Aus der Beamtenwelt/Nr. 4. Der Postschein

Textdaten
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Autor: Sch.
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Titel: Aus der Beamtenwelt Nr. 4. Der Postschein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 112–115
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[112]
Aus der Beamtenwelt.


Nr. 4. Der Postschein.


Am 9. März 1869 saß ich Morgens in meiner Amtsstube hinter dem Schalter und hatte alle Hände voll zu thun. Vor dem Fenster stand eine Menge von Leuten, die sich drängten und stießen, um einen Platz möglichst nahe an meinem Schiebefensterchen zu erhalten, und die in der Absicht, schnell abgefertigt zu werden, mir Rufe und Bitten zukommen ließen, welche mich nur störten und die Erledigung meiner Geschäfte verlangsamten. Ich sollte nach ihrer Ansicht zugleich Geldbriefe eintragen, Passagiere einschreiben und Francosätze in den Listen nachschlagen. Während ich in der vollsten Arbeit war, mir die Kehle heiser schrie, mir die Finger lahm schrieb und innerlich über die Rücksichtslosigkeit eines Theiles der Menschen da draußen, die nie das Warten gelernt zu haben schienen, fluchte, trat einer unserer Unterbeamten an mich heran.

„Herr Postexpedient,“ sagte er, „da draußen ist ein Herr, der Sie auf einen Augenblick zu sprechen wünscht.“

„Sagen Sie ihm,“ entgegnete ich, „daß ich augenblicklich keine Secunde Zeit zu Gesprächen übrig hätte!“

Der Unterbeamte ging hinaus und kam nach einigen Minuten zurück.

„Der Herr will sich durchaus nicht abweisen lassen; er sagt, in einem Scheine, den Sie ihm ausgestellt hätten, wäre ein Irrthum enthalten, und wenn Sie ihm nicht einen Augenblick zur Aufklärung schenken könnten, so müßte er sich bei der Oberpostdirection beschweren.“

Jeder Beamte weiß, wie entsetzlich diese Beschwerden sind. Wenn man seine Pflicht thut – und die erfüllen, Gott sei Dank! ja fast Alle –, so befindet sich der Beschwerdeführer im Unrecht und bekommt auch Unrecht; aber wie viel Schreiberei erfordert das nicht erst! Die Beschwerde geht durch alle Instanzen bis zu Demjenigen, über den die Beschwerde lautet, hinunter, zur Verantwortung etwa binnen drei Tagen. Um nicht Unrecht zu bekommen, muß man den Herren Vorgesetzten die Sache ganz außerordentlich deutlich machen und den gehorsamsten Bericht so verfassen, daß Form und Inhalt tadellos sind. Hat man sich damit auch genugsam gequält, so kann es doch Jedem begegnen, daß er im Berichte ungenaue Kenntniß dieser oder jener Bestimmung verrathen hat, und dann wehe dem Unglücklichen, gegen welchen dem Vorgesetzten ja ein ganzes Arsenal von Mahnungen, Verweisen, Geldstrafen und anderen schönen Mitteln zu Gebote steht! Kurz, das Berichten auch auf die alleralbernsten Beschwerden ist immer ein Ding, das Jeder, [113] der es kennt, auf das Peinlichste vermeidet. Ich entschloß mich daher, dem Petenten Gehör zu geben, und sagte dem Unterbeamten, er könne den Herrn in das Bureau führen.

Gleich darauf stand ein sehr elegant gekleideter Herr vor mir, der mir völlig fremd war. Er hatte einen schwarzen, in der Mitte ausgeschnittenen Bart, graues Haar, etwas eingefallene Wangen, eine auffallend bleiche Gesichtsfarbe und große graue Augen. Sein Benehmen war sehr sicher, gewandt und höflich.

„Was wünschen Sie?“ fragte ich kurz.

„Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Herr Oberpostsecretär,“ redete er mich mit einer leichten Verbeugung an, „daß ich Sie in so vieler Arbeit störe. Es handelt sich nur um ein ganz unbedeutendes Versehen, das ich erst in diesen Tagen zufällig entdeckt habe.“ Er griff in die Tasche und holte einen Zettel heraus. „Sind Sie nicht derselbe Herr, der mir am Sylvesterabend diesen Posteinlieferungsschein ertheilt hat?“

Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Schein. Da er von meiner Hand herrührte, bejahte ich seine Frage und erkundigte mich, worin denn der Irrthum stecke.

„Im Datum. Ich habe Ihnen den Geldbrief, wie gesagt, letzten Sylvester, also am 31. December 1866 übergeben; Sie haben mir aber hier hineingeschrieben: ‚.....burg, den 31. December 1867.‘ Da wir heute den 9. März 1867 zählen, haben wir bis zu dem Tage der Einlieferung des Briefes noch mehr als neun Monate. Sie haben mir vielleicht dieses unmögliche Datum auf den Schein gesetzt, weil Sie einzelne Sachen am letzten December schon mit der Jahreszahl 1867 versehen mußten. …“

„Und was wünschen Sie nun?“

„Daß Sie gefälligst das richtige Datum auf dem Scheine angeben.“

Ich nahm den Schein und betrachtete ihn aufmerksam. Gegenstand war ein Brief, angegebener Werth dreitausend Thaler, Zeichen und Gewicht drei und ein Drittel Loth, Adressat Gutsbesitzer Fernow und Bestimmungsort Hagen. Alle diese Bezeichnungen hatte ich geschrieben. Auch meine Namenszüge waren es, die unter dem Worte „Post-Annahmestelle“ standen. Während ich mich noch bedachte, was ich thun sollte, hörte ich, wie sich in der Menge vor dem Schalter laute Rufe nach Abfertigung erhoben, und als jetzt noch der Fremde sagte: „Wenn Sie mir keinen richtigen Schein ausstellen wollen, so fällt die Verantwortung etwaiger Folgen ganz auf Sie; geben Sie mir den Schein nur wieder!“ –nahm ich rasch meine Feder und malte über die Ziffer 7 in der Zahl 1867 eine dicke 6. Dann gab ich den Schein dem Herrn zurück, der ihn leichthin in die Brieftasche steckte, und stürzte zu meinen Geschäften am Schalter, ohne weiter auf ihn Acht zu geben.

Nachdem ich bis ein Uhr eine wahre Sündfluth von Arbeit bewältigt hatte, ging ich zu Tische und dann zu meiner Braut. Im Gespräch mit derselben erinnerte ich mich, wie schwer es mir immer wird, im Anfange des neuen Jahres die Zahl des verflossenen zu vermeiden, und daß ich in den ersten Tagen des neuen Jahres stets irrthümlich aus alter Gewohnheit die Zahl des vorhergehenden hinsetze. Ich wußte nicht, daß mir je das Umgekehrte begegnet wäre, und es kam mir höchst wunderbar vor, daß ich am 31. December 1866 die Zahl 1867 lediglich aus Vergeßlichkeit geschrieben haben sollte. Allein es war ja sehr leicht möglich, und in der Annahme dieser Möglichkeit hatte ich auch das Verlangen des Fremden erfüllt und ihm den Schein verbessert. Ich nahm mir vor, am Abend die Bücher nachzusehen und zu prüfen, ob ich bei der Eintragung des Geldbriefes in die Annahmeliste denselben Fehler begangen hätte. Aber als ich Nachmittags in die Amtsstube kam, fand ich wieder so viel Arbeit vor, daß ich mein Vorhaben vergaß. Später fiel mir die Begebenheit noch einmal ein, und ich tröstete mich damit, daß, da ich mich in den letzten Tagen des Jahres 1866 verlobt hatte, in dem Rausche jener Tage meine Hand mechanisch verschiedene Dinge geschrieben haben mochte, von denen mein Kopf nichts wußte, so wenig mir dies auch wahrscheinlich war. – –

Es war am 14. Juni Morgens gegen zehn Uhr – ich werde dieses Datum nie vergessen – als der Postdirector einen Eleven in das Bureau schickte, welcher mir die Geldbriefannahmeliste vom Monat December 1866 abforderte. Ich suchte sie heraus und gab sie dem Eleven. Nach kurzer Zeit kam dieser zurück und citirte mich zum Director. Ich zog meinen Schreibärmel aus und begab mich in dessen Arbeitszimmer. In diesem fand ich außer dem Director, der mich auffallend kühl empfing, zwei mir unbekannte Herren vor, mit denen der Director augenscheinlich soeben ein sehr erregtes Gespräch geführt haben mußte. Auf den großen Linden vor den Fenstern des Zimmers und auf dem grünen Tuche des Pultes lag der prächtigste Sonnenschein und die Finken jubilirten draußen, als hielten sie Hochzeit, während das Gesicht meines Vorgesetzten nur Sturm und Gewitter verkündete. Als ich eben überlegte, was ich denn verbrochen haben könne, wandte sich der Director an die beiden Herren und sagte:

„Die Angelegenheit ist zu wichtig, als daß ich mir eine Entscheidung in derselben anmaßen dürfte. Haben Sie die Güte, ich bitte Sie, und folgen mir mit dem Postexpedienten da zum Chef, dem Herrn Oberpostdirector, derselbe wird auf Ihren Vortrag befinden.“ Der Director schritt zur Thür und begab sich mit uns in das elegante Bureau des Chefs.

Wir waren bald in dasselbe gelangt. Derselbe, ein äußerst liebenswürdiger, herzensguter und wohlwollender alter Herr, erhob sich bei unserm Eintritte von seinem Bocke, zog sich einige weiße spärliche Haare aus dem Nacken über den kahlen Scheitel und fragte nach unserm Begehre.

„Hier sind,“ nahm der Director das Wort, „die Herren Justizrath Giese aus Hagen und Rechtsanwalt Helmreich von hier. Herr Oberpostdirector Schmidt. Herr Justizrath, Sie wollen die Freundlichkeit haben, den Herrn Oberpostdirector selbst unter Mittheilung des Sachverhalts zu befragen.“

„Ich werde mich kurz fassen,“ sagte dieser, ein hoher stattlicher Mann mit rundem Gesichte und blondem Schnurrbarte. „Ich komme im Namen und Auftrage meines Mandanten, des Gutsbesitzers Fernow in Hagen. Herr Fernow hat eine Darlehnsforderung an den Rittergutsbesitzer Kuntz hierselbst zum Betrage von sechszigtausend Thalern. Diese Forderung ist auf dem Gute des Herrn Kuntz eingetragen, und Herr Kuntz hat am ersten Januar jedes Jahres die Zinsen des Capitals im Belaufe von dreitausend Thalern an meinen Mandanten in Hagen zu zahlen. Die am ersten Januar 1867 fällige Zinszahlung ist ausgeblieben. Nachdem wir den Herrn Kuntz verklagt haben, hat derselbe eingewendet, er habe das Geld rechtzeitig zur Post gegeben. Auf diese Einrede kommt es im Processe meines Erachtens nicht an; denn Herr Kuntz ist durch die Darlehnsurkunde, wie ich sie auslege, verpflichtet, das Geld in Hagen zu zahlen, entweder persönlich oder durch einen Bevollmächtigten. Wir wollen jedoch Herrn Kuntz nicht drücken, ihm namentlich nicht unnütze Kosten verursachen, und so sind wir denn mit seinem Vertreter, Herrn Rechtsanwalt Helmreich hier, dahin übereingekommen, daß wir eventuell die Klage zurücknehmen, wenn uns Herr Kuntz, juristisch gesprochen, seinen Regreß cedirt. Das heißt: Herr Kuntz soll uns den Entschädigungsanspruch abtreten, den er an die Post hat –“

„Und wir sind hier,“ nahm der Rechtsanwalt Helmreich das Wort, „um Sie zu bitten, Herr Oberpostdirector, uns gütigst Ihre Ansicht über die Anerkennung dieses Anspruchs mittheilen zu wollen. Sagen Sie uns, daß die Postbehörde für den verlorenen Geldbrief ohne Weiteres aufkommen wird, so cedire ich sofort unsere Forderung an Sie dem Herrn Fernow. Müssen Sie aber Schwierigkeiten erheben, so –“

„Wird aus der Zurücknahme der Klage nichts,“ unterbrach ihn Giese, „denn mein Mandant hat keine Lust auf den Ausgang eines Processes zwischen Herrn Kuntz und der Post über den Schadenersatz zu warten. Unser Proceß mit Herrn Kuntz mag dann seinen Gang gehen.“

„Meine Herren,“ nahm der Chef das Wort, während mir plötzlich eine dunkle Ahnung aufstieg, „Sie interpelliren mich da über eine Sache, für die mir noch alle Grundlagen fehlen. Zunächst muß ich Sie bitten, mir Ihre Beweise dafür, daß der Geldbrief verloren gegangen, vorzuführen.“

„Der Beweis, daß er verloren gegangen ist, liegt mir nicht ob, Herr Oberpostdirector,“ antwortete der Rechtsanwalt Helmreich, „ich habe nur den Beweis zu führen, daß der Brief aufgegeben ist. Und das ist er; denn wir haben nicht allein mehrere Zeugen, welche gesehen haben, wie Herr Kuntz am 31. December 1866 das Geld einpackte und zur Post trug, wir haben auch hier diesen Annahmeschein Ihres Postexpedienten; wir haben ferner [114] dessen am 9. März 1867 im Bureau vor drei Zeugen abgegebenes, ausdrückliches Anerkenntniß, es habe mit dem Postscheine seine Richtigkeit – was wünschen Sie mehr?“

Wie mit einem Schlage trat mir jetzt der Vorfall vom 9. März mit voller Helligkeit vor die Seele, und der kalte Angstschweiß kam mir auf die Stirn.

„Daß der Brief nicht angekommen ist,“ fuhr Herr Helmreich fort, „hat Ihnen Herr Justizrath Giese schon erzählt.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt,“ warf dieser ein, „daß ein solcher Beweis meines Erachtens ganz unerheblich ist, weil wir den Schaden nicht tragen würden, sondern Sie oder die Post; aber wenn es darauf ankäme, könnte ich ihn allerdings führen. Mein Freund, der Postvorsteher Lauk in Hagen, hat schon privatim constatirt, daß ein solcher Brief in Hagen nie eingelaufen und ausgegeben ist. Er sagte, erfahrungsmäßig verschwänden Werthsachen, wenn sie fortkämen, in der Regel am Aufgabe- oder Ausgabeort, selten dagegen auf dem Transporte, und Alles spreche hier dafür, daß der Geldbrief nicht am Ausgabeort verschwunden sei. Ich und mein College haben uns ganz zufällig hier getroffen und dachten die Sache kurzer Hand durch eine Audienz bei Ihnen, Herr Oberpostdirector, abmachen zu können. Wollen Sie die Güte haben, uns Bescheid zu geben, so werden wir Sie auch keine Minute länger als nöthig belästigen.“

Der Oberpostdirector hatte während des ganzen Gesprächs dasselbe gleichgültige Aussehen beibehalten. Er sagte höflich zu den Advocaten: „Die Herren werden wohl so freundlich sein, einen Augenblick in mein Sprechzimmer hier links zu treten. Ich muß mit meinen Beamten conferiren, ehe ich Ihnen Bescheid geben kann.“

Als die Beiden abgetreten waren, wandte er sich an den Director mit der Aufforderung, ihm Vortrag über die Sache zu halten, und hieß mich, so lange dieser dauere, draußen zu verweilen. Nach einer für mich endlos langen Zeit rief er mich wieder hinein. Er war allein. Sein gutes Gesicht sah sehr bekümmert aus.

„Haben Sie am 31. December 1866 einen Geldbrief mit dreitausend Thalern angenommen?“

Ich konnte nicht Ja und nicht Nein antworten. In den letzten Tagen des December ist der Geldverkehr ein außerordentlich reger und er hatte kurz vor Neujahr 1867 zehn- bis zwanzigtausend Thaler täglich betragen. Ob darunter auch ein Brief mit dreitausend Thalern gewesen war, wer konnte sich dessen erinnern? Ich sagte das dem Vorgesetzten.

„Schlimm,“ erwiderte er, „dann haben wir als nächsten Anhalt nur den Schein und die Bücher. In den Büchern – hier sind sie – ist der Brief nicht verzeichnet …“

„Um Gotteswillen,“ stieß ich, auf das Höchste erschreckt, hervor. „Unmöglich, unmöglich …“

„Nicht verzeichnet, also bleibt nur der Schein. Betrachten Sie den! Ist er von Ihnen ausgestellt worden?“

Bleich vor innerer Aufregung, starrte ich das Papier an. Ich hoffte, es sollte mir irgend etwas daran fremd sein; aber nein, es war das gewöhnliche Formular, ausgefüllt mit meinen Schriftzügen und an diesen meinen Buchstaben war kein Häkchen und kein Punkt, den ein Anderer als ich gemacht haben konnte. Und doch sagte mir eine innere Stimme, die Sache könne nicht in Ordnung sein.

„Es ist unbestritten,“ antwortete ich, „daß ich das Papier beschrieben habe. Es hat jedoch schon einmal in meinem Leben eine Rolle gespielt, und zwar folgende.“ Ich erzählte dem Vorgesetzten darauf den Vorfall vom 9. März, den er kopfschüttelnd anhörte.

„Das ist ja eine fatale, merkwürdige Geschichte,“ sagte er nachdenklich, „das heißt nur dann merkwürdig, wenn Sie von jeder Schuld frei sind. Das ist aber schon der dritte Geldbrief, der seit Ihrer Amtsführung verloren gegangen ist. Sie wollen heirathen; Ihre Braut ist arm; Sie schaffen die ganze Aussteuer an; Sie brauchen dazu Geld –“

„Halten Sie ein, Herr Oberpostdirector!“ rief ich empört, „verurtheilen Sie nicht, ehe Sie die Sache kennen! Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals auch nur einen Pfennig bei Seite gebracht habe.“

Der Oberpostdirector sah mir mit bewegter Miene einen Moment tief in die Augen. Sein Blick war so scharf und durchdringend, daß ich ihn nicht ausgehalten haben würde, hätte ich auch nur das mindeste Schuldbewußtsein gehabt. Ich blickte ihm frei und frank in’s Gesicht, dann lenkte er seine Augen wieder auf das verhängnißvolle Papier, das vor ihm lag, und sagte kurz:

„Leider spricht der Schein gegen Sie. Ich kann unter diesen Umständen nichts Anderes thun, als Ihnen achtundvierzig Stunden Bedenkzeit gehen. Binnen dieser Frist haben Sie den Beweis zu schaffen, daß der Brief niemals eingeliefert worden ist. Gelingt Ihnen dies nicht, so haben Sie um Ihre Entlassung einzukommen. Dies ist mein letztes Wort. Sie können Gott danken, daß ich Sie, nachdem Sie die Ausstellung des Scheines eingeräumt haben, nicht sofort verhaften lasse.“

Dann schritt er zu dem Zimmer, in dem die Adressaten verweilten, gab Helmreich den Schein zurück und theilte ihnen mit, daß er ihnen nach drei Tagen die bestimmteste Antwort geben könne und werde. Ich hörte dies, auf meinem Platz wie angenagelt stehen bleibend, mit an, ja, ich sah deutlich, wie einer der Adressaten, der Justizrath Giese, beim Fortgehen sein Taschentuch verlor; ich machte die Bemerkung, wie dick die Stiefelsohlen des Herrn Oberpostdirectors seien, und zugleich wußte ich, daß ein ungeheures Unglück über mir schwebte und daß ich nach achtundvierzig Stunden wahrscheinlich ein ehrloser und brodloser Mensch sein würde, ein Hund, auf den die Anderen mit Fingern zeigten, ein –

Eine Handbewegung des Oberpostdirectors wies mich zur Thür hinaus.




Es begann jetzt die Hetzjagd auf Beweise. Ich hatte bis zum Sechszehnten Mittags Zeit für meine Nachforschungen und überlegte in der ersten Stunde, wie ich diese Zeit verwenden solle. Ich entwarf einen Feldzugsplan. Zunächst schien mir die Ermittelung erforderlich, ob der Rittergutsbesitzer Kuntz Gründe zur Vornahme einer Fälschung hatte. Ich begann deshalb damit, daß ich Erkundigungen über seine Verhältnisse einzog, und hatte das große Glück, sehr bald auf einen Mann zu stoßen, der mit der Lage des Herrn Kuntz genau vertraut war und mir für einen Zehnthalerschein noch an demselben Abend Alles erzählte, was ich wissen wollte. Der Inhalt seiner Mittheilungen war kurz folgender.

Der Rittergutsbesitzer Kuntz besaß ein sehr hübsches und ertragreiches Areal. Dasselbe war für jene sechszigtausend Thaler, die der Gutsbesitzer Fernow zu fordern hatte, verpfändet. Außerdem hatte Herr Kuntz aber noch andere Schulden zum Betrage von sechs- bis achttausend Thalern, nicht eingetragene große und kleine Lappenschulden. Um die Schuld von sechszigtausend Thalern auf einen niedrigeren Zinsfuß zu bringen und die Lappenschulden zu bezahlen, hatte er sein Gut zur Aufnahme in die sogenannte „Landschaft“ angemeldet und um ein Darlehen von achtzigtausend Thalern in Pfandbriefen nachgesucht. Die Gewährung dieses Gesuches hing von dem Syndicus des Verbandes der Rittergüter ab, und dieser, das wußte man allgemein, befürwortete kein Darlehen an einen Schuldner, gegen den im letzten Jahre Execution vollstreckt war. Unter diesen Umständen mußte sich Kuntz, wollte er die Aussicht auf Ordnung seiner Verhältnisse nicht verscherzen, ängstlich vor Executionen hüten. Er hatte im December 1866 gerade das Geld zusammen, das er als Zinsen nach Hagen zu schicken hatte, als sich plötzlich das Gerücht verbreitete, er sei insolvent geworden. Jetzt stürmten ihm die Gläubiger das Haus. Er hatte sich darauf an Bekannte, Verwandte, Freunde und Fremde mit der Bitte gewandt, ihm wenigstens so lange das Geld für die Befriedigung der am meisten stürmischen Gläubiger zu leihen, bis er die Pfandbriefe erhalte, sie verkaufe und mit dem Erlös ihnen Alles zurückzahle. Meine Quelle wußte, daß ihm diese Bitten an vielen Orten abgeschlagen worden waren. Am letzten December 1866 hatte er dann die dreitausend Thaler eingepackt und sie zur Post getragen. Er war darauf mit dem Annahmeschein zurückgekehrt. Im Anfang des Monats Januar hatte er sämmtliche auf Bezahlung dringende Gläubiger befriedigt und dazu mindestens drei- bis viertausend Thaler ausgegeben. Bis zu einer Execution war es so nicht gekommen.

Der, welcher mir das erzählte, war bisher Inspector, [115] Schreiber, Commissionär und Factotum bei Kuntz gewesen, daher seine genaue Kenntniß.

Der folgende Morgen fand mich im Bureau des Rechtsanwalts Helmreich. Ich erlangte eine Unterredung mit dem Bureauvorsteher, bevor der Rechtsanwalt in seiner Geschäftsstube erschienen war. Diese Unterredung kostete mich den zweiten Zehnthalerschein; dafür wurde mir aber auch der Einblick in die Manualacten des Advocaten gestattet. In diesen steckte der Original-Einlieferungsschein, den ich ausgestellt haben sollte und von dem nur eine Copie als Beweisstück zu den Proceßacten Fernow wider Kuntz gegeben worden war. Ich nahm das Actenheft in die Hand und trat damit zum Fenster. Vor diesem lag ein öder Hof, auf welchen ab und zu ein Regenschauer niederklatschte. Hier und da trat auch die Sonne durch die Wolken und erhellte den nassen Hof und die staubigen Acten da drinnen mit demselben freundlichen Glanz. Ich hob den Postschein, der lose im Heft lag, aus demselben heraus und betrachtete ihn. Ein Fremder müßte geglaubt haben, ich hätte das Papier mit den Augen durchbohren wollen; so stierte ich es an. Natürlich richtete ich meine Aufmerksamkeit zunächst auf die Jahreszahl; denn hätte es mit dieser seine volle Richtigkeit gehabt, so würde der Absender wohl nicht in die Amtsstube gekommen sein, dachte ich, um die Zahl von mir verändern zu lassen. Allein mit welcher Herzensangst ich auch jeden Strich prüfte und studirte, es war ganz unzweifelhaft: da hatte früher gestanden: „den 31. December 1867“, und ich hatte durch die unzweifelhafte Sieben dick eine Sechs geschrieben. Ich hielt den Schein gegen das Licht, wendete ihn links, wendete ihn rechts, besah die Vorder-, durchforschte die Rückseite; aber Alles vergeblich. Trostlos ließen meine Hände das Papier sinken; es war gar nicht anders möglich: war dieser Schein echt, so hatte Herr Kuntz den Brief auch eingeliefert und dann, so unglaublich es mir schien, mußte ich ihn einzutragen vergessen haben, und er mußte verschwunden sein. Aber es war ja gar nicht denkbar, daß ich die Eintragung vergessen haben sollte, und daher war der Brief nicht eingeliefert, und deshalb mußte der Schein falsch sein. Der Bureauvorsteher, der mein Gebahren schon lange mit ängstlichen Blicken verfolgt hatte, sagte barsch:

„Jetzt geben Sie mir meine Acten wieder, Gutester! Es könnte sonst durch irgend einen Zufall etwas wegkommen.“

Ich nahm den Schein nochmals auf und hielt denselben, ihn wie ein Ertrinkender, der den Horizont über sich zum letzten Male sieht, betrachtend, in die Höhe. In diesem Augenblicke flog ein freundlicher Sonnenstrahl zum Fenster herein und auf den Schein. Da, da war es! Ich hatte es gefunden! Gott sei Dank!

Ein nervöses Zittern durchlief mich vom Scheitel bis zur Sohle. Ich versuchte, mich möglichst zu beherrschen, legte das Papier anscheinend ruhig wieder in die Acten, übergab diese dem Bureauvorsteher, ergriff meinen Hut, empfahl mich und stürzte davon. Ich eilte auf dem kürzesten Wege zum Postgebäude. Ich glaube, daß ich auf der Straße ein halbes Dutzend kleine Kinder umgerannt habe und mit tausend Personen carambolirt bin; ich erinnere mich dunkel, daß ich gegen einen Milchwagen rannte und Gefäße mit Milch umstieß. Ich meine, daß ich einen Leichenzug durchbrechen mußte und dabei fürchterliche Püffe erhielt, aber endlich, endlich war ich am Ziele.

Im Postgebäude angekommen, eilte ich zu meinem Freunde, dem Postassistenten B., welcher den Schlüssel zu der Stube der reponirten Acten hatte, bat ihn, mir dieselbe aufzuschließen, und stürzte dann, während er mir langsam folgte, zu jenem Zimmer. Dort erklärte er sich bereit, mir zu helfen, wenn ich irgend etwas suchen wollte, und als ich ihm entgegnete, ich müsse in der Annahmeliste für December 1864 nachforschen, ob sich dort nicht ein Geldbrief von dreitausend Thalern nach Hagen eingetragen fände, fingen wir Beide an, in dem Actenwust zu wühlen, daß die Staubwolken um uns aufwirbelten.

„Um ein Haar,“ sagte B., „wärst Du zu spät gekommen; denn die Listen für 1864 werden binnen Kurzem zum Einstampfen verkauft werden. Jetzt ist es aber noch früh genug, wie es scheint; denn hier habe ich die letzte Liste von 1864.“

In fünf Minuten mußte sich mein Schicksal entschieden haben. Während mein Freund gleichgültig in dem Actenstücke blätterte, nahm ich wahr, wie mir dicke, schwere, kalte Tropfen über die Stirn rannen. Ich fühlte, wie mich eine große Schwäche überkam, und mußte mich an ein Repositorium lehnen, damit ich nicht umfiel. Ich wollte meinem Freunde die Acten fortnehmen und selbst darin blättern, allein ich hatte nicht die Kraft dazu und ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken.

„Mein Gott, was ist Dir?“ sagte B. erschreckt. „Du bist ja weiß, wie die Wand. Ich will Dir Wasser holen.“

„Nein, nein, fliege zuvor die Liste durch, ob Du den Geldbrief findest!“

B. hatte zwei Seiten flüchtig angesehen, dann, in der Mitte der dritten stutzend, sagte er:

„Nummer 219, dreitausend Thaler, Fernow, Hagen.“

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entrang sich meiner Brust.

„Und Colonne ‚Gewicht‘?“

„Drei und ein Drittel Loth.“

„Und angenommen?“

„Von Dir.“

Ich hätte aufjauchzen mögen vor Entzücken. Ich hatte Recht gehabt: der Einlieferungsschein vom December 1867 war falsch. Er war damals auf den Brief hier in dieser Liste ertheilt und nun von dem Absender für neu ausgegeben worden. Um letzteres zu ermöglichen, hatte Kuntz auf dem Scheine aus der 4 in der Zahl 1864 eine 7 gemacht. Dies hatte er einzig und allein durch Folgendes bewerkstelligt. Die Ziffer 4 besteht aus einem Verticalstriche und einem Winkel, dessen einer Schenkel den Strich trifft. Die Linie jenseits des Punktes, in dem der Strich von dem einen Schenkel getroffen wird, nach oben zu, hatte Kuntz ausradirt und so aus der 4 ein Zeichen gemacht, das von der Ziffer 7 durchaus nicht zu unterscheiden war. Dann hatte er mich, den Zeitpunkt, wo ich viel Arbeit unter den Händen hatte, auswählend, bewogen, über diese 7 noch die 6 zu malen, und ich hatte seine Manipulation erst recht unfindbar gemacht und versteckt, obendrein auch noch den Schein als richtig anerkannt.

Pünktlich beim Ablaufe der mir gegebenen Frist stand ich vor dem Oberpostdirector. Ich hatte kaum meinen Vortrag beendigt, als auch schon die Requisition an den Staatsanwalt um Beschlagnahme des Scheins bei dem Rechtsanwalt Helmreich unterwegs war.

Drei Monate später standen der Rittergutsbesitzer Kuntz und ich uns wieder gegenüber; aber diesmal nicht in meinem Bureau, sondern im Schwurgerichtssaale. Unter den Geschworenen waren nur zwei, welche erklärten, daß sie die Rasur in dem ihnen vorgelegten Einlieferungsscheine erkennen könnten, die Augen der übrigen Herren reichte dafür nicht aus. Der Angeklagte, der während der ganzen Verhandlung alle Anschuldigungen mit dem Scheine der tiefsten Entrüstung bestritten und das Ganze für ein ruchloses Complot, eine Komödie der Post erklärt hatte, ließ, als ihm der Präsident verkündigte, die Geschworenen hätten die Thatfrage bejaht, plötzlich die Maske fallen. Er flehte den Gerichtshof um Milde bei der Strafzumessung an und erzählte von den schlimmen Umständen, in denen er sich befunden habe, von der Nothwendigkeit, die dreitausend Thaler zur Deckung anderer Schulden als der Zinsschuld zu verwenden, und von der Reue, die er darüber empfinde, in dieser Noth gefehlt zu haben. Er räumte Alles ein, was vorher von ihm so energisch zurückgewiesen worden war. Der Gerichtshof nahm aber mehr Rücksicht auf die fürchterliche Lage, in welche mich der Unselige gebracht hatte, als auf seine Bitten. Er verurtheilte ihn wegen Urkundenfälschung zu fünf Jahren Zuchthaus.

Ab und zu begegne ich einem gänzlich verkommen aussehenden Individuum mit langem struppigem Barte und großen grauen Augen. Es richtet sie immer starr auf mich, murmelt etwas in den wirren Bart, das einem bösen Fluche gleicht, und wendet dann heftig den Kopf zur Seite, wie um mir seinen Haß zu zeigen. Er scheint mir noch nicht vergeben zu haben, wie ich ihm längst vergeben habe, obwohl jene Stunden solche waren, die ich nie wieder erleben möchte.

Sch.