Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
korrigiert
Band: 44 (1882), ab Seite: 203. (Quelle)
[[| bei Wikisource]]
Julie Thenen in der Wikipedia
Julie Thenen in Wikidata
GND-Eintrag: 137620403, SeeAlso
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Linkvorlage für Wikipedia 
* {{BLKÖ|Thenen, Julie|44|203|}}

Thenen, Julie (Schriftstellerin, geb. zu Lemberg im Jahre 1833). Sie ist die Tochter eines streng orthodoxen Israeliten Namens Waldberg, der bei der Entdeckung, daß sein Kind eine dem blinden Glauben abholde Gesinnung beseele, jeden Wissensdrang in ihm zu ersticken suchte. Diesem für ein strebendes und nach Wissen lechzendes Wesen qualvollen Zustande wurde Julie erst durch die Verheiratung entrissen. Als junge Frau endlich jene Regionen des menschlichen [204] Denkens und Schaffens betretend, welche ihr bis dahin die Macht der väterlichen Erziehung verschlossen gehalten, begann sie nun auch die Ergebnisse ihrer Beobachtungen niederzuschreiben. Ihre erste Arbeit, die wahrheitsgetreue Schilderung des aller Vernunft und Menschlichkeit hohnsprechenden Gebarens eines Wunderrabbis, der in der Nähe ihres damaligen Wohnortes Tysmeniec in Galizien sein Unwesen trieb, übergab sie im Jahre 1870 dem Redacteur der „Neuzeit“, einer von Dr. Simon Szantó [Bd. XLI, S. 161] begründeten Wochenschrift für politische, religiöse und Culturinteressen, vornehmlich der Israeliten, zur Veröffentlichung. Jedoch wurde ihre Arbeit mit dem Bedeuten abgelehnt, daß die Verfasserin mit allzu rücksichtsloser Kühnheit den Schleier von Zuständen ziehe, die man lieber nicht enthüllen sollte. (Möchten die israelitischen Blätter diese Rücksicht doch auch gegen andere Confessionen üben. Wie aber verhielten sie sich in der Affaire Ursula Ubryk[WS 1]?) Durch die Abweisung, welche ihre Schrift erfuhr, keineswegs entmuthigt, blieb sie vielmehr fest entschlossen, den Zustand der geistigen Versumpfung, in welchem keine geringe Anzahl ihrer Glaubensgenossen vegetirt, nicht todt zu schweigen. In Galizien durfte sie es jedoch nicht wagen, den mächtigen Rabbi anzugreifen, erst als in Wien, wohin sie übersiedelt war, einige ihrer Arbeiten in Tages- und Wochenblättern Aufnahme gefunden hatten, übergab sie ihre Arbeit unter dem Titel: „Der Wunder-Rabbi“ (Wien 1880, Rosner) dem Drucke. Das Buch machte, obgleich sich gegen seine stylistische Form gerechte Bedenken erheben lassen, in den zunächst betheiligten Kreisen ungeheueres Aufsehen, aber auch die übrige Lesewelt verbarg nicht ihr Erstaunen, daß dergleichen Dinge überhaupt möglich und sich ungestraft vor aller Augen abspielen, denn das erkannte man allsogleich, daß man es nicht mit einer romantischen Geschichte, mit einer Arbeit, die als ästhetisches Kunstwerk gelten wollte, sondern mit der splitternackten, wenn auch haarsträubenden Wahrheit, die alle Effecthascherei ängstlich vermied, weil ja schon die Wirklichkeit über allen Effect hinausging, zu thun hatte. Vergeblich griffen die israelitischen Orthodoxen und Finsterlinge die Verfasserin mit allen Waffen aus der Rüstkammer des Fanatismus an; bei der nicht zunächst betheiligten Lesewelt fand diese rein objective Schilderung der ans Unglaubliche grenzenden Zustände theilnahmsvolle Aufnahme. Nach dieser Geschichte gab die Verfasserin eine zweite Schrift: „Fräulein Doctor im Irrenhause“ (Wien 1881, Rosner, 8°.) heraus.

Die Heimat (Illustrirtes Blatt, Wien, 4°.) 1880, S. 431.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Affäre Ubryk (Wikipedia).