete, in ihr Licht zu stellen und etwaige Anspielungen auf den Zucker-Toni abzuschwächen. „So viel Gefühl hat er gar nicht, am wenigsten, wenn er so vollgetrunken ist, wie heut! Es ist ja bekannt, wenn er im Rausche ist, da schont er nichts. Er hat schon ein so gotteslästerliches Zeug zu mir geschwätzt, daß ich schon mehrmals mich habe wegsetzen wollen. Er macht noch Scandal, aber so lange wart’ ich nicht!“ Er nahm Hut und Stock und wollte hinauseilen.

[484] „Du, Balthasar,“ redete ihn der Förster, auf ihn aufmerksam geworden, an. „Balbina war ja krank und Du sollst zu ihr gerufen worden sein!“

„Ja, ja,“ stotterte der Wunderdoctor, aus einer peinlichen Verlegenheit in die andere geworfen. „Es war ein starkes Fieber da, sie hat auch ein wenig Irrreden geführt, aber gestern war sie schon ruhig und die Besserung war vorauszusehen!“

Ohne sich länger aufhalten zu lassen, entfernte er sich mit großen Schritten, voll Angst, noch dem Leonhard in den Wurf zu kommen.

Es war schon spät geworden. Die Hähne krähten bereits lange im Hofe. Ein bedeutender Theil der Gäste war schon verschwunden und der Rest machte sich auf den Heimweg, denn die Tanzmusik hatte auf des Stegwirths Geheiß zu spielen aufgehört. Das Hochzeitsfest war aus und das junge Ehepaar begab sich endlich hochvergnügt nach der Schlafkammer, von den Schwiegereltern und einigen Verwandten geleitet. Der Eingang zur Schlafkammer war mit Blumen und Namenszügen auf’s Festlichste decorirt, und Brigitta, der es ausnehmend gefiel, sprang voran, um ja schnell die Ausschmückung im Innern in Augenschein zu nehmen.

Kaum hatte sie die Thür aufgeschlagen, so that sie einen Schrei und fiel ohnmächtig zusammen. Zwischen der Thür und dem Bette, über welchem lange Rosenguirlanden herabhingen, hing auch Leonhard an einem Kleiderhaken aufgeknüpft. Neben ihm an der Wand war seine blutige Hand abgedrückt.

Brigitta kam bald nachher zu sich, verblieb aber in einem sehr aufgeregten Zustande, in welchem sie sich schwere, freilich unbegründete Gewissensbisse machte. Sie war vorerst nicht zu trösten und nicht zu bewegen, die Nacht in diesem Hause zuzubringen.




7.

Sobald Leonhard’s Ende ruchbar geworden war, säumten seine Gläubiger nicht lange, kund zu thun, daß nicht Liebesgram, sondern große Ueberschuldung das Motiv seiner That gewesen war. Bis zu dieser Beleuchtung der Sache hatte sich Brigitta mit Vorwürfen gequält und sich gescheut, den Fuß in’s Wirthshaus zu setzen, nun aber war ihr Gemüth mit einem Schlage heiter geworden und sie konnte endlich die Wirthin zu spielen anfangen. Das Ehepaar hatte in der That eine schaurige Reihe von Klippen übersteigen müssen, ehe es ihm gelungen war, sich zu arrondiren.

Hinter der Kirchhofsmauer des Franciscanerklosters in ungeweihter, ja durch die Erinnerung an die dort Verscharrten verfluchter Erde lagen aber auch schon die beiden Unglücklichen, welche selbst die Hand an sich gelegt, der wilde Leonhard und die schöne Balbina, nebeneinander begraben. Auch diese Zwei waren arrondirt.

Die Phantasie des Volkes, die sich mit düsteren Ereignissen lange beschäftigt, besonders im Hochgebirge, wo es so alltäglich hergeht und nicht, wie in den Städten, eine Neuigkeit die andere jagt, hatte bald erfunden, daß es hinter der Kirchhofsmauer allnächtlich umgehe.

Es ist gebräuchlich, Gespenster um Mitternacht erscheinen zu lassen, hier – seltsam – sollte sich der Geist kurz vor der Morgendämmerung einstellen und eine Zeit lang auf den Selbstmörder-Gräbern aufhalten.

Es war ein wildfremdes, mit den hiesigen Verhältnissen ganz unbekanntes Weib, welches bald darauf erzählt hatte, daß es den Wiesenweg an der Kirchhofsmauer, wo die berüchtigte Stelle ist, kurz vor Sonnenaufgang gegangen sei und dort in kleiner Entfernung eine Gestalt gesehen habe, welche nackt und mit Striemen bedeckt war und blitzschnell in die Erde versank.

Dieses Zeugniß, gleichsam aus einem unbefangenen Munde, mußte die größte Sensation erregen, aber in kurzer Zeit schlief wieder Alles ein, da Niemand seither den Geist wieder gesehen hatte. Dennoch war die Aussage des fremden Weibes nicht aus der Luft gegriffen.

Eine kurze Zeit darauf, als das Weib die Erscheinung gesehen zu haben behauptete, kam einer der Väter aus dem Kloster des Weges daher, vom Pfarrer von Burgsau bestellt, eine Morgenmesse aushülfsweise zu lesen. Es war schon tageshell. Da sah er einen entkleideten Körper, der auf dem Gesichte lag, auf der Grabstätte der Selbstmörder vor sich. Daneben lag eine vielschwänzige lederne Peitsche, einige Kleidungsstücke, darunter eine Franciscaner-Kutte. Der Rücken des Körpers war von Hieben entstellt. Der Hinterkopf zeigte die Tonsur.

Der Mönch brachte den Unglücklichen in sitzende Stellung, indem er ihn mit dem Rücken an die Mauer lehnte, und sobald er das Gesicht erblickt hatte, erkannte er einen Ordensbruder, den Frater Peregrin, welcher das vielangestaunte Wandgemälde in der Kapelle vollendet hatte. Frater Peregrin war Balbina’s ehemaliger Liebhaber Veit und Schmierpeters Schüler. Es war ein schrecklicher Weg, welchen er zurückgelegt hatte, seit er der Werkstätte seines schlichten Meisters in Burgsau entlaufen war, bis zu dem Moment, da er jetzt auf dem Grabe seiner einstigen Geliebten gefunden wurde.

Nach dem unglückseligen Vorfall auf der Oberanger-Alm hatte er, von Entsetzen erfüllt, an der Zukunft einer großen, sein ganzes Wesen verschlingenden Liebe verzweifelnd, die Flucht ergriffen, ohne bedacht zu haben, wohin er sich wenden werde. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt. Nach kurzem Herumirren hatte er die Richtung seines Weges gefunden und beschlossen, nach Wien zu gehen, wo ein berühmter Maler wohnte, welcher sich im vergangenen Sommer im Burgsauer Gebirge längere Zeit aufgehalten hatte.

Dieser Künstler hatte Veit liebgewonnen und auch dessen Talent durchblickt und ihm den Antrag gestellt, daß er ihn mitnehmen und für seine Ausbildung sorgen werde. Veit wäre damals sogleich mit tausend Freuden mitgegangen, hatte sich aber, von Balbina gefesselt, vorerst dafür bedankt. Jetzt, da die Liebesbande so schrecklich gesprengt waren, hatte er seinen Gönner aufgesucht und war von ihm auf das Herzlichste empfangen worden. Veit hatte in kurzer Zeit in solcher Schule erstaunliche Fortschritte in seiner Kunst gemacht, aber sein Gemüth hatte den empfangenen Schlag nicht zu überwinden vermocht. Schmerz über die gewaltsam gebrochene erste Liebe, gesteigert durch angeborene künstlerische Excentricität, und endlose Rückblicke auf die Oberanger-Alm, unterwühlten seine Seele, welche dadurch aus dem Gleichgewichte kam und in dem Bewußtsein, es nicht wieder zu erringen, sich verzweiflungsvoll noch rascher kopfüber stürzte.

Veit begann ein tolles Leben in Saus und Braus, welches seine Gesundheit untergraben half, so daß er vor anderthalb Jahren, mit sich zerfallen, weltmüde und körperlich leidend, in ein Franciscanerkloster trat.

Nicht lange darauf hatte er gehört, daß die Kapelle in Burgsau, wo seine Gedanken zu seinem Verderben am liebsten verweilten, restaurirt werden sollte, und er bot sich an, den Carton eines jüngsten Gerichts, den er dem Guardian zugesandt hatte, in Farben auszuführen. Seitdem hatte er in Burgsau gelebt und sein täglicher Weg war aus der Zelle in die Kapelle. Der Guardian, welcher allein seine Abkunft kannte, begünstigte die Heimlichkeit seines Aufenthaltes, die sich Veit als alleiniges Honorar ausbedungen hatte.

Er war also das Gespenst, welches seit Balbina’s Bestattung allnächtlich an der Kirchhofsmauer spukte. Da büßte er die Sünden seiner Jugend, indem er an dem Grabe des Weibes, das er verführt und dessen Unglück er veranlaßt hatte, trauerte und die Vergangenheit seines noch jungen, kaum begonnenen Lebens mit der Büßergeißel strafte. Heute schien ihn eine Ohnmacht überrascht und an der heimlichen Rückkehr gehindert zu haben.

In seine Zelle zurückgebracht, kam er wieder zu sich. Sein erstes Wort waren Vorwürfe, warum man ihn in’s Leben zurückgeschleppt habe. Wenn ihm aber der Klosterarzt, der ihn behandelte, die volle Wahrheit hätte sagen dürfen, so würde er zu seinem Troste erfahren haben, daß seine Tage gezählt waren. Von nun an strenger überwacht, konnte er den nächtlichen Ausgang nicht unternehmen, und daher sahen die Burgsauer die Erscheinung an der Kirchhofsmauer nicht mehr.

Die Klosterbrüder betrachteten den am Leib und an der Seele Kranken mit verschiedenen Augen, doch so, daß allem Entsetzen vor dem Sünder, den ein mysteriöses Verbrechen zu foltern schien, auch Mitleid im reichsten Maße beigemischt war. Der Guardian war jedoch nicht allein von einem rein menschlichen Gefühle und Interesse bewegt. Er, als Kunstkenner und Kunstfreund, fühlte die schmerzvolle und zugleich erhabene Erschütterung, daß ein seltenes Kunstgenie, welches dem Tode nie verfallen sollte, im Gegentheil gar so frühzeitig und gar so jämmerlich ende.

„Die Vorsehung ist wunderbar und unerfaßlich,“ sagte er [485] einmal im Refectorium. „Sie hat ihm einen Genius gegeben, mit welchem er wuchern und den er nicht vergraben sollte. Das war doch der Zweck. Aber hätte er das Kunstwerk, das unsere Kapelle für ewige Zeiten schmückt, vollbringen können, wenn er ruhig und zufrieden gelebt und nicht gesündigt hätte, wenn sein Herz nicht von Reue geviertheilt und seine Seele von allen erdenklichen Schmerzen bestürmt und so mächtig ausgespannt worden wäre?“

Die Mönche begriffen diese tiefsinnige Bemerkung nicht. Der Guardian war nicht lange darauf zum Frater Peregrin gekommen, dessen Zustand sehr bedenklich war.

„Hochwürden,“ sagte der junge Mönch, indem seine sonst matten Augen blitzartig aufleuchteten und seine leidenden Mienen eine augenblickliche Belebung und Kraft zeigten, „erlauben Sie, daß ich die Zelle verlasse.“

„Darüber kann ich nicht entscheiden, lieber Bruder,“ gab der Guardian zur Antwort, „sondern der Arzt.“

„Ich werde nicht weit gehen –“ sagte der kranke Frater, wie von einem Gedanken ergriffen und ihm nachhängend.

„Es geht auf keinen Fall,“ versetzte der Guardian ruhig, doch entschieden, denn er befürchtete, daß es sich um einen Gang an die Kirchhofsmauer handle.

„Das ist schlimm,“ murmelte Frater Peregrin, in plötzliche Apathie verfallend.

„Es thut mir leid,“ sagte der Guardian bewegt und mild. „Warten Sie ein paar Tage! Wenn die Besserung anhält –“

„Wenn ich warten könnte!“ fiel ihm der Schwerkranke in’s Wort. „Ich fühle, daß ich diesen Augenblick benützen muß!“

„Wozu?“ fragte der Guardian nicht ohne Besorgniß.

„Ich habe heute Nacht einen Einfall gehabt,“ antwortete Frater Peregrin. „Ich möchte noch eine kleine Verbesserung an meinem Wandgemälde vornehmen.“

„Das Ganze ist so vortrefflich,“ sagte der Guardian, „daß ich Sie gar nicht verstehe. Lassen Sie es, wie es ist! Dieses Meisterwerk kann sogar Ihre Hand entbehren! Ersparen Sie sich die Aufregung, welche die Arbeit mit sich brächte.“

„Wenn ich erfinde,“ sprach der kranke Mönch, „das greift mich an. Wenn ich mir klar bin, wie jetzt, und ausführe, thut es der Pinsel allein. Da bin ich ruhig, daß ich ein Lied dabei pfeifen könnte.“

„Sie wollen wirklich –?“ sprach der Guardian im Nachsinnen, zwischen die Einsicht, das Verbot aufrecht halten zu müssen, und die Versuchung getheilt, den letzten Wunsch des sterbenden Meisters zu erfüllen, der das Verlangen trug, seinem künstlerischen Testament einen kurzen Zusatzartikel beizufügen.

„Ein Nachmittag reicht hin,“ bat der Kranke mit einem beschwörenden Schmerzensblick.

Der Guardian schwankte. Wenn er die abgezehrte Gestalt und das hohläugige Gesicht anblickte, so wollte er versagen, wenn er aber das Gewicht der Bitte berücksichtigte, wollte er die Erlaubniß ertheilen. Er sagte nach einer Pause:

„Die Ausdünstung der Farben ist Gift für Ihre Lunge!“

„Um einige Tage länger zu leben,“ erwiderte Frater Peregrin, „blos dazu braucht Niemand zu leben.“

„Nun,“ sprach der Guardian mit einem schweren Athemzuge, „so gehen Sie mit Gott! Ich lasse gleich das Gerüst aufstellen und die Vorhänge ausspannen.“

[486] Der Nachmittag war kaum gekommen, als sich schon Frater Peregrin, zu schwach, um allein zu gehen, in sein Atelier hinabführen ließ. Er hatte dort mehrere Stunden verbracht; es war schon fünf bis sechs Uhr geworden, und da er noch immer nicht zurückgekehrt war, ging der Guardian hinab, um nach ihm zu sehen. Langsam lüftete er den Leinwandvorhang, der die Kapelle von der Kirche abschloß. Frater Peregrin saß auf dem Gerüste, auf seinem Stuhle weit zurüchgelehnt, den Kopf tief auf eine Seite geneigt, ein Farbentöpfchen in der Linken am Henkel festhaltend, während die Rechte hinunterhing und den Pinsel hatte fallen lassen.

Der Guardian, erschrocken, rief ihn laut beim Namen. Ihm antwortete aber nur der Schall der Kirchenwände. Der Maler war entschlafen und schon fast kalt. Das Geschick hatte ihn keinen Pinselstrich mehr thun lassen, sondern, allem Anschein nach, nur noch die Zeit vergönnt, auf sein Werk und das am Thränensee gefangene Mädchen den letzten Blick zu werfen. Die Aufregung war in der Burgsau nicht gering, als es plötzlich hieß, daß Frater Peregrin, der das Wandgemälde vollendet hatte, der verschollene Veit gewesen war.