Aus der Jugendzeit Felix Mendelssohn-Bartholdy’s

Textdaten
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Autor: J. S.
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Titel: Aus der Jugendzeit Felix Mendelssohn-Bartholdy’s
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 815
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[815] Aus der Jugendzeit Felix Mendelssohn-Bartholdy’s. Nur wenige hochbegnadigte Menschenleben haben vermocht, unser Interesse in solchem Grade anzufachen und wach zu erhalten, als das Felix Mendelssohn’s. Mehr noch als all’ die reiche Fülle und der zauberische Reiz der Kunstwerke, welche er zu unversiechbarer, stets sich erneuernder Freude uns hinterlassen, ist es sein eigenes Leben, das durch seine Klarheit und Abrundung, durch seine ernste Sittlichkeit und Ueberzeugungstreue, durch seine Anmuth und Liebenswürdigkeit das reinste Wohlgefühl uns empfinden läßt. Drum war es ein kostbares Geschenk, mit welchem Bruder und Sohn des Verewigten durch Herausgabe eines großen Theiles seiner Briefe uns beglückten, und mit wiederholter, freudigster Dankbarkeit begrüßen wir jede Erinnerung an den Meister, die von Freundeshand veröffentlicht und verbreitet wird. Die „Gartenlaube“ hat ja wiederholt selbst Gelegenheit genommen, mannigfaltiger Charakterzüge und Erlebnisse Mendelssohns zu gedenken, und wir meinen, auch durch die Mittheilung eines bisher unbekannten Briefes aus seiner Jugend den lebhaftesten Antheil seiner Verehrer zu erregen.

Mendelssohn hatte den Sommer des Jahres 1823 mit seiner Familie in dem wunderlieblichen schlesischen Bade Reinerz zugebracht. Mit aller Frische und Regsamkeit der glücklichen Jugend ergriff der vierzehnjährige Knabe auch dort jeden Anlaß, Musik zu treiben und den Flügelschlag seiner mächtig drängenden Phantasie frei zu entfalten. Freilich bezeichnet jene Zeit, welche in Spiel und leichtlebiger Unbesonnenheit den Meisten seines Alters dahinfliegt, für ihn den Standpunkt in sich gefesteter, künstlerischer Kraft, selbstbewußter Reife und geregelter Erfindung, und schon die Werke frühester Epoche zeigen uns den vollen Typus des werdenden Künstlers. In dem Rector Latzel fand er nun einen strebsamen, eifrigen Musiker, und schnell war ein inniges Freundschaftsverhältniß gebildet durch den harmonischen Einklang von Herz und Geist und Streben. In ungezwungenem, vertrautem Verkehr wechselten Concertiren und Studiren, und selbst als der Schluß der Badesaison genöthigt hatte, das stille Gebirgsstädtchen mit der Residenz zu vertauschen, blieb Theilnahme und Interesse zwischen den Beiden bestehen. Doch – hören wir unseren jungen Meister selbst[1]:

Berlin, den 6. December 1823. 

„Ich freue mich sehr, mein lieber Herr Rector, daß Sie meiner noch zuweilen gedenken, und wenn ich, wie Sie in Ihrem gütigen Briefe mir schreiben, Einiges zur Verbesserung Ihrer Bibliothek beigetragen habe, so vermehrt dies das Vergnügen, mit dem ich an Reinerz zurückdenke, um Vieles. Der Dank, den mir die Soldaten sagen lassen, gebührt mir nicht so sehr, als Ihnen, denn Sie haben die Mühe der Anordnung des Concerts und die erste Idee dazu gehabt, und das Wenige, was ich vielleicht zur Erleichterung des Schicksals dieser armen Leute beigetragen habe, bedarf nicht der Erwähnung.

Es freuete mich zu sehen, wie ein einziger Mann, wenn er Lust und Liebe zur Sache hat, in einer Stadt, sie sei so groß oder so klein wie sie wolle, ein Orchester aufbringen kann, mit dem sich Symphonien von Beethoven aufführen lassen. Glauben Sie ja nicht, daß ich es für leicht halte, einer Stadt Geschmack für Musik beizubringen, oder daß ich die Wirkungen Ihrer Anstrengungen übersehen habe. Sie schreiben mir, daß Sie dem Winter ungern entgegensehn. Der Sommer giebt Ihrem Wohnorte ja eben seinen schönsten Schmuck. Die reizende Gegend, die Menschenmenge im Bade, die Wälder und Berge und das angenehme Klima, alles dies ist nur im Sommer da zu bewundern, und wohl glaub’ ich, daß der Winter bei Ihnen traurig und einsam ist. Ganz anders ist’s hier bei uns. Da ist der Sommer unangenehm; die Gegend ist kahl; wer nur fort kann, der verreiset; der Staub ist schrecklich und sehr wenig Schatten. Was Wunder, daß man mit Freuden dem Winter entgegensieht, wo Alles sich wieder vereinigt, wo man es nicht für Pflicht hält spazieren zu gehn, und wo man wieder gute Musik hören kann. So war es auch im Anfange dieses Winters. Doch plötzlich zog die Vermählung des Kronprinzen mit einer bairischen Prinzessin aller Leute Aufmerksamkeit auf sich. Den 28. November sollte die Prinzessin eingeholt werden, und man wendete Alles auf, um den Empfang recht glänzend zu machen. An einer großen neugebauten steinernen Brücke (deren sich Onkel wohl erinnern wird), welche zwischen des Königs Palais und dem großen Schlosse steht, war eine Ehrenpforte errichtet worden. Durch die Linden (die Hauptpromenade) sollte der Zug gehen. Auf beiden Seiten dieser Straße wimmelte es von Menschen, die Fenster von allen drei Etagen, ja selbst die Dachluken waren vollgepfropft mit Neugierigen, auf Bäumen, auf Laternen, auf Pfählen, auf Leitern, auf Brunnen, ja auf Dächern standen Leute mehrere Stunden, um – einen vergoldeten Staatswagen zu sehen und ihr Hurrah zu brüllen. Endlich kam der erwünschte Augenblick, die Prinzessin zog ein, escortirt von Schlächtern, Brauern, Tischlern, Schneidern, Schustern und Kaufleuten; an der Ehrenpforte empfingen sie hundertundfünfzig junge Mädchen, die ihr ein Kissen überreichten, das sie die Gnade hatte anzusehen; dann kam sie in’s Schloß und geruhte ein unterthäniges Mittagsmahl einzunehmen. Dann war die Lustigkeit aus. Nun kommt das Traurige und Schreckliche.

Abends hielten achthundert Studenten einen Fackelzug vom Thor bis an’s Schloß. Als sie nun am Schloß angekommen waren, strömte die Volksmenge zurück, und nun entstand auf einer kleinen Brücke, die neben der steinernen geht, ein solches Gedränge, daß dreißig Leute theils erdrückt, theils in’s Wasser gestoßen worden sind; viele werden vermißt, viele sind verwundet. Die ganze Stadt ist sehr bewegt durch dieses Ende mit Schrecken. Der König war wüthend, der Commandant bestürzt, der Polizeidirector machte ein langes Gesicht, man verbot dem Zeitungsschreiber von dieser Sache zu reden, und damit war’s gut!!

Doch genug von diesen Hofstaatsactionen. Sobald ich nur Zeit habe, will ich das verlangte Stück für Violine und Clavier anfangen und es Ihnen dann gleich schicken.

Grüßen Sie doch Onkel, Tante und Ihre ganze Familie, auch Herrn Leo und den Bürgermeister

 von Ihrem
F. Mendelssohn-Bartholdy.“ 

Wer meint hier die Worte eines Knaben zu lesen? Alle die wunderbaren Charaktereigenthümlichkeiten, welche seiner Individualität ein besonderes Gepräge geben, alle die männlichen Eigenschaften, welche seinen späteren schriftlichen Bekenntnissen, seinen Briefen, den Stempel reinsten Seelenadels aufdrücken, finden wir hier vereint: Herzensgüte und Bescheidenheit, wahre Empfindung und Aufmunterung im Streben, Ernst für seine Kunst und beißenden Humor für das Gebahren der sinnlich gaffenden Menge.

Wohl begreifen wir, in völliger Uebereinstimmung, die Worte, die wenige Wochen später, am 8. Februar 1824, Zelter an Goethe schrieb: „Von meiner schwachen Seite kann ich der Bewunderung kaum Herr werden, wie ein Knabe, der soeben fünfzehn Jahre alt geworden, mit so großen Schritten fortgeht. Neues, Schönes, Eigenes, Ganzeigenes ist überall zu finden: Geist, Fluß, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit.“
J. S.



  1. Das Original des Briefes ist im Besitze der wackeren Künstlerfamilie Lüstner in Breslau.