Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Band: 36 (1878), ab Seite: 293. (Quelle)
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Spurzheim, Karl (k. k. Sanitätsrath und Director der niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt, geb. in Wien im Jahre 1809, gest. ebenda am 7. October 1872). Der Sohn vermögender bürgerlicher Eltern, und ein Neffe des bekannten Kraniologen Spurzheim, lag er in Wien seinen Studien ob und erlangte im Jahre 1835 die ärztliche Doctorwürde. Hierauf begab er sich auf Reisen, und besuchte innerhalb zweier Jahre Deutschland, Belgien und Frankreich, überall die Humanitätsanstalten aller Art, und mit vorzüglicher Beachtung die Irrenanstalten studirend. Im Jahre 1837 trat er in die Concepts-Praxis bei der niederösterreichischen Landes-Regierung unter des Dr. Knolz [Bd. XII, S. 168] Leitung, allwo er drei Jahre sich verwendete und während dieser Zeit zugleich im Allgemeinen Krankenhause und im Gebärhause diente. Von 1840–1842 war er Secundar-Arzt im Lazarethe, jenem alten, halbverfallenen Gebäude an der Ecke der Währingerstraße, an dessen Stelle gegenwärtig die stattliche Versorgungsanstalt erbaut ist. Im Jahre 1841 war er auch provisorischer Primar-Arzt einer Filiale des Allgemeinen Krankenhauses im Versorgungshause in der Währingergasse; die 100 Kranke beherbergte. In dieser ganzen Zeit wurde er nebenbei vom Regierungsrathe Dr. Knolz zu mannigfachen administrativen Concepts-Arbeiten verwendet. Im Jahre 1841 hatte sich die Regierung entschlossen, der verwahrlosten Ybbser Irren-Abtheilung ein eigenes ärztliches Personale zu geben, und ernannte am 26. Jänner 1842 den Dr. Spurzheim zum provisorischen Primar-Arzte derselben. Die gegenwärtige Irrenanstalt, das frühere Versorgungshaus in Ybbs, wurde 1717 als Reiterkaserne erbaut, und 1805 zu einem Versorgungshause bestimmt, in dem man 1817 eine Abtheilung für unheilbare Geisteskranke errichtete. Der ärztliche Dienst allda wurde von dem Hauswundarzte, der für das ganze Versorgungshaus bestellt war, besorgt; die Irren-Abtheilung stand unter der Verwaltung des Versorgungshauses. Sie nahm das Erdgeschoß des zweiten Hofes der Anstalt ein, und beherbergte in 13 größeren und 11 kleineren Zimmern 300 bis 350 Geisteskranke. Da der größere Theil dieser Räume früher zu Pferdestallungen diente, so kann man sich einen Begriff über den Zustand derselben machen. „Der Zustand der Ybbser Irrenanstalt“, wie S. bei Uebernahme derselben berichtet, „zeigt das oft gezeichnete und verabscheute [294] Bild der früheren Irrenanstalten. Auch hier war derselbe trostlose Anblick, wohin ein sachverständiges Auge sich nur wenden mochte, dieselbe physische und psychische Verlassenheit der Geisteskranken, und statt thätiger, wohlwollender Einwirkung nichts als die empörende Handlungsweise eines rohen, von ihren materiellen Interessen geleiteten, demoralisirten Wärterpersonales.“ Und wie in Ybbs, ebenso war es damals mit den übrigen Irrenanstalten Oesterreichs bestellt. Das Irrenwesen im Kaiserstaate lag noch in den finsteren Banden der alten Anschauungen; eine wissenschaftliche Pflege der Psychiatrie hatte sich hier noch nicht Bahn gebrochen. Wohl waren in Wien und in Prag schon Anstrengungen gemacht, um aus dem verrotteten alten Systeme herauszukommen; die Kerkerpraxis der bestehenden Irrenanstalten, hier wie dort, wurde gemildert, man strebte neuen Anstalten zu, die ein würdigerer und besserer Pflegeort für Geisteskranke sein sollten. Sonst aber lag überall das tiefste, schwärzeste Dunkel über die armen Irren. Es war somit keine geringe Aufgabe, aus einer verwahrlosten Irrenanstalt fast mit denselben Gehilfen, fast unter denselben Verhältnissen, an demselben Orte, wo Rohheit, Herzlosigkeit und Ignoranz so lange ihr Wesen treiben konnten, eine Anstalt heranzuziehen, in welcher nicht nur der Wissenschaft die ihr gebührende Achtung gesichert ist, sondern vor Allem auch die Humanität nicht mehr erröthen darf. Es galt nichts Geringeres als einen mehrjährigen Kampf gegen eingerostete Vorurtheile, gegen hundert bedrohte Interessen; es bedurfte eines festen, ausdauernden, des Zweckes und der Mittel sich klarbewußten Willens; es bedurfte hiezu einer zu großen physischen und moralischen Opfern bereiten Selbstverleugnung! So führte Spurzheim in Ybbs einen harten, unermüdeten Kampf gegen die Selbstsucht, Rohheit und Gedankenlosigkeit. Daß er sich gleich bei Beginn seiner neuen Aufgaben der anzustrebenden Zwecke bewußt war, beweisen seine beiden Berichte über die k. k. Irrenanstalt zu Ybbs vom J. 1843, und vom J. 1844, deren letzterer in der österreichischen Wochenschrift der Gesellschaft der Aerzte Nr. 6 im Jahre 1844 abgedruckt ist. Zunächst, freilich noch vergeblich, strebte er die Trennung der Irrenanstalt von der Versorgungsanstalt an, aber schon in den ersten Jahren gleich hat er eine Sonderung der Irren, die früher ohne Wahl im bunten Durcheinander untergebracht waren, nach dem Charakter ihrer Krankheit; eine sorgsame und consequente Pflege und Reinlichkeit des Körpers; eine ausgiebige, kräftige und schmackhafte Beköstigung der Kranken, die er gemeinschaftlich essen ließ, und denen er 1842 ohne Furcht und Zagen Messer und Gabel gab, was heute noch in einer Reihe von Irrenanstalten nicht geschieht; eine geregelte Beschäftigung; die möglichste Minderung des Zwanges und der Beschränkungsmittel, dabei eine eingehende und schonende Beaufsichtigung, eine humanen, freundlichen und den gesellschaftlichen Satzungen entsprechende Umgangsform mit den Kranken u. s. w. zur Geltung gebracht. Das waren alles Dinge, welche heute freilich selbstverständlich sind, damals aber in Oesterreich noch zu unerhörten Neuerungen gehörten. Nur in Prag ging unter Riedel’s Anregung die Irrenbehandlung einer besseren Zeit entgegen. In diesem Sinne wirkte Spurzheim fort, und hatte schwere Kämpfe mit der Selbstsucht und [295] Verleumdung zu bestehen, aber bei der hohen Ehrenhaftigkeit seines Charakters siegte er, denn seine Kranken hatten ihn alsbald so lieben gelernt und liebten ihn wie einen Vater. Nach langen Mühen war es ihm endlich auch gelungen, die Trennung der Irrenanstalt vom Versorgungshause zu Stande zu bringen, die erstere bezog die ganze frühere Versorgungsanstalt, welche baulich adaptirt und vergrößert wurde. Die Sonderung der Abtheilungen für ruhige Gebildete und ruhige Ungebildete, für minder Ruhige und Reine, dann, für Unreine und Tobende, endlich für Epileptiker wurde durch verticale Theilung und so zweckmäßig durchgeführt, daß man die Kranken, welche nicht zusammenpassen, auch in den einzelnen Unterabtheilungen von einander fernhalten kann. Eine kräftige vorzügliche Kost; eine möglichst umfassende Beschäftigung der Kranken, namentlich der weiblichen; eine sehr anständige Einrichtung, die in Hinsicht auf Bequemlichkeit so manche glänzende Anstalt überragt; die herrliche, gesunde Lage u. s. w. verschafften der Anstalt bald einen so guten Ruf, daß ihr selbst von Wien Kranke zugeführt wurden. Im Jahre 1859 wurde S. Director der Anstalt, deren Reformator und zum Theile Schöpfer er war; zu gleicher Zeit verlieh ihm der Kaiser in Anerkennung seiner Verdienste um die Anstalt und das Irrenwesen Oesterreichs den Franz Josephs-Orden, denn er hatte nicht blos für diese Anstalt gewirkt, er hat auch eine Reihe von Arbeiten in niederösterreichischen Irrenangelegenheiten geliefert, und war zur Mitberathung über die neue Wiener Anstalt berufen worden. Im Jahre 1844 und später jährlich hatte er auf eigene Kosten Reisen ins Ausland gemacht, um die Fortschritte im Irrenwesen zu studiren. Die ganze Zeit hatte er der Anstalt und dem Irrenfache gewidmet, nur als er im Jahre 1848 ins Frankfurter Parlament gewählt worden, nahm er für einige Zeit dort seinen Sitz ein. Aber ihm sagten Tribüne und das öffentliche Leben wenig zu; er kehrte, in mancher Richtung enttäuscht und geklärter, bald zu seinem ihm lieb gewordenen Berufe zurück. Daß er aber die Aufgaben seiner Zeit richtig anfaßte, beweist seine Rede als erwählter Vertrauensmann der Urwähler seines Wahldistrictes an diese im Jahre 1848. Er verlangte gleiche Berechtigung der Staatsbürger, gewissenhafte Gleichstellung und Achtung aller Rechte, allgemeine Wehrpflicht, eine freie Gemeindeverfassung, Schwurgerichte im Strafverfahren, öffentliches und mündliches Verfahren bei Civil-Streitigkeiten, Ablösung der Lasten, die auf unterthänigen Besitzungen haften und Lösung des herrschaftlichen Unterthanenverbandes, Aufhebung der Patrimonial-Gerichtsbarkeit, ein Preßgesetz, Petitions- und Associationsrecht, Minister-Verantwortlichkeitsgesetz, Aufhebung der Beschränkungen einiger Religionsbekenntnisse u. s. f. Und das, was Spurzheim sagte, das war auch seine Ueberzeugung, denn er verstand nicht dem Tagesgötzen zu huldigen und anders zu sprechen, als er dachte. Als Riedel die Direction der Wiener Irrenanstalt niederlegte, berief der niederösterreichische Landes-Ausschuß S. an seine Stelle und im October 1869 trat er sein neues Amt an. Er hat in seiner hiesigen Wirksamkeit so manche Reform zur Geltung gebracht, welche den Uebergang vom Zwangssysteme in das Nicht-Zwangssystem ermöglicht, dessen Charakter er der Anstalt aufprägen wollte, [296] als jener Methode, welche den heutigen Anschauungen der Wissenschaft und den Forderungen der Civilisation entspricht. Eine lange Reihe von Absichten und Projecten blieb, als er starb, unerfüllt und harrt einer andern organisatorischen Hand. Drei Jahre hatte er seines schwierigen Amtes gewaltet, als ihn plötzlich im Alter von 63 Jahren der Tod dahin raffte. Bei seiner umfassenden Reform-Arbeit fand S. nicht die Zeit zu stärkerer literarischer Thätigkeit, umsomehr, als bei Organisation der Anstalt eine große Reihe schriftlicher Arbeiten auf ihm lasteten: Berichte, Instructionen, Kranken-Geschichten u. s. f. Er selbst sagt in dieser Hinsicht bezeichnend von sich: „Meine eigene literarische Thätigkeit beschränkte sich auf Veröffentlichung einzelner Berichte und Journal-Aufsätze, da ich es für meine Pflicht hielt, bei meinem Wirkungskreise, der eine vorzugsweise praktische Thätigkeit erheischt, diesem Bedürfnisse vor Allem zu genügen; ja ich war von der Nothwendigkeit, meine ganze physische Zeit dem Anstaltsleben zu widmen, so überzeugt, daß ich selbst jede Privatpraxis abwies“. Unter seinen wenigen literarischen Arbeiten seien hier erwähnt: ein Referat über einen „Tractatus generalis de vesaniis“ in der österr. Wochenschrift der Gesellschaft der Aerzte 1843; – eine sehr interessante Recension über: Leuret, du traitement moral de la folie“, in welcher er mit voller Entschiedenheit Leuret gegenüber sich auf den somatischen Standpunct stellt, ohne den Vorschlägen Leuret’s hinsichtlich der psychischen Behandlung seine Anerkennung zu versagen, in den österr. Jahrbüchern der Gesellschaft der Aerzte 1843; – „Einige Worte und Wünsche, die Trunksüchtigen in Humanitätsanstalten betreffend“, in der österr. Wochenschrift der Gesellschaft der Aerzte 1846, – und „Rückblicke auf die öffentlichen Irrenanstalten der Provinz Niederösterreich“, ebd. 1847. Spurzheim war in Fachkreisen als Fachmann hochgeschätzt, stand mit den hervorragendsten Irrenärzten unserer Zeit und mit mehreren in freundschaftlicher Verbindung. Er war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Vereine, und auch Präsident des Vereines für Psychiatrie und forensische Psychologie in Wien. S. war ein Humanist in der edelsten Bedeutung des Wortes; er betrachtete die Unglücklichen, welche das göttliche Siegel des Menschthums mit oder ohne eigene Schuld abgestreift hatten, immer noch als Menschen.

Psychiatrisches Centralblatt des Vereins für Psychiatrie und forensische Psychologie in Wien, 1872, Beilage zu Nr. 9 und 10: „Nachruf nach Dr. Karl Spurzheim“. Von Dr. Moriz Gauster. – Deutsche Zeitung (Wien, Fol.), 9. October 1872, Nr. 278. – Wiener Zeitung 1862, Nr. 256, S. 287. – Neue freie Presse (Wien) 1872, Nr. vom 12. October.