Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Reich, Moriz
Band: 25 (1873), ab Seite: 145. (Quelle)
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Reich, Eduard (Arzt und Fachschriftsteller, geb. zu Olmütz in Mähren 6. März 1836). Sein Vater Anton R. lebte als Bürger in Olmütz, die Mutter Anna ist eine geborne von Hankenstein. Die Vorfahren von väterlicher Seite waren Slaven und Anhänger der Hussitischen Sache und mußten, nachdem sie Hab und Gut verloren, in’s Ausland flüchten. Unter fremden Namen kehrten sie später in’s Vaterland zurück, wo sie bürgerlichen Beschäftigungen nachgingen. Die Vorfahren von mütterlicher Seite stammen aus Breslau und zählen mehrere Gelehrte in ihrer Reihe, so den Martinus Hankius im 17. Jahrhunderte, den Johann Alois Hanke von Hankenstein, Bibliothekar in Olmütz. Anfänglich protestantischen Glaubens, traten sie nach ihrer Uebersiedlung nach Mähren zum Katholicismus über. Eduard H. erhielt im Elternhause eine sorgfältige Erziehung, besuchte alsdann die unteren Schulen, das akademische Gymnasium in Olmütz und trat darauf mit einem jüngeren, seither verstorbenen Bruder Karl in die Stabsschule eines österreichischen Artillerie-Regiments als Zuhörer ein; stellte aber, da ihm der militärische Zwang nicht zusagte, alsbald seine Besuche ein, sich dem Studium der Natur- und medicinischen Wissenschaften zuwendend. Nach deren Beendigung erlangte er die Doctorwürde und war im Anbeginn im Lehrfache, und zwar als Assistent in den chemischen Laboratorien, zuletzt in Jena unter C. G. Lehmann thätig. Selbst noch Studirender, hielt er bereits für seine Studiencollegen Vorträge über Physik, vorzüglich über reine und medicinische Chemie, welche Vorlesungen die Grundlage seines später herausgegebenen Werkes über medicinische Chemie bildeten. [Die bibliographischen Titel seiner Werke folgen auf S. 146 u. f.]. Im Jahre 1857 verließ R. Oesterreich und übersiedelte nach Marburg in der jetzigen preußischen Provinz Hessen. Während seines zweijährigen Aufenthaltes daselbst setzte er Studien und schriftstellerische Arbeiten, unter denen sein Lehrbuch über allgemeine Aetiologie anzuführen ist, fort, erkrankte aber in Folge übermäßiger geistiger Anstrengungen so schwer, daß ihm nach Herstellung von seiner Krankheit ein unheilbares Leiden zurückblieb. Im Jahre 1859 zog er nach Göttingen, um aus den Schätzen der dortigen Universitäts-Bibliothek die Materialien zur Bearbeitung seines Werkes über die Nahrungs- und Genußmittel, womit er noch in Marburg begonnen hatte, zu schöpfen. Im Jahre 1860 habilitirte er sich an der Universität zu Bern in der Schweiz als Docent der Medicin, übersiedelte aber schon im nächsten Jahre nach Straßburg und von dort nach Gotha, wo er mehrere Jahre, beschäftigt mit der Herausgabe seiner Werke über Volks-Gesundheitspflege, die [146] Geschichte des ehelichen Lebens, über Unsittlichkeit, die Ursachen der Krankheiten u. m. a. zubrachte. Als er nach mehreren im Auslande verlebten Jahren, während welchen er zum Theile größere Reisen machte und auf diesen die verschiedenen Staaten Deutschlands, Frankreich, Holland, Belgien und die Schweiz besuchte und an mehreren Orten der genannten Länder oft vor sehr zahlreich versammelter Zuhörerschaft fachwissenschaftliche Vorlesungen hielt, im Jahre 1866 wieder in seine Heimat, und zwar in seine Vaterstadt Olmütz zurückkehrte, wurde derselbe im Auftrage des Bürgermeisters der Stadt in Haft genommen und durch zehn Tage in derselben gehalten. Später brachte die „Brünner Zeitung“ über diesen Vorgang, der in den Journalen viel Staub aufwirbelte, eine Aufklärung, welcher zu Folge es sich herausstellte, daß R. wegen eines im Jahre 1861 in Bern erlassenen „Aufrufes an die deutsche Nation“, welcher in Flugblättern und Journalen Verbreitung gefunden, nach seiner Ankunft in Oesterreich verhaftet worden war. Es hatte nämlich das Landesgericht in Prag wegen dieses Aufrufes, welcher das Verbrechen des Hochverrathes begründete, eine Untersuchung gegen den Autor eingeleitet, diese aber bis zu dessen eventueller Habhaftwerdung eingestellt. Ein im November 1864 von Dr. Reich eingebrachtes Gesuch um Gestattung der straffreien Rückkehr nach Oesterreich wurde abschlägig beschieden. Als dann am 31. Juli 1865 eine Preß-Amnestie erfolgte, glaubte auch R. in dieselbe sich eingeschlossen und kam Mitte November 1865 nach Olmütz, wo er für das politische Journal „Die neue Zeit“ mehrere publicistische Artikel schrieb, bis am 12. Februar d. J. plötzlich seine Verhaftung erfolgte. Daß diese ungeachtet der Amnestie erfolgen konnte, erklärte man daraus, daß in dem oberwähnten Amnestie-Erlasse der Fall eines im Auslande durch die Presse begangenen Verbrechens nicht vorgesehen schien und demnach die Amnestie auf R. nicht anwendbar war. Auf die nach R.’s Verhaftung an die maßgebenden Centralstellen gemachten Anfragen über das weitere Verhalten in dieser Angelegenheit wurde aber die Erklärung abgegeben, daß dem Amnestieacte in einem zweifelhaften Falle eine restringirende Auslegung nicht zu geben und die Amnestie auf die gegen Dr. Reich anhängige Untersuchung in Anwendung zu bringen sei. Nun wurde auf telegraphischem Wege Reich’s Entlassung aus seiner Haft bei dem Olmützer Kreisgerichte angeordnet. Reich selbst aber verließ nach einiger Zeit Oesterreich und begab sich wieder in’s Ausland. Wie schon bemerkt, ist Dr. R. in seinem Fache schriftstellerisch thätig und hat auch mehrere größere Werke selbstständig herausgegeben, welche wiederholte Auflagen erlebten, Vieles aber in Journalen veröffentlicht. Die Titel der selbstständig erschienenen Werke sind in chronologischer Folge: „Medicinische Chemie“, auch unter dem Titel: „Lehrbuch der Chemie, für Studirende und praktische Aerzte bearbeitet. Mit Berücksichtigung der österreichischen und preussischen Pharmakopöen“, 2 Bände (Erlangen 1857 u. 1858, Ferd. Encke, Lex. 8°.) [vergl. darüber: Medicinische Zeitung, herausg. von dem Vereine für Heilkunde in Preußen. Neue Folge, I. Jahrgang (1858), Nr. 12, Beilage; – Kritische Zeitschrift für Physik, Chemie u. s. w., herausg. von A. Kekulé, F. Eisenlohr, G. Lewinstein, M. Cantor, 1858, Heft 3]; – „Lehrbuch der allgemeinen Aetiologie und Hygiene“ (Erlangen 1858, F. Encken, gr. 8°.) [147] [vergl., darüber: Zeitschrift für wissenschaftliche Therapie, Bd. V (1860), S. 238]; – „Die Nahrungs- und Lebensmittelkunde, historisch, naturwissenschaftlich und hygienisch begründet“, 2 Bände in 3 Abthlg. (Göttingen 1860–1861, Vandenhoek u. Rupprecht, Lex. 8°.) [vergl. darüber: Wiener medicinische Wochenschrift 1861, Nr. 48; – Neues Repertorium für Pharmacie, herausg. von A. Buchner, Bd. X, Heft 10; – Canstatts Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin 1860. Bd. V, S. 4; 1861, Bd. V, S. 110; Bd. VII, S. 5 u. 29]; – „Zur Staatsgesundheitspflege. Ernste Worte an die bürgerliche Gesellschaft“ (Leipzig 1861, O. Wigand, 8°.) [vergl. darüber: Canstatts Jahresbericht u. s. w., 1861, Bd. VII, S. 9]; – „Volks-Gesundheitspflege“ (Coburg 1862, F. Streit, 2. Aufl. 1866, 8°.) [vergl. darüber: Der Hausarzt. Gesundheitszeitung für Gebildete aller Stände. Von Ludwig Engelsberg (Wien 1863), Bd. II, Nr. 3; – Herrmann, Deutsches Wochenblatt aus London 1864, Nr. 277]; – „Geschichte, Natur- und Gesundheitslehre des ehelichen Lebens“ (Cassel 1864, J. C. Krieger, 8°.) [vergl. darüber: Wiener medicinische Wochenschrift 1861, Nr. 37; – Ergänzungshefte zur Natur. Herausg. von O. Ule und K. Müller, 4. Heft]; – „Die Universität in Mähren. Eine Skizze, dem mährischen Landtage überreicht“ (Gotha 1864, Stollberg, 8°.); – „Ueber Unsittlichkeit. Hygienische und politisch-moralische Studien“ (Neuwied u. Leipzig 1866, J. N. Heußer, 8°.) [vergl. darüber: Deutsche Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Herausgegeben von P. J. Schneider und J. H. Schürmayer, 1866, Heft 2]; – „Die allgemeine Naturlehre des Menschen, in ihrem Wesen und in ihrer Anwendung auf die medicinischen, hygienischen und politisch-moralischen Wissenschaften“ (Gießen 1865, Emil Roth, Lex. 8°.). Von den in Fachzeitschriften veröffentlichten Abhandlungen und Aufsätzen sind anzuführen: in L’Igea. Giornale d’Igiene e Medicina preventiva, diretto da Paolo Mantegazza (Milano) 1862 u. 1863, Nr. 1–4, 18, 19: „Considerazioni sulle malattie sociali“; – „Sulla pubblica Igiene“; – in: der Hausarzt. Herausg. von Ludw. Engelsberg (Wien) 1862 und 1863, Bd. I, Nr. 1, 2. 3 u. s. f.: „Die fleischliefernden Thiere“; – Bd. II, Nr. 1 u. 2: „Das Einzelwesen und die Außenwelt; – im Oesterreichischen Reform-Kalender für 1865 (Prag): „Ueber einige Individualitäts-Verhältnisse“; – in Neue Gewerbeblätter für Kurhessen. Herausg. von Eduard Wiederhold (Cassel) 1863, Nr. 16: „Ueber einen Feuerwerks-Körper“, behandelt die Entdeckung einer Masse, welche die Eigenschaften der Zündpille in den preußischen Zündnadel-Gewehren in jeder Weise besitzt; – 1866, Nr. 52 u. 53: „Ueber die Nothwendigkeit der Einführung der Gesundheitspflege als Lehrgegenstand in allen Schulen“; – in der Allgemeinen deutschen Arbeiter-Zeitung (Coburg) 1865, Nr. 85 bis 88: „Zur Gesundheitspflege. Ueber die Nothwendigkeit der Verallgemeinung der Wissenschaft vom Menschen und seiner Gesundheit; – im Gothaischen Tageblatt 1863, Nr. 16: „Ein Wort über die Universitäten“; –1864, Nr. 148 bis 159: „Die Wohnsitze der Menschen“; – 1865, Nr. 58: „Selbsthilfe, Staatshilfe“; – in Der Germane (Brüssel) 1861, Nr. 41: „Flüchtige Bemerkungen über das Welt- und Spießbürgerthum“; – 1862, Nr. 1: „Ueber die Ungleichheit“. Ferner lieferte R. kritische Analysen und Recensionen in den Göttingen’schen [148] gelehrten Anzeigen, in der Mailänder „Igea“, für die Berliner allgemeine medicinische Central-Zeitung, für Petermann’s geographische Mittheilungen, in Bernhardi’s Zeitschrift für wissenschaftliche Therapie, für die schweizerische Monatschrift für praktische Medicin in Bern u. s. w. Gegenwärtig soll sich der Autor mit einer größeren Arbeit über die physischen und moralischen Ursachen der Krankheiten beschäftigen. Aus allen oben angeführten Werken des Verfassers, welche sämmtlich als Organe eines und desselben Organismus, eines gleichsam aus dem andern sich entwickelnd, angesehen werden müssen, spricht, wie die Fachkritik übereinstimmend anerkennt, ein gesunder, denkender, vorwärts strebender Geist. Selbst keiner Partei, keiner Secte angehörend, läßt er nur durch die aus der Erkenntniß der Natur des Menschen fließenden Sätze sich leiten, anerkennt nur sie als die eigentlichen Wegweiser zum Tempel der Menschheit. Um Objectivtät und Unparteilichkeit im vollsten Maße sich zu wahren, steht er da, frei, unabhängig, keinem Vereine, keiner Verbindung, keiner Fraction angehörend, hört ihre Meinungen, prüft sie, ohne im Geringsten von dem rothen Faden der Aufgabe, die er sich gestellt, abzuweichen. Dem entsprechend hält er auch, ohne auf die Theorie von der Nationalität besonderes Gewicht zu legen, doch mit aller Bestimmtheit daran fest, daß jedes Volk durch seine Muttersprache civilisirt werden müsse und nur so allein civilisirt werden könne. Die Sprache ist Ausdruck der Organisation; sie ist nichts Zufälliges. Einem Volke eine fremde Sprache octroyiren heißt: dieses Volk verstümmeln, verthieren. Seine Liebe zur Wahrheit, die ungeschmückte Art und Weise, sie auszusprechen, mag oft mißverstanden worden sein und ihm manchen, vielleicht gar viele Feinde zugezogen haben. Er selbst trägt es, weil er es nicht ändern kann, läßt sich aber dadurch auf seinem Lebenswege nicht beirren. Niemands Feind, verfolgt er auch seine Widersacher nicht, sondern hält nur treu zur Wahrheit und kennend die Gebrechlichkeit des Menschenleibes, die erbärmliche Schwäche der Natur, hält er an den Worten der Madame Staël: „Alles begreifen heißt Alles verzeihen“. Sein Vaterland verließ Dr. Reich, weil er, frei von jedem Zwange, ausschließlich der Wissenschaft leben wollte. Die Förderer der Wissenschaft erscheinen ihm als Weltbürger, die ebenso wenig einem engeren Vaterlande angehören, wie die Wissenschaft etwa ausschließliches Eigenthum einer bestimmten Nation ist. Nach seiner Ansicht – und sie möchte wohl die richtige sein – gibt es keine nationale Wissenschaft: das Wissen nicht – nur die Literatur, das ist der Inbegriff der Art und Weise, wie sich das Wissen mittheilt – kann englisch, französisch, deutsch, russisch sein. Es gibt nur Eine Wissenschaft und das Wissen ist Eigenthum der Welt. Reich’s Leben, wie es schon aus der vorstehenden Skizze ersichtlich, war bisher ein sehr bewegtes; wie der Herausgeber dieses Lexikons von glaubwürdiger Seite erfährt: dient R. mit krankem Körper und ringend um das tägliche Brot den höchsten Interessen der Menschheit, mußte dabei Herzenleid, Verfolgung und Verleumdung bis zum höchsten Maße des Möglichen ertragen, und Gotha war, trotz des herzoglichen Protectors, bisher sein Golgatha. Uebrigens hat ihn kein Schlag seines harten Geschickes gebeugt, sein Alpha und Omega, sein Talisman ist und bleibt die Wissenschaft; in ihrer Förderung vergißt er Armuth und die [149] Unbilden der Welt, und im steten Verkehre mit den Genien aller Menschenalter, ist er glücklich, jede Berührung mit grobmateriellen Interessen zu vermeiden.

Presse (Wiener polit. Blatt) 1866, Nr. 53, 57, 64: „Dr. Reich und über seine Verhaftung“. – Wanderer (Wiener polit. Blatt) 1866, Nr. 52 u. 56: „Ueber Dr. Reich’s Verhaftung“. – Neue freie Presse 1866, Nr. 358: „Die Verhaftung des Dr. Reich“.