Textdaten
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Autor: J. G. Fischer
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Titel: Aus der Vogelwelt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 384–387
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aus der Vogelwelt.

Aufzeichnungen von J. G. Fischer

Am 4. Mai wurde in Stuttgart der schwäbische Dichter Johann Georg Fischer nach einem kurzen Krankenlager durch den Tod von diesem Leben abberufen. Ein hohes und glückliches Alter war ihm beschieden worden. Hat er doch, wie wie vor einigen Monaten (vgl. Jahrg. 1896, S. 731 der „Gartenlaube“) unseren Lesern berichtet haben, am 25. Oktober vergangenen Jahres seinen achtzigsten Geburtstag feiern dürfen, und bis auf die letzten Tage hat ihn das Alter nicht niedergebeugt. Rüstig stand er da und erfreute sich einer Geistesfrische, wie sie so Hochbetagten nur selten zu teil wird. Er arbeitete und schuf bis zu seinem letzten Atemzug und noch im April dieses Jahres übergab er uns ein Manuscript, das den Titel „Aufzeichnungen aus der Vogelwelt“ führt und uns den Dichter, dessen Lieder so innige Liebe zur Natur atmen, nicht nur als warmfühlenden sondern dabei auch scharf beobachtenden Naturfreund zeigt.

Schon vor mehr als einem Menschenalter, im Jahre 1863, hat J. G. Fischer ein interessantes Buch „Naturpsychologische Skizzen“ bei Fr. Brandstetter in Leipzig erscheinen lassen. Im Laufe der Jahre hat er auf diesem Gebiete weiter geforscht und hatte nun die Absicht, durch die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen die Liebe zur Beobachtung der Natur, namentlich aber der Vogelwelt, in weitere Kreise zu verpflanzen.


Mir hat es schon als kleinem Knaben mein Vater angethan, wenn er mich in der Sonntagsfrühe oder Werktags „nach Feierabend“ mit in Feld und Wald nahm. „Hörst du, da schlägt eine Wachtel – vier- – fünf- – sechs- – siebenmal; die hat ihr Nest in der Saat auf dem Boden.“

„Siehst du dort das Finkennest auf dem Zwetschgenbaum?“ – „Und dort singt eine Lerche ihr Vaterunser bis in die Wolken.“ – „Aber wart’ nur, wenn der Wald kommt!“ – Doch schon ehe er kam: „Hörst du dort vom Laubholz her die Amsel? Die singt ja, man meint, es sei ein Choral, daß man’s eine Viertelstunde weit hört! Ja, Bub, und ich weiß ihr Nest.“ – Mir schlug das Herz, als er mich zu dem Nest mit den Eiern führte, wie es mir später schlug, wenn ich die wuselnden Jungen drin sah. So ward mir ein Amselnest der Inhalt meines damaligen Knabenideals. Solche Hingabe aber, sollte sie nicht Jüngerschaft haben, wenn sie auch nicht bis zu enthusiastischem Interesse sich steigert?

Solche Jüngerschaft sollte namentlich aus unsern Lehranstalten zu erhoffen sein. Der Dorfschüler lernt seine Tiere und Pflanzen kennen aus täglicher Anschauung und Erfahrung, und wenn die Dorfschule nur so viel wirkt, daß sie der rohen Behandlung des Naturwesens Einhalt thut, so mag sie auf ihrem Standpunkte das Genügende geleistet haben.

Von höheren Schulanstalten sollte gehofft werden dürfen, daß die Klagen aufhören: es komme auf Universitäten gar zu oft vor, daß Studierenden, zu deren Beruf z. B. Botanik gehört, die Elementarbegriffe dieser Wissenschaft bedauerlich abgehen. Die Universität kann doch nicht mit dem ABC beginnen, und wenn sie Linnés oder Jussiens oder eines anderen System behandelt, so sollte sie doch nicht auf das Alleranfänglichste, auf die reine Aeußerlichkeit von Begriffen wie Keim, Stengel, Blatt, Knospe, Blütenteile etc. zurückgreifen müssen, sondern ihre organische Bedeutung, ihre physiologische Aufgabe alsbald zum Gegenstand des Vortrags machen können. Die Zeit für botanische Exkursionen muß an den höheren Lehranstalten schon vor der Universität gefunden werden. Die alte Klage muß aufhören, daß eine Menge unserer „Studierten“ unsere Getreidearten, unsere Waldbäume, unsere wichtigsten und bekanntesten Vögel, unsere bedeutendsten Giftpflanzen nicht zu unterscheiden gelernt haben, nicht den Unterschied zwischen Knolle und Zwiebel kennen, nicht wissen, daß Hase und Reh sehr verschiedenen Tiergattungen angehören, daß Larven und Puppen verschiedene Dinge sind; dann wird es auch nicht mehr vorkommen, daß ein „Studierter“ einer gefangenen Schwalbe Milch und Semmel als Nahrung vorseht.

Sehen, durch Sehen sich interessieren und auf dem Weg des Interesses das Beobachten sich angewöhnen! – Wie viel können gebildete Berufe, von denen naturwissenschaftliche Kenntnisse nicht eben gefordert werden, von Pflanzen- und Tierformen lernen! Wie viel die Meister der Künste aller Art: Maler, Bildhauer, Architekten, Dichter, Dekorateure etc. davon gelernt haben, das erfährt man aus den charakteristischen Formen des Gesichts- und Muskelausdrucks in den Werken der Historien- und Tiermaler oder den duftigen Gebilden der Blumenmalerei. Unsere Dome und andere bewunderte Bauten, woher hätten sie ihr Säulenwerk, ihre Kapitäle, ihre Laub- und Kranzgewinde im Ornament, wenn diese nicht den Stämmen der Wälder, nicht den Blättern und Blüten, der Form wie der Stellung nach, abgesehen worden wären? Unsere Zeus-, Apollo-, Herkules-, Diana-, Pallas-, Venusgestalten, wie unsere Frauenherrlichkeiten in der Poesie, verdanken ihren Ruhm nur der Uebung tiefster und innigster Naturanschauung ihrer Meister.

Es kann nicht jeder, auch von denen, welche bessere Schulen besuchen, ein großer Baumeister, Maler oder Dichter werden; aber an der Natur und durch liebendes Versenken in sie fühlen, hören und sehen und vergleichen lernen, bildet den Geschmack, erhöht das Gemüt und erzieht zu dem, was uns alle vereinigen sollte – zur Humanität!

Und wie wert sind es doch namentlich unsere singenden Vögel, in ihren Gemütsäußerungen näher beobachtet und erkannt zu sein! Ein hochfahrender Linguist hat vor ein paar Jahrzehnten stolz ausgesprochen: „Nein! Die Tiere haben keine Sprache; der Mensch hat eine Sprache!“ Freilich, griechisch und lateinisch reden die Tiere nicht; aber daß griechische und ungarische, daß rheinische und schwedische Nachtigallen, daß ein schwarzwälder Sechzehnender und eine Hirschkuh in den Vogesen einander verstehen, ist für diese Tiere untereinander Sprache genug; selbst für uns Menschen, weil wir deutlich vernehmen, wie ihre Laute einander Liebe oder Haß, Frieden oder Krieg ankündigen. Und jener Philologe war erst noch selbst ein Singvogel, denn er war Poet!

„Hoffnungsreich“ und „wonneheimlich“ darf man sie nennen, die Laute, welche Vögel während des Nestbaues so verständnisinnig wechseln. Denn wie hochversüßt muß die Bauthätigkeit sein, die innen in der Höhlung des Nestes die Füße beschäftigt, um ihr die passende Form zu geben! Und wie glücklich muß die kleine Vogelseele sich fühlen, wenn das Weibchen mit selbstzufriedenem Ruf wieder abfliegt, um neues Baumaterial zu holen, [386] das es mit gleich jubelndem Ruf zuträgt, fast immer von gleich freudigen Beifallstönen des sie begleitenden Männchens ermuntert!

Der Buchfink mit seinem reizenden Nestchen lockt besonders die Aufmerksamkeit an, und ich fühle mich gedrungen, deshalb folgendes über ihn anzufügen. Vor wohl dreißig Jahren war ich auf ein Finkennest aufmerksam gemacht worden, das in Bezug auf die Wahl des Platzes höchst auffallend erschien. Das Nest des Buchfinken pflegt auf Bäume oder Bäumchen gebaut zu werden. Jenes aber saß am Eingang eines Gartenthürchens, an dem ein vielbegangener Fußweg vorüberführte, innerhalb, hart an der Klinke des Thürchens auf einer äußerst dürftig bewachsenen altersschwachen Staude der Jerichorose, kaum drei Fuß hoch vom Boden, so nahe gegen die Klinke, daß, wer diese öffnete, das Nestchen nahezu streifen mußte. Katzen und Hunde liefen und schlüpften tagtäglich durch den Zaun aus und ein, und das Nestchen muß unbemerkt geblieben sein, denn eine Katze wenigstens hätte ihm gar bald den Garaus gemacht. Es enthielt halb befiederte Junge, als mir’s gezeigt wurde, und ich besuchte es fast täglich, vom Gartenbesitzer dazu eingeladen. Ich that es jedesmal in der Angst, jetzt sei ihm ein Leid geschehen. Aber nein! So laut die Finken sonst Lärm schlagen, wenn sie Bedrohliches, namentlich eine Katze, in der Nähe ihres Nestes gewahren, hier hatte ein seltenes Glück das der Gefahr so seht ausgesetzte Nestchen auffallend behütet. Die Jungen kamen ungeschädigt zum Ausfliegen, das ich leider nicht selbst gesehen habe. Aber der Gartenbesitzer, der für Wahrnehmungen solcher Art auch ein aufmerksames Auge besaß, hat mir erzählt, daß der Ausflug von großem Geschrei der Alten begleitet gewesen sei (wie vielfach bei Vögeln, wenn die Jungen das Nest verlassen) und daß dieses Geschrei sich verdoppelt habe beim Ansichtigwerden einer aufmerksam gewordenen Katze, die nun das Nachsehen hatte.

Noch auffallender erschien mir folgendes. Eine Finkin hatte ihr Nest neben dem obern Ende der aus dem Freien zur Empore der Kirche in E. bei Ulm führenden Stiege in eine kleine Mauervertiefung gebaut. Man konnte ganz bequem in das Nest sehen und greifen. Es scheint außer mir von niemand bemerkt worden zu sein. Die Jungen waren schon mehrere Tage alt, als ein gegen die Mauer schlagender Gewitterregen sie ertränkte; ich fand das Nest ganz durchnäßt und die Jungen erstarrt.

Einer Amsel muß ich noch gedenken, welche im Jahre 1895 ihr Nest ein Dutzend Schritte vom Eingang des Stuttgarter Museumsgartens („Silberburg“) in ein etwa 5 Fuß hohes Buchsbüschchen hart am Wege gebaut hatte, und zwar so leicht sichtbar, daß jeder von den vielen täglich vorübergehenden Besuchern hineinsehen konnte. Die Amsel legte vier Eier, bebrütete sie etwa eine Woche lang und blieb trotz aller Vorübergehenden ruhig darauf sitzen. Auf einmal fehlte sie und die Eier lagen tagelang bloß, bis auch sie verschwunden waren. – Der Gartenaufseher, der mein Interesse an solchen Vorgängen kannte, sagte zu mir: „Wer wird denn aber auch sein Nest so hundsdumm hinbauen?“ Und ich antwortete ihm: „Ja, die Vögel machen auch dummes Zeug.“

Ueber den Ort der Nestanbringung habe ich folgende Wahrnehmungen mit eigenen Augen gemacht. Diese Wahl des Ortes scheint oft schwierig zu sein. Daher kommt es, daß die Nestform sich ganz bedeutsam ändert, daß z. B. das Nest der Wasseramsel bald einem Beutel, bald einer Kugel, bald einer Retorte ähnlich ist, weil durch die veränderte Form die Mängel des Nistplatzes ausgeglichen werden müssen. Ich habe mir ein leeres Nest dieses Vogels erworben, das äußerlich einem sogenannten Fußsack ähnlich sieht.

Von der Fürsorge der Eltern zeugt noch folgendes Beispiel. In einer regenkalten Woche des Frühjahres 1841 fand ich auf einem niedrigen horizontalen Birnbaumast ein Buchfinkennest, dessen Rand mit kleinen Flaumfedern umsteckt war. Diese aufrechte Umstellung des Nestes war gewiß nicht schon vor der Bebrütung der Eier geschehen, sondern die naßkalte Zeit hatte die intelligente Mutter bewogen, ihren Kindern zur Zeit der Not eine Schutzvorrichtung zu ersinnen.

Solche Beispiele der Ueberlegung und Elternliebe sollten jedem die gefiederten Sänger lieb und wert machen und uns Anregung geben zu aufmerksamster Beobachtung und zur Schonung dieser herrlichen Geschöpfe. Aber immer wieder ergehen Notrufe gegen die Verfolgung selbst nützlicher Vögel, namentlich aber gegen die entsetzliche Vögelmörderei in Italien.

Deutschland, Oesterreich, Frankreich u. s. w. werden seit lange und in wachsendem Maße bedroht und beraubt durch diese schändliche Barbarei. Giebt es kein internationales Gesetz dagegen, oder will man es in Italien nicht anwenden? Neulich brachten die Zeitungen die Nachricht, zwei italienische Jäger hätten so und so viel Gewichtsmengen Schwalben erbeutet, die dann in Frankreich unter der Bezeichnung „kleine Vögel“ als Delikatesse in Gasthöfen verspeist worden seien. So werden jetzt Massen dieser zarten Gefchöpfe „erjagt“ (welche weidmännische Tapferkeit!) und wandern dann im die vornehmen Küchen; aber Strafen giebt es keine dafür, nur Geld in die Tasche und Leckerei in den Gaumen.

Noch vor 50 und 60 Jahren konnte man in Schwaben durch kein ausgedehnteres Getreidefeld gehen, ohne den prächtigen Wachtelschlag zu vernehmen; wo sind unsere Wachteln heute? Höchst selten noch eine einzelne in einem Käfig. Aber in Italien und von Italien aus, längs dessen Küsten sie leider auf ihrer Wanderung ziehen müssen, sind sie den Weg des Gaumens von geistlichen und weltlichen Herrschaften zu vielen Tausenden gewandert.

Aehnlich mit den Lerchen! Auch diese haben ganz bedenklich abgenommen. Früher hat leider ihr Fang auch in einzelnen Gegenden Deutschlands geblüht; das deutsche Gesetz hat seine Gegenwirkung gethan; aber Italien! Was von Vögeln für wissenschaftliche Zwecke zu dienen hat, ist ja verschwindend gegen jene Massenmorde.

Damit wir jedoch gerecht seien und die Schuld nicht einzig dem Auslande zuschieben, sei noch folgendes mitgeteilt: Vor kurzer Zeit (Winter 1896 auf 1897) las man in den Zeitungen den Siegesbericht, daß im deutschen Norden viele, viele Tausende von „Krähen“ (es war eine ungeheuere Zahl angegeben) geschossen worden seien. Als Grund war ihre große Schädlichkeit angeführt. Gewiß können die Krähen, wie viele andere Tiere, durch massenhaftes Auftreten schädlich werden. Die Krähe liebt ja junge Hasen, nimmt auch wohl junge Vögel aus dem Nest, haut sogar je und je in Maisfeldern die noch weichen, in der „Milch“ befindlichen Fruchtkolben an. Aber wie viel mehr und wie regelmäßig ist sie die Verfolgerin der Mäuse! Man braucht nur Felder pflügen zu sehen, um zu beobachten, wie sie hier den ausgeackerten Mäusen zusetzt, oder wie sie in Mäusejahren überhaupt Jagd macht. Man sehe weiter, wie sie auf Rasenplätzen, die von der Unterwühlung durch Engerlinge gelb und grau geworden sind, diesen Wurzelzerstörern so gründlich zu Leibe geht! Nun kommt aber der Jägersmann und sucht den Tod der Krähen, die seine Hasen stehlen – dieser Eingriff in sein Recht muß Rache haben. Hasen sind freilich ein vortrefflicher Braten; aber Mäusefraß, zerstört er nicht Massen mühsam gebauter Gewächse, die auch vortreffliche Nahrung gewesen wären? – Und warum sieht der Landmann die Feinde der Hasen so gern? Also gegen schädliche Ueberzahl, welches Tier, welcher Vogel es sei, einschreiten, ist vernünftig; man thut’s ja selbst gegen Pirole, Schwarzdrosseln, wo sie z. B. in Kirschpflanzungen zu stark einfallen; doch setze man nicht eine Tierart, die schädlich werden kann, aber sonst höchst nützlich, und willkommen ist, mit egoistischem Eifer auf die Liste der Verfolgungswerten, um nicht jenem Protzen zu gleichen, der gesagt hat: „Was geht mich der Amselgesang an? Ich zahle jedem, der mir eine Amsel schießt, drei Batzen; die Luder fressen mir meine Trauben!“ – Und was für Trauben besaß der Edle!

Der Reiz der Sittenbeobachtung der Vögel hat mich veranlaßt, an einigen gefangenen ihr Verhalten zu studieren. Ich wußte aus Naturgeschichten – (höchst lehrreich fand ich insbesondere „Die Vögel Deutschlands“ von den Brüdern Naumann) – daß unsere „Rotschwänze“, der Haus- wie der Gartenrötling, in Gefangenschaft ziemlich ihre natürliche Wildheit beibehalten. Ich erwarb mir einen männlichen Gartenrötling, also einen Vertreter der Art, die weniger scheu sein soll. Das Tierchen, mit dem schönen weißen Querstreif über der Stirne und der schwarzen Brust, nahm zwar bald die gewöhnliche Kost der Gefangenen: Ameisenpuppen und sogenannte Mehlwürmer (Larven des Schattenkäfers); aber, und ich hatte es bis ins fünfte Jahr, niemals, auch wenn ich es hungern ließ, nahm es mir aus der Hand einen Bissen, so hastig es auf denselben losfuhr, sobald er in den Käfig gestellt oder geworfen wurde. Bei jeder Annäherung, solange ich’s hatte, sträubte es die Federn und fuhr [387] im Käfig hin und wider. Aber gesungen hat der Rötling jedes Jahr vom Januar bis in den Juni sein reizendes Liedchen, vollkommen wie es im Freien geschieht, von aller Morgenfrühe an; nur immer erst (bis zum April) mit vorausgehenden Präludien, um sodann den ganz regelrechten Gesang des Gartenrotschwanzes nachfolgen zu lassen. Weil nun aber dieser im Freien bei uns erst im April anzukommen pflegt, so bekam ich von meinem Pflegling den Februar und März hindurch Töne zu hören, die mich hoch überraschten. Denn zuerst sang er ein paar Wochen lang nach einleitendem unbestimmten Gezwitscher vollständig klar das höchst einfache „Dill dell“ des von den Laubvögeln zuerst bei uns ankommenden Weidenzeisigs (Sylvia rufa); nach diesen paar Wochen jedoch (immer wieder nach dem vorausgehenden unbestimmten Gezwitscher) begann er, wieder vollständig getreu, das „Duduiduididududie“ des Waldlaubvogels (Sylvia fitis), der von seinen Verwandten der zweite Frühlingsankömmling ist. Dieses Liedchen fällt während des Vortrages des Waldlaubvogels um eine Quart in den Tönen; und dieses Fallen trat auch bei meinem Pflegling ganz genau ein. Und dann, als der nächste Laubvogel (Sylvia sibilatrix) ankam, ereignete sich der ganz entsprechende Vorgang, nur mit der Mehrung, daß bei Nachahmung dieses neuen Ankömmlings erst sein einförmiger Lock- oder Angstton: „Diu, diu“ kam, um dann in den eigentlichen Flüstergesang (daher sibilatrix) überzugehen, der in einigen lauteren Schlußtönen ausklingt. – Nun aber sind die Gartenrotschwänze angekommen und im Freien da, und der meine singt nun auch bloß noch das gleiche Lied, das man von jenen gewohnt ist, mit gänzlicher Hinweglassung der früheren Einleitungen.

Woher diese Erscheinung? Mein Exemplar war aus einer auswärtigen Vogelhandlung erworben. Hatte es dort die ihm sonst nicht eigenen Weisen von anderen angenommen? Höchst unwahrscheinlich; denn jene anderen pflegen höchst selten in Handlungen vorzukommen. Und wenn auch, warum sang mein Rötling gerade in der bezeichneten chronologischen Aufeinanderfolge jene fremden Weisen? Oder singen die im Freien lebenden Rotschwänze, ehe sie zu uns kommen, jene anderen Weisen auch?

Mein Vögelchen starb an der Mauserung, und es wurde mir ein frisch gefangenes junges Männchen angeboten, welches noch das Nestgefieder hatte, das es ganz spät im Jahre erst gegen das älterer Männchen vertauschte. Seitdem zwitschert es nun, und ich war höchst begierig, ob es zu Eintritt der betreffenden Zeiten die musikalischen Aufführungen seines Vorgängers nachmachen werde. Gleich unzutraulich war es einstweilen. Nun aber ist es indessen Mitte März und Ende geworden, und der Vogel singt (auch nach unbestimmt zwitschernder Einleitung) untermischt mit Tönen des Grünlings und der Kohlmeise, sogleich das Duduidui der Sylvia fitis, hernach aber den entschieden deutlichen Schlag des Buchfinken, jedoch nicht den väterlichen Gesang, gewiß darum, weil er diesen nicht mehr zu hören bekam, da um die Zeit, wo die nur einmal nistenden Gartenrötlinge flugfertige und nachahmende Junge haben, mit ihrem Gesang aufhören, während der des Finken noch einen Monat andauert.

Vor einigen Jahren war es noch ein anderer, dem Rotschwänzchen nahe verwandter Vogel, dessen Wesen, wie ich’s im Freien sah, mich begierig gemacht hatte, es in der Gefangenschaft zu beobachten: das Braunkehlchen (Saxicola rubetra), in Schwaben „Wiesenschmätzer“ genannt. Dieses Vögelchen, wie es unsere Wiesen und hügeligen Wiesenabhänge mit niedrigen Bäumen bewohnt, ist ja beständig auf der Flucht vor dem Menschen; sowie man sich nähert, flieht es von dem Bäumchen, dem Pfahl, dem aufgesteckten Strohwisch, dem Kopf der Wiesendolde, worauf es sitzt, zum nächsten etc., bis man sich weit genug entfernt. Es interessierte mich, zu erfahren, wie diese Scheu in der Gefangenschaft sich modifizieren würde, und erlebte folgende: Im Anfang fuhr es ganz außer sich im Käfig hin und her, wenn man den Vorhang kaum lüftete, um Nahrung einzubringen, so daß innerhalb eine weiche Schutzdecke nötig war, damit es den Kopf sich nicht einstoße. – Aber auf einmal, nach acht bis zehn Tagen schon, war sein Benehmen fast gerade umgekehrt. Es saß ruhig, fing an, friedlich Laut zu geben, und nicht lange, so nahm es die sogenannten Mehlwürmer aus der Hand des Darreichenden, ob ich oder eines meiner Kinder das sein mochte. Es ging so weit, daß, wenn meine Tochter auf der flachen Hand durch das weitgeöffnete Käfigthürchen bot, das muntere Tierchen ihr auf der Hand den Bissen verzehrte. Selbst in einer ganz ungewohnten Situation blieb es ebenso zahm: Ich hatte einmal vergessen das Thürchen des Käfigs zu schließen, und der Insasse desselben war auf den Zimmerboden gehüpft. Aber auf einen dargebotenen Mehlwurm sprang er sogleich zu und ließ sich friedlich wieder in seine Behausung zurücksetzen. Diese anziehende Zutraulickkeit hat dem lieben Gaste gar manchen Kosenamen von meiner Tochter eingetragen. Sein Gesang war und blieb fast immer ein ziemlich buntes „Gewälsch“, manchmal zwar, aber vorübergehend, etwas bestimmter, so, wie man’s im Freien, aber auch nur kurz, vernimmt, sonst oft mit dem lauten Lockruf und selbst Schlag des Buchfinken untermischt. – Welch ein Unterschied zwischen diesem Wiesenschmätzer und seinem Vetter, dem Gartenrotschwanz!

Derzeit aber besitze ich noch ein Männchen der gemeinen Grasmücke (Sylvia cinerea). Es hatte mich die Wahrnehmung seit Jahrzehnten angezogen, daß dieses Tierchen, namentlich an recht warmen Tagen, nachdem es in seinem Busch lange ziemlich leise zwitschernd gesungen, auf einmal in lauten Jubeltönen sich in die Luft wirft, um mit denselben lauteren Tönen rasch wieder in sein Gebüsch zurückzukehren. Ich hatte den Vogel zuerst mit seinem Weibchen und ihrem Jungen zusammen, das die Alten im Käfig groß zogen. Während dieser Zeit sang das Männchen vielfach sein zwitscherndes Piano. Im Herbst entließ ich das Weibchen und das Junge. Aber im darauffolgenden Sommer (1896) sang nun das Männchen keinen Laut, und es ist abzuwarten, was in der Gesangzeit von 1897 geschehen wird.[1] Wenn ich noch anführe, daß das Weibchen noch lange, nachdem das Junge schon von selbst sein Futter nahm, sich äußerst zärtlich anstellte, um vom Männchen geätzt zu werden, so kann ich zu der interessanten Beobachtung übergehen, daß dieser Vogel sehr oft den Eindruck auffallender Sonderbarkeit und Ungeschicklichkeit macht. Schon bei Naumann war mir die Bemerkung überraschend, er sei ungeschickt in Ergreifung von Fliegen etc., und wie wahr habe ich das gefunden! Selbst dann, wenn man ihm eine Fliege vorhält, die er also nicht selbst zu erhaschen braucht, wie täppisch faßt er sie, und wie ungewandt drückt er sie, ehe er sie schluckt, im Schnabel herum! – Auch ist ja bei Tieren überhaupt, so auch bei den Vögeln beobachtet, daß sie zeitweilig den sogenannten „Gucker“ haben, d. h. auf einmal den Kopf heben, unverwandt schief emporsehen, als besännen sie sich auf wer weiß was. Dies thun sie selbst dann, wenn sie einen Bissen im Schnabel halten, nach dem sie zuvor hastig begehrt, der aber erst nach dem oft langen „Gucker“ rasch verschlungen wird. Diese Eigenheit besitzt meine Grasmücke in ganz besonderem Grade, so daß ich ihr schon oft den unschmeichlerischen Namen „Dackel“ zugerufen habe. Jetzt, da es warm wird, lasse ich sie fliegen.

Eine Ansicht aber hat sich nach allen Wahrnehmungen bei mir befestigt, die, daß junge Vögel nur durch die Eindrücke des Gesanges der Alten die herkömmliche alte Weise erlernen. Es giebt Junge, die den väterlichen Gesang nicht gehört haben, weil dieser zu früh verstummte, sie selbst aber der Freiheit entzogen waren, ehe die Alten im nächsten Frühjahr wieder ankamen. Diese Vögel verblieben stümpernd bei der Nachahmung derjenigen anderen Vögel, die sie noch hören konnten. Nur die einzige Nachtigall lernt nicht von anderen Vögeln; um aber den richtigen Nachtigallschlag zu lernen, muß auch sie ihn von älteren ihres Geschlechtes gehört haben.

Früher habe ich oft sagen hören, bei den mehr als einmal im Jahr nistenden Vögeln seien die Jungen von der ersten Brut „besser“ als von spätern, und habe mir das „besser“ als dauerhafter erklärt. Nun aber ist mir deutlich, daß das „besser“ auf den Gesang sich bezieht, naturgemäß! Die von der ersten Brut ausgeflogenen Jungen hören den väterlichen Gesang während der nächsten Brut und bewahren ihn in gutem Gedächtnis bis zum nächsten Jahr; die Jungen der späteren Brut aber entbehren dieses Vorteils, da mit der letzten Brut auch bei den mehrmals nistenden der Gesang der Alten aufhört, so daß Junge der letzten Bruten, die im Herbst gefangen und gefangen gehalten werden, jenen Gesang der Alten nie zu hören bekommen und – Stümper bleiben.


  1. Diese Beobachtungen J. G. Fischers wurden nun durch den Tod unterbrochen. D. Red.