Aus der Wandermappe der Gartenlaube/Eine Besteigung des Großglockners
Bis in die neueste Zeit waren die Glanzpunkte unserer Hochalpen leider ausschließliches Eigenthum kühner und gewandter Bergsteiger, und die Schönheiten unzähliger Panorama’s und Detailansichten dem größten Theile des Publicums so gut wie verschlossen. Erst der Gegenwart gebührt der Ruhm, selbst die gefährlichsten, ja früher fast für unersteiglich gehaltenen Spitzen zum Gemeingute Aller gemacht zu haben. Hinter der Schweiz, die den ersten Anstoß gegeben, ist auch das Schwesterland Tirol nicht zurückgeblieben,
[282] und selbst in den entlegensten Theilen, die früher nur Alpenherden und arme Bauern gesehen, regt sich lobenswerther Eifer. Einzelnen wackeren Männer ist es gelungen, die Zahl der jährlich zuziehenden Fremden durch Verbesserung der Wege, Errichtung von Schutzhütten, Regelung des Führerwesens u. s. w. zu verdreifachen. Vor allen anderen aber gebührt dies Lob einem deutschen Manne, einem kühnen Steiger und warmen Freunde unserer Alpen, dem Herrn Johann Stüdel, Kaufmann aus Prag, der keine Kosten und keine Mühe scheute, um den König der deutschen Alpen, den zwölftausendundacht Fuß hohen Großglockner an der Grenze Tirols und Kärnthens, durch Erbauung einer Hütte knapp am Gletscher (der sogenannten Stüdelhütte) leichter zugänglich zu machen.
Eben dem König der deutschen Alpen galt es, als ich im August des Jahres 186* von Pinzgau über den Kaisertauern in das kleine Dorf Kals im abgelegensten östlichen Winkel Tirols eilte. Meine Hoffnungen auf gutes Unterkommen waren durchaus nicht sanguinisch, doch wurden sie durch die außerordentlich freundliche und verhältnißmäßig gute Bedienung im Glocknerwirthshause (Unterer Wirth) wahrhaft übertroffen. Leider Gott zeigte der Himmel draußen ein bitterböses Gesicht, und es hatte durchaus keinen Anschein, als wenn der Regen in Bälde aufhören dürfte. Der Abend verging, wie er unter solchen Umständen eben vergehen kann. Die verschiedensten Pläne, hundert Vermuthungen über das morgige Wetter und mancherlei Besprechungen mit den unterdessen herbeigekommenen Führern bildeten den Hauptgegenstand der Unterhaltung.
Mit sehr geringen Hoffnungen legte ich mich zu Bette. Der Morgen zeigte sich neblig und trübe, doch blies ein frischer steter Wind von den Tauern herab, – ein Zeichen, daß das Wetter zum Besseren sich wenden dürfte; und wirklich, um elf Uhr Vormittags begann es in den oberen Regionen lebendig zu werden. Nord- und Südwind kämpften einen verzweifelten Kampf, doch gewann der erstere die Oberhand, freier und freier wurden die Berge, immer lichter die Höhen und immer größer die blauen Lücken im Wolkenmeere. Es war zwölfeinhalb Uhr und nun die höchste Zeit zu einem Entschlusse zu kommen. Die Führer zeigten sich etwas schwankend und wollten zum Unternehmen nicht recht einrathen. Ich jedoch und ein eben anwesender Fremder, der die Partie auf den Glockner gleichfalls mitmachen wollte, schnitten alle Einwendungen kurz ab, und geboten Aufbruch mit der Erklärung, daß wir wenigstens den Versuch machen wollten. Die Führer wurden angewiesen, sich zu rüsten und ihre Vorbereitungen zu treffen, während die freundliche Glocknerwirthin die Verproviantirung übernahm. Um einhalbdrei Uhr war alles fertig, und bei herrlichem Sonnenscheine brach unsere Karawane fröhlich und jubelnd von Kals auf. Dieselbe bestand aus mir, dem Fremden und fünf Führern.
An der Grenze dreier Länder, Salzburg, Tirol und Kärnthen, erhebt sich aus gewaltigen Eis- und Firnmeeren stolz und kühn die Pyramide des Großglockners zwölftausendundacht Fuß; von ihm entspringen gegen Süden die drei Thäler: das Teischnitz-, Ködnitz- und Leiterthal, wovon die zwei ersten zur Drau-, das letztere zum Möllgebiete gehören.
Früher war der Ausgangspunkt für alle Glocknerbesteigungen das kleine Dörfchen Heiligenblut im Möllthale. Seitdem aber auf Tirolerseite die Stüdelhütte erbaut, und ein neuer viel kürzerer Weg über die südlichen Felswände des Glockners, der sogenannte Peggerweg (nach Herrn Ingenieur Pegger so benannt, der auf diesem Wege zum ersten Male die Spitze erstieg) hergestellt wurde, hat sich das früher kaum gekannte Dörfchen Kals, nordöstlich von Lienz im Pusterthale, zum Stationsplatze emporgeschwungen. Wir stiegen nun von Kals aus den anfangs etwas steilen Weg durch das Ködnitzthal hinan. Ueppige Wälder zieren die abschüssigen Halden des Thales und tief unten tost der Bach im steinigen Bette.
Nach zwei Stunden betraten wir eine herrliche Wiesenmatte, auf der die früher zum Uebernachten bestimmte, nun verlassene Jürgenhütte, sechstausendzweihundertfünfzehn Fuß hoch, liegt. Im Hintergrunde erhob sich von schweren Nebelmassen umzogen das eisumlagerte Gestelle des Glockners. Ein kalter, feuchter Wind blies von seinen Höhen herab und verkündete nichts Gutes; auch die Nachbarberge hatten sich mit Schneewolken umzogen. Ein banges Gefühl beschlich mich, es lastete auf mir, und tausend Stimmen tönten von Fels und Riff, die flüsternd wie zur Umkehr mahnten. Und nicht umsonst! denn wir waren keine zweihundert Schritte weiter gestiegen, als plötzlich in seinem Grimme das gewaltige Haupt des Glockners löwenähnlich seine schneeigen Mähnen schüttelte, und sausend und brausend der Sturm auf uns niederfuhr, Massen feinkörnigen Schnees vor sich peitschend. In einem Nu waren wir in die flatternde Bergfee gehüllt, und vermochten nur mit großer Anstrengung die Jürgenhütte zu erreichen, worin wir theilweise Schutz gegen das fürchterliche Unwetter fanden. Doch bald legte sich die tobende Windsbraut, und als ich in das Freie trat, lächelte mir vom Glockner herab schon wieder ein wenig blauer Himmel. Ich rief die Führer heraus und mahnte zum schnellen Aufbruch.
Verdoppelten Schrittes ging es nun über steinige Wiesen und Geröllhalden hinauf, theilweise schon im Schnee watend. Hoch oben und noch ziemlich weit entfernt erblickte man die öden Gehänge der Vanitscharte, auf der die Stüdelhütte steht, das Ziel unserer heutigen Wanderung. Rechts und links lagerten sich wieder neue Wolkenmassen auf den Schultern der Berge, und aus der Ferne tönte unheimlich, fast gespensterhaft das Heulen des Windes, wie er um Fels und Ecke strich. Die Führer mahnten zur Eile, obgleich sie selbst unter ihrer Last den steilen Pfad hinaufkeuchten. Wir leisteten Unglaubliches in dem Sturmschritt, den wir nun einschlugen, und legten in kürzester Zeit einen Weg zurück, zu dem wir sonst noch einmal so lange gebraucht hätten. Doch bald versagten die Kräfte, man mußte sich verschnaufen, obgleich es klar war, daß dem Unwetter nicht mehr zu entrinnen war. Mit fast fanatischer Wuth raste der Schneesturm nun neuerdings gegen uns, mit übermenschlicher Anstrengung überwand ich die gewaltige Schwäche, die lähmend meine Glieder erfaßt hatte, und wollte mich matt und erschöpft zu einer etwas überhängenden Felsplatte hinschleppen, als der vorausgeeilte Führer mir zurief: „Da ist die Hütte!“ Ich raffte mich auf, eilte ihm nach, und um siebeneinhalb Uhr Abends stand ich bei der nun doppelt ersehnten Hütte, fast neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel. Schnell war der angewehte Schnee beseitigt und die Thür geöffnet. Müde und fast ohne Athem warf ich mich in meinen Plaid gehüllt auf die Bank. Die Führer hatten rasch ein lustiges Feuer angemacht, und in der behaglichen Wärme und nach einem tüchtigen Schlucke Wein fühlte ich mich bald wieder besser. Nun ging es an das Besehen der Hütte und ihres Inventars.
Die Stüdelhütte ist in der Einsattlung des vom Glockner südwestlich zur Vanitscharte führenden Kammes aus Steinen erbaut und mit schweren Schieferplatten gedeckt. Das Innere ist in zwei Räume abgetheilt, von denen der eine als Speise-, der andere als Schlafsalon dient. Erwägt man die Höhe, in der diese Hütte liegt, die Schwierigkeiten des Transportes von Gegenständen, Utensilien und Eßwaaren, sowie die Kleinheit des Raumes selbst, so muß man erstaunen, mit welch praktischem Sinne und mit welcher Sorgfalt dieses Asyl ausgestattet ist. Da findet man einen von vier Steinplatten eingerahmten Herd, schön getrocknetes Holz, mehrere Pfannen, Tisch und Bänke, verschiedene Kochgeräthe, Kaffeeschalen, Teller, Bestecke, Servietten, Butter, Schmalz, Salz, Speck, Kopfkissen, Decken, Lichter, einen Thermometer, Fremdenbuch, ja sogar eine Petroleumlampe – und das alles in einer Höhe von neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel, in der Region des ewigen Schnees und Eises, meilenweit entfernt von allen bewohnten Stätten.
Als wir so um das Feuer herumsaßen, und uns eben anschickten unser Souper zu bereiten, hörten wir plötzlich draußen Hallohrufe! Wir sprangen auf, öffneten die Thür und erblickten mitten im Schneegestöber die drei anderen Führer, die etwas später von Kals aufgebrochen und nun durch das Teischnitzthal heraufgekommen waren. In Doublirschritten gewaltig gegen den rasenden Sturm ankämpfend, mit Lasten von Schnee bedeckt, eilten sie in die gastliche Hütte. Nun war die Gesellschaft vollzählig, und nachdem ich, der Fremde und die Führer uns an den mitgebrachten Vorräthen und am Weine gelabt hatten, wurden die Führer nacheinander hinausgeschickt, um das Wetter zu recognosciren. Immer aber kam die gleiche Meldung: Wetter, das heißt Himmel gegen Süden klar, gegen Norden dicht umwölkt, fürchterlicher, fast unerträglicher Sturm und Schneegestöber. Es war zehn Uhr Nachts geworden, und mein Vertrauen und Muth nicht sonderlich gehoben. Nun ging es in den Schlafraum! Eine lange, etwas schmale Holzstätte, mit fußhohem gefrornem Heu bedeckt, bildete das gemeinsame Bett; gottlob daß Decken und Kissen da waren! Dennoch wollte es mich bedünken, daß es ein wenig allzu kühl [283] hier sei; in dem Augenblicke hörte ich einen Schrei des Entsetzens von meinem Reisegefährten.
„Was meinen Sie,“ fragte er mit dem Thermometer in der Hand, „wie viel Grade wir hier haben?“
„Nun,“ antwortete ich, „gewiß nicht viel über Null.“
„Schauen Sie selbst.“
Ich warf einen Blick auf die Scala, und siehe da! – viereinhalb Grad unter Null. So, dachte ich mir, eine hübsche Zimmertemperatur! das wird gut gehen! dem muß vorgebeugt werden! Ich packte daher alle meine Kleidungsstücke aus meinem Reisesacke, zog Alles an, hüllte mich dicht in den schweren wollenen Shawl, that mir warme Handschuhe an, und vergrub mich so in das Heu. Die Letzten, die sich zur Ruhe begaben, waren die wackeren Führer, die selbst gewaltig froren, aber aus Schonung für uns das meiste Heu und die wollenen Decken uns überließen. Nun war Alles still – finstere Nacht umgab uns.
Die Natur machte ihre Rechte geltend, erschöpft von den Anstrengungen verfiel ich bald in einen schweren Schlaf; doch dürfte derselbe kaum eine halbe Stunde gedauert haben, denn plötzlich kam es mir vor, als wenn die Erde mit einem furchtbaren Donnergetöse sich öffnen wolle; – ein Stoß – und ich war erwacht, – erwacht zur traurigen Wirklichkeit! Denn draußen wüthete und raste ein Orcan, wie er in den Aequinoctialzeiten auf dem Weltmeere nicht ärger rasen konnte – ein wahrer Teifun[1][WS 1] des Hochgebirges. Es klirrte, rasselte, stöhnte und dröhnte, als wenn das ganze Grundgestelle des Glockners bersten wollte. Dazu flog, vom Winde gepeitscht, der feinkörnige Schnee durch die Spalten des Daches und verursachte im Laufe der Zeit eine ganz artige Nässe, dazu vier Grad Kälte und die Aussicht, noch sechs Stunden in einem solch qualvollen Zustande verharren zu müssen!
Mit Gigantenarmen, durch Nichts gehindert, faßte in furchtbaren Stößen der Sturmwind unsere gebrechliche Behausung und rüttelte an den Dachplatten, daß mir ganz angst und bange wurde; denn, dachte ich mir, entweder deckt er die Hütte ab, und was dann anfangen in dieser Nacht des Entsetzens, oder die centnerschweren Dachplatten, von dem gewaltigen Sturme aus ihrer Lage gebracht, stürzen auf uns nieder und zermalmen uns wie Haselnüsse. Selbst die Führer, die abgehärteten und daran gewöhnten Männer, bewegten sich unruhig auf ihrem Lager, ja ich vernahm sogar die stillen Gebete eines neben mir Liegenden. Nachträglich erklärte mir der Hauptführer, daß er unter den verschiedensten Witterungsverhältnissen den Glockner bestiegen, einen solchen Sturm aber noch nie erlebt habe.
Unerträglich langsam schlichen die bangen Stunden vorüber; als endlich einer der Führer verkündete, es sei halbvier Uhr, sprang ich mit einem „Gott Lob und Dank“ von meinem kalten Pfühle auf und eilte, Feuer zu machen. Die einzelnen Windstöße, wenn auch noch immer heftig genug, kamen nur nach einzelnen Intervallen mehr, und in mir dämmerte die Hoffnung, es könnte vielleicht das Wetter doch noch zum Besseren umschlagen. Ich öffnete behutsam die Thür und schaute hinaus: ein kalter, schauriger Morgen hatte sich aufgethan; der Himmel war zwar rein, insbesondere gegen Süden, allein unbarmherzig fegte der Wind um die Fels- und Firnecken, und öde lag die Hochgebirgswelt in frischem Winterkleide. Ich huschte allsogleich wieder in die Hütte. Zuerst wurde ein kräftiger Kaffee gekocht und inzwischen ein Führer nach dem andern hinausgeschickt, um das Wetter zu beobachten und seine Ansicht dann vorzubringen. Alle aber kamen, nach gethanem Ausblicke, darin überein, daß es zwar möglich sei, die Spitze zu erreichen, daß es aber wegen des in der Höhe wahrscheinlich noch ärger wüthenden Sturmes ein Stück Herculesarbeit sei, und es gerathener sein dürfte, entweder einen Tag noch zuzuwarten oder den Rückzug anzutreten. Da mir aber keine dieser Ansichten zusagte, auch die Möglichkeit des Hinaufkommens nicht in Abrede gestellt wurde, so befahl ich aufzubrechen und wenigstens den Versuch zu machen.
Eilends wurde der Kaffee getrunken, die Mundvorräthe und der Wein verpackt, die Stricke, Fußeisen und Beile untersucht und wohl versorgt, und hinaus zog die sieben Mann starke Karawane, dem Sturme trotzend, das Wagniß zu bestehen. Ein eiskalter Windstoß empfing uns schon auf der ersten Höhe hinter der Hütte, doch tröstete uns einigermaßen der südliche Himmel. Wir stiegen zuerst nordöstlich über einen schwach geneigten Chloritschiefergrath hinauf und kamen nach und nach dem Ködnitzgletscher und damit auch dem Glockner näher; neuer Muth beseelte uns, als über uns die zweigespaltene Spitze, rings von furchtbaren Eis- und Felsenwänden umgeben, gewaltig und übermächtig in den blauen Himmel ragte.
Hinauf! Hinauf! war das Losungswort, trotz des noch immer wüthenden Sturmes und des auf der Adlersruhe hoch aufwirbelnden Schnees. Wir waren nunmehr an der Stelle angelangt, wo sich die beiden Wege, der neue und der alte, trennen. Der erstere führt, wie schon oben erwähnt, direct über die Felswände zur Spitze, war aber heute wegen des angewehten Schnees und der damit verbundenen Unsicherheit des Trittes ungangbar; der letztere führt quer über den Ködnitzgletscher zur Adlersruhe und dann über Eiswände und die sogenannte Scharte zur Spitze. Dieser Weg wurde auch eingeschlagen. Dort, wo der Ködnitzgletscher beginnt, machten wir Halt, theils um Etwas zu genießen, theils um uns an das Seil zu binden. Ich nahm etwas Fleisch und Brod zu mir und wollte auch einen Schluck Wein aus meiner Feldflasche thun, doch kam ich mit den erstarrten Händen schlecht zurecht, und aus Versehen entschlüpfte mir der oben an der Flasche abzuschraubende Becher und rollte die geneigte Eisfläche hinab gerade gegen eine gähnende Kluft; ich hatte kaum einen kleinen Aufschrei gethan, als der Führer Tommele, trotz des ängstlichen Abmahnens seitens der anderen Führer, dem Becher nachrutschte und ihn am Rande der Kluft erwischte; noch einen Fuß weiter, und Mann und Becher hätten ein gemeinsames Grab gefunden.
Ruhig, als ob er den Becher von einer Wiese aufgehoben hätte, überreichte er mir denselben. Nun kam der zweite Schreck. Als ich nämlich den Inhalt der Feldflasche kennen lernen wollte, fand sich nichts, als ein halbgefrorener, schneeartiger Wein vor, der um keinen Preis aus der Flasche herauswollte. Das war unangenehm, doch da half kein weiteres Versuchen; ich barg die Flasche zwischen Rock und Weste, um sie etwas zu erwärmen und dann wenigstens später einen Labetrunk zu haben, und band mich resignirt an das Seil. Drei Führer gingen voraus, dann kam ich, hernach ein Führer, mein Reisegefährte und schließlich noch ein Führer.
[299] So zogen wir vorsichtig weiter. Wegen des stets über uns hinhuschenden Nebels und wegen der Menge des fest angewehten Schnees hatten wir weder vom Schneeglanze noch vom Einsinken in verborgene Klüfte sonderlich viel zu leiden. So kamen wir, den Ködnitz-Gletscher quer überschreitend und weniger vom Winde belästigt, als wir gedacht hatten, bis an sein östliches Ende. Hier bricht nun der Eiskamm, der sich vom Glockner über die Adlersruhe gegen die Leiterköpfe zieht, in jähen, nur wenig von Felsen durchbrochenen Eiswänden ab, und mit einem gewissen Mißbehagen und Ahnungsgefühle blickten wir zu der hoch über uns liegenden Adlersruhe; denn oben stiebten ganze Wolken aufgewirbelten Schnees auf, ein Zeichen, daß der Orcan in dieser Höhe sein altes Spiel von heute Nacht forttreibe. Doch besannen wir uns nicht lange. Die Fußeisen wurden angezogen und nun begann die eigentliche Arbeit der Führer.
Da das Terrain zum Stufenhauen doch zu wenig steil war, so mußten die drei Führer mit ihren Fußeisen Tritte in das Eis stoßen und stets auf der Hut sein, daß nicht einer von uns Zweien stürzte.
Endlich nach fast einstündigem Marsche gelangten wir zur schwachen Einsattelung der Adlersruhe und waren vielleicht noch dreißig Schritte vom Kamme entfernt: da mit einem Male erfaßte uns, gerade an der steilsten Stelle, ein orcanartiger Schneesturm, der von Norden über die Schneide dahersauste und uns fast [300] hinunterzustürzen drohte. Geblendet vom Schnee und überwältigt vom plötzlichen Anfalle, wollte ich, mich niederwerfend, einen Augenblick Halt machen; doch die Führer, die Gefahr ahnend, verstanden hier keinen Spaß. Mit herculischen Kräften griffen sie uns, das Seil spannte sich stramm wie eine Saite, und von ihnen gezogen, flog ich, fast ohne zu wissen, wie mir geschah, im Schlepptau die steile Firnhalde hinauf; – wir waren auf der Adlersruhe 10,932 Fuß ü. M. Hier aber erfaßte uns der Nordoststurm mit voller Gewalt, so daß es selbst den gewandten und abgehärteten Führern zu arg wurde und sie uns nur noch die Worte zuriefen: „Nieder mit den Köpfen!“ Im Augenblicke lag die ganze Schaar, gleich eingeschneiten Schafen, die Köpfe zusammengesteckt, auf den Knieen am Boden. Der Sturm sauste über uns hinaus; Keiner wagte aufzusehen. Es war ein Kraftausdruck, dessen sich die gewaltige Eiswelt gegen uns freche Eindringlinge bediente; es war der letzte Mahnruf, den ungleichen Kampf mit den finsteren Mächten nicht aufzunehmen. Doch verhallte auch diesmal der Donner der eisigen Windsbraut, und mit ihm schwand auch unsere Furcht. Wir schüttelten den auf unsere Leiber hochangewehten Schnee wieder ab und schickten uns an, weiter in die Nacht des nebelumstürmten Glockners vorzudringen. Von der Adlersruhe zieht ein schwachgewölbter, aber ziemlich stark geneigter Firngrath bis unter die Spitze des kleinen Glockners, der gegen Süden in einzelnen Eiswänden abbricht. Bevor der schwere Anstieg über diesen Firngrath begonnen wurde, machten wir ein wenig Halt, was selbst den Führern nicht unerwünscht war, denn auch sie waren von den ausgestandenen Strapazen ziemlich angegriffen.
Das Morgenbrod schmeckte uns nicht, wir waren zu sehr aufgeregt, nur plagte uns gewaltiger Durst; doch war aus meiner etwas erwärmten Feldflasche nur wenig, aus den in den Tragkörben offen daliegenden Flaschen gar kein Wein zu erhalten – Alles war gefroren! Nach einer halben Stunde wurde wieder aufgebrochen; der Wind kam nur mehr stoßweise und machte oft acht bis zehn Minuten lang Pausen, so daß während derselben die schwierigsten Stellen überwunden werden konnten. Aber jetzt begann der schwierigste Theil der Unternehmung. Es galt nämlich die circa drei- bis vierhundert Fuß hohen glatten Eiswände, die sich von der kleinen Glocknerspitze gegen Süden herabsenken, zu übersteigen. Der erste Führer stieg voran, mit außerordentlicher Gewandtheit und Schnelligkeit Stufen in das Eis hauend, während der zweite und dritte Führer, die ihm nachfolgten, mich und den Fremden am Seite nach sich zogen. So gelangten wir ohne weiteren Unfall auf die Spitze des kleinen Glockners. Der Nebel hatte sich zertheilt, der Wind hatte momentan aufgehört, und herrlich entfaltete sich das unendlich großartige Glocknerpanorama.
Fast ahnend, daß von der obersten höchsten Spitze die Rundschau sich nicht mehr in gleichem Maße und so ruhig genießen ließe, wie hier, versuchte ich den gewaltigen Eindruck, den dieses prachtvolle Rundgemälde, mit all’ seinen tausend und aber tausend Spitzen, Jochen, Kämmen, Thälern und Flüssen hervorrufen mußte, in mir zu fixiren und ein getreues Abbild all’ dieser Schönheiten in meiner Seele zu bewahren. Doch konnten wir nicht lange hier verweilen, die Zeit war schon vorgerückt und noch hieß es, das schwerste Stück Arbeit, nämlich die Passage über die sogenannte Scharte zu vollenden. Diese vielgenannte, gefürchtete Scharte ist nichts anderes, als ein circa sechs bis sieben Klafter langer Firngrath, der sich vom Fuße der eigentlichen Glocknerspitze in einem Winkel von vielleicht zwölf Grad gegen den kleinen Glockner herabzieht; sein Scheitel ist dachfirstähnlich, an manchen Stellen sechs bis zehn Zoll, an manchen nur drei Zoll breit. Zu beiden Seiten stürzt er in furchtbaren, ein- bis zweitausend Fuß tiefen Eiswänden östlich zur Pasterze, westlich gegen den Ködnitzgletscher ab. Mag auch die Passage unter gehörigen Vorsichtsmaßregeln nicht gefährlich sein, der Anblick ist jedenfalls schauerlich.
Ohne sich lange zu besinnen, und die Sache als fast alltäglich betrachend, stieg der erste Führer zur Scharte hinab. Alles Entbehrliche, sowie auch die Bergstöcke, wurden hier zurückgelassen. Sodann begann der Führer, am Seile gebunden und – fest gehalten, seine schwindlige Arbeit; er hieb nämlich an der von der Scharte gegen die Pasterze abfallenden Eiswand circa vier Fuß unter dem Grathe breite Stufen in das Eis und stellte sich nach glücklich vollbrachtem Werke am jenseitigen Bord auf, um den zweiten Führer in Empfang zu nehmen.
Als dies geschehen, wurde ich an das Seil gebunden, mit den nöthigen Instructionen versehen, und ohne Furcht oder Beklemmung stieg ich, die Fußeisen fest in die Stufen stoßend und auf die Eisschneide mit dem linken Arme mich stützend, die gefährliche Stelle hinüber. Gleicherweise wurden mein Reisegefährte und die drei anderen Führer hinübergeseilt. Die ganze Passage ist durchaus nicht so arg, als man sich vorstellen möchte; nur die letzte Stelle ist etwas bedenklich. Um nämlich auf das kleine Plateau zu gelangen, das über der Eisschneide sich befindet und zur höchsten Spitze führt, muß man sich auf den scharfen eisigen Grath selbst hinaufschwingen; da sitzt man nun auf einem kaum handbreiten Eisfirste, – zwischen zwei Ländern, den einen Fuß buchstäblich nach Tirol, den andern nach Kärnthen hinabhängend. Aber auch diese Stelle, sowie der letzte Anstieg zur Spitze wurde glücklich, jedoch unter stetem Ankämpfen gegen den neuerdings losbrechenden Nordwind überwunden, und um halb zehn Uhr Morgens standen wir auf der höchsten Spitze des Großglockners. Mein erster Aufschrei der Freude wurde durch den heulenden Sturm fortgetragen, der mark- und beindurchdringend durch die eisige Höhe fegte; dazu kam noch ein dichter Nebel, der uns Alle in seinen feuchtkalten Mantel hüllte und jegliche Aussicht versperrte.
So standen wir heroben nach zehn- bis zwölfstündigem Marsche fast auf der höchsten Eiswarte Oesterreichs, ermattet und abgespannt, zitternd vor Frost und Kälte, ohne auch nur einen Blick in die unendliche Gebirgswelt, die unsichtbar zu unseren Füßen lag, werfen zu können. Schon wollte ich nach fünf bis acht Minuten zum Rückzuge blasen lassen, als plötzlich wie ferner Donner der Sturm in die dichte Nebelmasse fuhr und dieselbe flatternd und fliegend auseinandertrieb. Der schwere Mantel löste sich, und rein blaute über uns der klare Himmel; bis in unabsehbare Fernen reihten sich Gebirge an Gebirge, Thäler an Thäler. Die Aufklärung war so rasch gekommen und der Sturmwind hatte eine so unerwartete Attaque auf uns gemacht, daß wir moralisch und physisch zu Boden kamen und uns auf dem schmalen, geneigten Plateau kaum mehr zu erhalten vermochten. Halb knieend, halb liegend staunte ich nun all’ die Wunder an, die sich meinem Blicke hier aufthaten!
Es ist kein Land des Reizes und Zaubers, das man hier erblickt, nichts schmeichelt den Sinnen, kein befreundeter Ton dringt zum Ohre!
In unmittelbarer Umgebung, und besonders gegen Osten, meilenweite Firnmeere und blendende Schneefelder, von öden, schwarzen Felsmauern und Karrenfeldern umrahmt. Weiter hinaus coulissenartig, in blaue Fernen verschwindend, gewaltige Gebirgsreihen mit Hunderten von Zacken und Spitzen in die klaren Lüfte strebend. Trotz der Reinheit der fernsten Contouren schwebte doch ein geheimnißvolles Dunkel schleierartig über Berg und Höhe. Der Himmel war tief-, fast schwärzlichblau und die Sonne hatte nicht mehr ihren strahlenden Glanz, sondern glich mehr einer Feuerkugel im blaudunklen Raume. Alles verkündet, daß man nicht mehr an freundlichem, dem Menschen zur Stätte angewiesenen Orte weilt, sondern irdischem Behagen entrückt im Reiche der überirdischen Mächte auf der höchsten Zinne des Wundertempels steht! Wer vermöchte den Eindruck zu beschreiben, den dieses unendliche Panorama hervorruft, wer die Spitzen, Joche, Kämme und Zinken zu zählen und zu nennen, die brüderlich sich in- und aneinanderschlingen, und durch weite Länder von Ost nach West, voll Nord nach Süden ziehen? Mit kleineren Gebirgsmassen und ihrer Beobachtung konnte ich mich gar nicht abgeben, denn Wind und Kälte nahmen in zu peinlichem Maße überhand; ich sah nur die Matadoren der Eiswelt, den Montblanc, Monterosa, die Berneroberlandsgruppe, Ortles, Bernina, die gesammte Oetzthaler und Stubaierfernermasse, die badischen, bairischen, würtembergischen und österreichischen Ebenen, die steirischen und bellunesischen Alpen, die Marmolata, den Terglou und die lombardischen Ebenen, und das Alles in voller Klarheit!
Welche Erhabenheit und Größe lag nicht in diesen einfachen Formen und Gebilden von Eis und Fels! O, wäre es mir nur vergönnt gewesen, blos noch eine halbe Stunde auf dieser fesselnden Höhe ruhig und unbeirrt weilen zu können! Doch unseres Bleibens war nicht mehr länger auf der Spitze, wollten wir anders noch glücklich in die Heimath kommen, unsere Glieder zitterten, und die Kräfte nahmen zusehends ab, selbst die Führer beklagten sich bitter über die Kälte, die sie in so hohem Grade hier noch nie gefunden.
[301] Das Hauptstärkungsmittel, der Wein, war gefroren! Noch einen letzten Gruß, noch einen Blick in die Runde nach den geliebten Höhen, und rasch ging es die Spitze hinab zur Scharte. Dieselbe wurde zwar glücklich überwunden, allein als ich gerade in der Mitte des Kammes mich befand, verlor ich plötzlich aus eigener Unvorsichtigkeit durch Hinabsehen in die Tiefe das Gleichgewicht und stürzte, jedoch nicht weit, denn das Seil war stramm, und die Führer zogen dasselbe unter lauten Zurufen und Ermuthigungen mit großer Kraft an sich, so daß ich halb schwebend, halb gehend am jenseitigen Firn anlangte. Dieser kleine Unfall machte die Führer noch viel aufmerksamer und vorsichtiger; denn als wir von der Scharte weg die steilen Eiswände hinabzusteigen begannen, erfaßte mich einer von ihnen am Seile knapp hinter meinem Rücken und führte mich, trotz meines Widerstrebens, wie ein Kind am Gängelbande die Eisstufen hinab. Mein Reisegefährte, der, zitternd vor Kälte, auch schon mehr als genug hatte, folgte mir, auf gleiche Weise geführt, nach, und so gelangten wir ohne weitern Unfall wieder zur Adlersruhe, wo wir noch einen Augenblick Halt machten und noch einen letzten scheidenden Blick in das herrliche Panorama thaten. Sodann wurde wieder aufgebrochen, und in der Hoffnung auf baldige Erlösung ging es nun etwas schneller die letzte steile Firnhalde hinab. Nachdem die größte Steigung aufgehört hatte, wurden die Fußeisen abgeschnallt, den Führern übergeben, und mit einem lauten lachenden „Fürchtet Euch nicht!“ setzten sich die letzteren auf ihre Bergstöcke und fuhren sausend die Firnfläche hinab, während ich und mein College, die wir noch immer am Seile hingen und durch den ersten starken Ruck auf das Eis zu sitzen kamen, in dieser Stellung von den vorderen Führern gezogen, von den Hinteren geleitet, die fliegende Fahrt mitmachten. In kurzer Zeit, während deren die Führer noch eine außerordentliche Bravour im Hinabfahren entwickelten, hatten wir die Eispassage überstanden und standen nun wieder auf festem Boden.
Unterdessen hatte die Temperatur zugenommen, und wir fühlten uns nach fünfzehnstündigem Frieren wieder einmal in einer behaglichen Wärme; doch war ich so ermattet und erschöpft, daß ich mich nur noch mit Mühe zu der eine halbe Stunde entfernten Hütte schleppen konnte. Wie mir zu Muthe gewesen wäre, wenn keine Hütte hier gestanden hätte, das weiß ich nicht. Ich und mein Camerad fühlen uns nur verpflichtet, dem wackern H. Stüdel unsern besten wärmsten Dank im Namen aller Bergfreunde abzustatten; und mit diesem Dankgefühl zogen wir in seine Hütte ein, als wäre sie ein Palast; es war halb zwei Uhr Nachmittags. Schnell wurde ein lustiges Feuer angemacht, gekocht, gegessen und getrunken und sodann geruht. Nachdem wir uns ein wenig restaurirt, brachen wir um drei Uhr wieder auf und erreichten um sieben Uhr Abends Kals, wo Alle, nachdem sie von unserer Ersteigung gehört, sich höchlich verwunderten, wie wir es hatten wagen können, bei einem solchen Sturme die Glocknerspitze zu erklimmen. – Nach einem kleinen Imbiß suchte und fand ich die wohlverdiente Ruhe.
Wenn nun schon eine Ersteigung des Großglockners unter so mißlichen und widerwärtigen Umständen bei Nebel, Schnee und tobenden Stürmen gelang und der Genuß der Rundsicht selbst unter so abnormen Verhältnissen als ein wahrhaft großer, wenn auch theuer erkaufter gelten kann, wie muß derselbe erst beschaffen sein, wenn kein Wölkchen das reine Himmelsblau trübt, wenn bei dunstfreier Atmosphäre der Blick weit über zwanzig Meilen hinausschweift auf ein Territorium von mehr als fünftausend Qudratmeilen, wenn der Thermometer auf der Spitze über zwölf Grad zeigt und ein Streichhölzchen ruhig in der herrlichen Luft fortbrennt! dann wiegt dieser Genuß alle anderen auf, dann ist kein Opfer zu hart, keine Mühe zu groß, um ihn zu erkaufen!
Wem hat man aber dann diesen Genuß zu verdanken? Nochmals sei es gesagt und laut verkündet in allen deutschen Gauen, wo Lust und Liebe für unsere herrlichen Hochalpen warm in der Männerbrust lodert – dem Herrn Johann Stüdel und den wackeren Glocknerführern von Kals.
- ↑ Teifun: der gefürchtetste Sturm in den chinesischen Gewässern (Cyklon).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: (Cyllon)