Aus dem Beamtenleben/Nr. 5. Der Bureaudiener

Textdaten
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Autor: L. Sch
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Titel: Aus dem Beamtenleben/Nr. 5. Der Bureaudiener
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 669–671
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus dem Beamtenleben.
Nr. 5. Der Bureaudiener.

Seit zwei Jahren fungirte ich bei der Reichstelegraphie und hatte eine Anstellung als Vorsteher der Station in S. Im Anfange war mir meine amtliche Thätigkeit außerordentlich interessant. Hat doch der Apparat etwas Wunderbares und Geheimnißvolles auch für Denjenigen, welcher in seinem Gebrauche nicht Laie ist. Die Buchstaben, welche die Station bezeichnen, ertönen, man wird also gerufen und Neugierde versüßt uns die Pflicht, denn man enträthselt nun aus den Punkten und Strichen des Papierstreifens, der langsam, aber sicher durch unsere Hände gleitet, Worte, die wohl oft Gleichgültiges, oft aber auch viel Glück oder Leid sagen. Als ich in S. zu arbeiten anfing, war ich noch ein solcher Neuling, daß ich nicht allein den Sinn der Worte zu erfassen trachtete, um sie richtig wieder geben zu können, sondern auch sogar Reflexionen über diesen Sinn anstellte. Ich ärgerte mich, wenn eine lange Depesche nichts Anderes wollte, als Blumenkohl bestellen, ich freute mich, wenn der Absender sagte: „Soeben dreitausend Thaler in der Lotterie gewonnen,“ oder „Examen glücklichst bestanden, benachrichtet meine Braut“; es betrübte mich, wenn ich las: „Arzt giebt keine Hoffnung mehr, komme gleich, wenn Du Mutter noch sehen willst.“ Da ich mir bald die Fertigkeit angeeignet hatte, aus dem Klappern einer durchgehenden Depesche im Apparate, die für eine andere Station bestimmt war, zu schließen, welche Punkte und Striche vorkamen, um daraus den Inhalt zu erkennen, horchte ich jedesmal auf und las die durchgehenden Telegramme mit. Jetzt ist mir der Dienst zum kritiklosen Geschäft geworden. Die Worte sind mir nur noch Worte, und wenn fremde Depeschen klappern, schalte ich zu. So stumpft die Gewohnheit ab. –

In jener Anfangszeit, es war die Blütheperiode des Gründerthums, saß ich eines Abends vor dem Tische und schlug in den erforderlichen Zwischenräumen auf den weißen Knopf des Apparates, um von der Nachbarstation zu erfahren, was sie in einem mir unverständlich gebliebenen Telegramm eigentlich hatte sagen wollen, als sich die Thür zum Bureauzimmer öffnete und ein untersetzter dicker kleiner Mann eintrat und auf mich zuschritt. Er hatte ein volles, rundes, ehrliches Gesicht mit einer jedoch merkwürdig spitzen Nase, ziemlich kurzes, blondes Haar und auf jeder Wange einen Anflug von röthlichem Barte, dabei ein Aussehen und eine Haltung, als ob er ein alter Beamter sei. Ich schickte mich an, ihn aus dem Bureau zu verweisen, als er mit leiser, freundlich klingender Stimme sagte:

„Entschuldigen Sie tausendmal, daß ich in diese verbotenen Räume dringe, ich wollte mir erlauben, Ihnen einige Worte vorzutragen.“

Was das zu bedeuten hat, ein paar Worte, die Jemand mit einem Beamten sprechen will, weiß jeder Angestellte. In der Regel ist es ein langer Salbader ohne bestimmten Antrag. Letzteren muß man sich mühsam herausklauben, und ich habe in meiner Praxis selten Jemand gefunden, der sich mit seinem Anliegen gleich an die richtige Stelle gewendet hätte. Hier war es aber anders. Nachdem ich das augenblickliche Geschäft beendet hatte, stellte sich heraus, daß der Fremde sich um eine Stelle als Bureaudiener bewerben wollte, die gerade frei und von uns zu vergeben war. Bisher hatte ich für den hohen Lohn von monatlich sechszehn Thalern noch Niemanden bekommen können und da kam mir der Fremdling gerade recht. Seine Papiere waren zwar etwas unvollständig und sonderbar, denn Herr Mehlmann, wie er sich nannte, besaß zwar den Civilversorgungsschein, aber diesen hatte er erst erhalten, nachdem er von seiner militärischen Laufbahn die eines Reisenden, Auctionators und sogar Küsters durchgemacht hatte. Befragt, ob er irgend etwas vom Telegraphiren verstehe, wenigstens soviel, daß er mir dabei behülflich sein könne, den Apparat und die Batterie in Ordnung zu halten, erklärte er, daß er davon leider nicht das Mindeste verstehe und nur dadurch Dienste leisten könne, daß er die Stuben in Ordnung halte und die Depeschen austrage. Ich mußte damit zufrieden sein und nahm ihn auf eine Probezeit von drei Monaten an.

Herr Mehlmann war ein geschickter Mensch. Nach kurzer Zeit wußte er nicht allein ganz genau, wann die Batterie erschöpft, das Gewicht mangelhaft eingehängt und der Papierstreifen zu Ende war, sondern er horchte auch auf, wann die Station gerufen wurde, und benachrichtigte mich. Ja, er ließ sich die Sache so angelegen sein, daß er alte reponirte Papierstreifen studirte, um, wie er sagte, auch hinter dieses Teufelsding zu kommen. Es machte ihm auch ein besonderes Vergnügen zuzuhören, wenn der Apparat bei fremden Depeschen mitklapperte. „Ich gäbe hundert Thaler darum,“ sagte er, „wenn ich wüßte, was sich die da mitzutheilen habe.“ Nur Eins war merkwürdig an ihm, nämlich der Umstand, daß er außerordentlich viel Formulare verbrauchte. Jeden Augenblick kam er mit einer Bestellung von so und so viel Depeschenformularen von diesem oder jenem Banquier und brachte die Papiere entweder selbst fort oder schickte sie fort. Ferner entfernte er sich ungern in den Stunden nach Tisch vom Bureau, er könne das Gehen nach dem Essen nicht vertragen, sagte er. Und dann war mir noch etwas Anderes aufgefallen: Der Banquier Salomon Löwenherz war ein Gründer ersten Ranges. Bezüglich seiner moralischen Eigenschaften nicht im besten Rufe stehend, besaß er doch vor anderen Sterblichen in Folge seiner Speculationen den Vorzug, enorm reich zu sein. Mit dem Reichthume war er auch vornehm geworden, und er suchte stets die beste Gesellschaft, obwohl ihm dies viel Mühe kostete und manche Zurückweisung einbrachte. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich eines Tages auf einem weiten Spaziergange an dem einsamen Kruge zum „Grünen Baum“ vorbeikomme und durch das Fester meinen Freund Salomon erblicke, wie er gerade, hinter einer Flasche Wein in der Stube sitzend, Herrn Mehlmann neben ihm den rechten Arm um den Nacken legt, ihm einschenkt und dabei Etwas in das Ohr zischelt! Wie ich eintrat, waren Beide verschwunden. Ich fragte den Wirth, was das für Herren gewesen seien, worauf er erwiderte, sie kämen hier öfter zusammen.

Am anderen Tage erzählte der Bureaudiener ungefragt, er habe in Löwenherz einen alten Mitschüler gefunden, von dem er das Gründen lernen wollte. Seit der Zeit sah ich ihm scharf auf die Finger, dies hatte aber nur zur Folge, daß ich mich über den Eifer, mit dem er alle seine Obliegenheiten erfüllte, und seine Beflissenheit, stets im Bureau zu meinen Diensten gegenwärtig zu sein, freuen mußte.

Eines Abends im Januar saß ich vergnügt hinter dem Biertische in meiner Stammkneipe, als sich mir ein Fremder vorstellen ließ, der sich Gutsbesitzer Thüring aus Salzwedel nannte. Dem Mann war offenbar viel daran gelegen, mit mir im Gespräche zu bleiben, und er hielt mich aus, bis fast alle Gäste fortgegangen waren. Er wurde mir aber bald entsetzlich langweilig, denn er sprach von Nichts als Schafen, Mähmaschinen, Pferdekrankheiten und seinem Mangel an Knechten. Ich gab ihm schließlich nicht undeutlich zu verstehen, daß diese Themata für mich ohne Interesse wären, weil ich kein Landwirth sei. Da sagte er mit einem satirischen Lächeln halblaut „Ich auch nicht – erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen nochmals vorstelle: Ich bin der Criminalcomnissar Poche, begriffen auf einer Dienstreise, und möchte gern zu Ihnen, dem Beamten, reden. Brachmeier ist wieder los!“

Man kann sich denken, wie sehr ich über diese plötzliche [670] Enthüllung erstaunt war. Daran, daß ich wirklich einen Angestellten der geheimen Polizei vor mir hatte, konnte ich schon nach einigen Minuten keinen Zweifel mehr hegen, und nachdem ich ihm gesagt hatte, daß ich den Name Brachmeier in meinem ganzen Leben noch nicht gehört habe, theilte er mir demnächst Folgendes mit.

„Brachmeier,“ so begann er, „war als außerordentlich tüchtiger und intelligenter Postbeamter sehr schnell Post- und Telegrapheninspector geworden. Eines Tages hatte er eine Cassenrevision in W. Er fand dort Alles in Ordnung bis auf eine Quittung des Posthalters über fünftausend Thaler, an der ihm Verschiedenes bedenklich erschien. Als er dies dem Oberpostdirector rapportirte, beauftragte ihn Letzterer, sofort eine Nachrevision vorzunehmen. Brachmeier begab sich darauf nach W., revidirte zum großen Schrecken des Postmeisters nochmals und fand jetzt, daß die Quittung falsch und ein Defect in gleicher Höhe vorhanden war. Auf seine telegraphische Meldung davon erhielt er zur Antwort, er solle bezüglich des Defectes nach dem Reglement verfahren. Im Uebrigen sei die Enthebung von seinem Posten als Inspector bereits beantragt. Es folgte darauf seine Zurückversetzung in den Bureaudienst. Seit dieser Zeit war er ein anderer Mensch geworden. Man mochte in der Sache wohl etwas schroff gegen ihn verfahren sein, und das hatte ihn dermaßen erbittert, daß er von nun an widerspenstig wurde und sich nicht mehr subordinirte. Als Ende vom Liede wurde er nach langen Hin- und Herschreibereien disciplinirt und entlassen. Er gerieth dadurch in Noth und Elend und kam schließlich auf die Bahn des Verbrechens, indem er seine Kenntniß vom Post- und Telegraphenwesen dazu benutzte, sich auf jede mögliche Weise Geld zu verschaffen. Da er sehr gute Kenntnisse von Beidem hatte – beispielsweise hat er eine sehr hübsche Erfindung am Mechanismus des Apparates gemacht und versteht sich auf’s Telegraphiren wie Einer – wurde er sehr bald ein von allen Postanstalten gefürchteter Fälscher. Namentlich verlegte er sich auf die so gefährlichen Postanweisungen. Aber hier waren die betrogenen Beamten bald belehrt, und als das Geschäft nicht mehr zog, ‚machte‘ er dann lediglich mit dem Apparate. Es ist vorgekommen, daß er auf der Strecke mitten zwischen zwei Stationen einen Apparat mit dem Drahte in Verbindung setzte und nun in dieser selbstgeschaffenen Station Depeschen abfing und selbst in die Welt depeschirte.

Seine größte Heldenthat hat er vor etwa sechs Jahren vollbracht. Er kaufte sich, genau unterrichtet über die Verhältnisse des Bezirks und zufällig durch dieselben sehr unterstützt, eine neue Postinspectoruniform. Mit dieser angethan bestieg er auf einer kleinen Zwischenstation das fahrende Postbureau eines Zuges, der von St. nach. L. ging. In demselben fand er zwei junge Beamte vor und begann deren Bureau zu revidiren. Bei der Prüfung der Amtsführung derselben fiel ihm ganz besonders auf, daß zwei Beutel, der eine mit tausend, der andere mit dreitausend Thaler gefüllt, durchaus nicht vorschriftsmäßig versiegelt waren, und er nahm dieselben an sich, um sie auf der Station H., wohin sie bestimmt waren, dem Postmeister selbst zu übergeben. Dieser sollte das reglementswidrige Verfahren der Beamten constatiren helfen und das Weitere veranlassen. Bei der enormen Kenntniß, die er vom Dienst entwickelte, seinem barschen Auftreten und den tausend Rügen, die er wegen anderer Verstöße auf die Unglückseligen herabregnen ließ, fiel Keinem von ihnen auch nur im Traum ein, irgend Etwas zu argwöhnen. Glücklicherweise wollte es der Zufall, daß zwei Minuten nach dem Aussteigen dieses Inspectors der Postmeister von H. in Person an den noch haltenden Zug trat. Die beiden fahrenden Beamten überhäuften ihn mit Entschuldigungen, und da stellte sich dann der Schwindel heraus. Brachmeier war sehr bald gefaßt, und man fand das ganze Geld bei ihm. Er hatte vier Jahre in Naugard Zeit, die Komödie zu bereuen. Als er entlassen war, fing er sofort wieder an zu arbeiten, das heißt in seinem Sinne.

Vor Kurzem nämlich wandten sich einige große Bankhäuser flehentlich an uns mit der Bitte um Hülfe. Sie wissen, daß die Banquiers fremde Aufträge nur dann besorgen, wenn sie eine briefliche Bestellung erhalten. Handelt es sich um große und eilige Sachen, so wird in der Regel vom Auftraggeber telegraphirt und dann Seitens des Bevollmächtigten die briefliche Bestätigung abgewartet, ehe nach dem Auftrage verfahren wird. Selbstverständlich liegt zwischen Telegramm und Brief immer ein größerer Zeitraum, meist ein Tag. In der letzten Zeit nun waren gewisse Firmen in B. in reiner Verzweiflung. Heute empfingen sie von Frankfurt am Main den telegraphischen Auftrag fünfzigtaused Thaler Rheinische Actien zu kaufen. Gingen sie, nachdem sie die Bestätigung erhalten, an die Börse, so waren die Actien plötzlich enorm gestiegen, weil bestimmte Jobber eine Stunde vor ihnen alles aufgekauft hatten. Ebenso waren gewisse Course gedrückt, wenn sie verkaufen wollten, indem man kurz vorher große Mengen des Papiers auf den Markt geworfen hatte.

Es würde zu weit führen, Ihnen auseinander zu setzen, wie jene Jobber direct und indirect dadurch profitiren, genug sie profitirten Tausende, und das Ding wurde schließlich so toll, daß unbedingt die Annahme geboten war, die Jobber hätten von den Manipulationen der Häuser vorher Kenntniß. Es sind große Untersuchungen darüber angestellt worden, wo das Dienstgeheimniß verletzt wurde. Wir haben den Aufgabe- und den Ausgabeort vieler Depeschen einer scharfen Controlle unterworfen, aber an beiden Stellen nichts gefunden. Es blieb daher nur die Möglichkeit, daß die Depeschen auf der Strecke abhanden kamen. Wir haben darauf einen hübschen jungen Beamte auf die Spur zu setzen versucht, indem wir ihn dienstlich anwiesen, ein Verhältniß mit der Geliebten eines jener Fixer anzufangen. Das Ergebniß war ein vollkommen unverständlicher Brief an den Börsenmann, unterzeichnet Brachmeier. Wir haben dann diesen unsern alten Freund, wie, kann Ihnen gleichgültig sein, bis hierher aufgespürt und Sie sollen mir ihn hier entdecken helfen. Wir kennen Sie als zuverlässig, und ich habe Ihnen dieses Alles offen erzählt, in der Hoffnung, daß Sie uns helfen werden, ihn zu fangen.“

Während der Beamte erzählte, war in mir zehnmal ein bestimmter Verdacht aufgestiegen und wieder geschwunden. Sollte mein Bureaudiener der Gesuchte sein? Ich durchflog mein ganzes Personal im Geiste, ich kannte das Vorleben eines Jeden, nur von Mehlmann wußte ich nichts Sicheres. Er war mir ab und zu, wie bereits erzählt, etwas wunderlich vorgekommen, aber das war kein genügender Anhalt. Nein, es war nicht möglich, so konnte sich Jemand nicht verstellen, daß er Monate lang den einen Tag wie den anderen ruhig das Bureau fegte und die Tische abwischte, daß er die Oefen heizte und Wasser trug, als habe er nie etwas Anderes gethan! Und dann, es war ja nicht möglich, daß er von meinen Telegrammen Kenntniß erhielt, er kannte ja nicht einmal das Alphabet! Endlich, wie scharf hatte ich immer aufgepaßt und hatte doch Nichts gefunden! Aber halt –

„Haben jene Jobber, Herr Commissar, hier Verbindungen?“

„Allerdings, mehrere.“

„Können Sie mir einen Name nennen?“

„Salomon Löwenherz.“

„Wollen Sie morgen früh in mein Bureau kommen?“

„Warum?“

„Vielleicht kann ich Ihnen den Gesuchten vorstellen … wenn Sie ihn jedoch dort finden, so nehmen Sie sich in Acht, daß er Ihnen nicht wieder durch die Finger geht, denn wenn es der ist, den ich meine, so haben wir einen ganz verteufelt schlauen Burschen vor uns!“

Ich erzählte darauf dem Criminalbeamten von meiner Vermuthung, und wir entwarfen gemeinsam einen Feldzugsplan. Ich werde mich noch bis an mein Lebensende des Vergnügens erinnern, das uns das Stricken dieses Netzes machte.

Die Sache ging über alles Erwarten gut. Mein Bureau hatte zwei Thüren, eine neben dem Schalter auf den Flur führend, die andere in ein halbdunkles Nebenzimmer gehend, welches zur Aufbewahrung von Acten diente. Das Nebenzimmer hatte wieder einen besonderen Ausgang auf den Flur. Als der Criminalcommissar am andern Morgen kam, fing ich ihn auf dem Flur ab und führte ihn leise in das Nebenzimmer. Ich postirte ihn hinter die Thür zum Bureau, in der sich eine mit grüner Serge verhängte Glasscheibe befand. Dann ging ich in das Bureau, und nachdem das übrige Personal dasselbe unter allerlei Vorwänden verlassen hatte, entfernte auch ich mich, so daß nur Herr Mehlmann in demselben zurückblieb. Was nun folgt, hat mir der Commissarius erzählt. Herr Mehlmann [671] war gerade damit beschäftigt, einen verwickelten Bindfadenknoten aufzuknüpfen, als Schlag 11½ Uhr die Maschine zu klappern begann. Mehlmann drehte zuerst seinen Kopf nach dem Apparate hin; dann machte er einen Schritt nach dem Apparate hin und legte horchend die rechte Hand hinter das Ohr. Nach einer Secunde durchzuckte es ihn wie ein Blitzstrahl, er wurde feuerroth und richtete sich gerade auf. Der Apparat klapperte tonlos weiter. Mehlmann’s Röthe wich schnell einer erdfahlen Blässe, von der nur seine spitze Nase ausgeschlossen war. Seine Lippen kniffen sich fest zusammen, sein Gesicht nahm einen drohenden Ausdruck an und seine Augen leuchteten wie die einer aufgejagten Katze im Dunkeln. Als der Apparat schwieg, schien er sich zu fassen und seine Züge legten sich bald wieder in die ehrlichen Falten von vorher.

Dann ging er mit raschen Schritten auf den Tisch zu, von dem aus ihm ein solcher Schrecken eingejagt war, und während er bald nach den Fenstern, die auf die Straße gingen, bald nach der Thür, die auf den Flur führte, sah, schlug er in gemessenen Zwischenräumen wie ein Virtuose auf den weißen Knopf. Als er fertig war, wandte er sich zur Thür, rief mit heiserem Lachen: „Adieu, Reichstelegraphie!“ und stieß in demselben Augenblick auf mich, der ich die Thür von außen öffnete und ihm den Weg versperrte. Jetzt kam der Commissar durch die Thür des Nebenzimmers gesprungen und faßte ihn von hinten am Kragen. Mit einem gewandten Ruck jedoch machte er sich von diesem los und versuchte mich umzurennen. Das gelang ihm aber nicht, und nun folgte eine Balgerei, bei der er mich fortwährend anschrie: „Lassen Sie mich los. Sie dummer Teufel!“ Endlich glückte es uns, den Keuchenden auf einen Stuhl niederzudrücken. Er gab sich gefangen.

„Ihr Bureaudiener,“ sagte der Commissar athemholend, „kann nicht allein Depeschen hören, er depeschirt auch selbst vorzüglich. Wollen Sie die Güte haben, Herr Assistent, zu fragen, was er gesagt hat?“

Die durchgehende Depesche, die von der Nachbarstation L. nach R. gerichtet gewesen war und die ich mir in Mehlmann’s Abwesenheit bestellt hatte, welche er hören sollte und auch in der That gehört hatte, lautete:

„Staatsdepesche. An Polizeiverwaltung R. Berüchtigte Brachmeier hält sich dort oder Umgegend auf. Näheres über Anwesenheit bekannt?

B., Staatsanwalt.“

Auf meinte Anfrage in L., was soeben von uns aus dorthin telegraphirt sei, kam binnen einer Minute die Antwort:

„Staatsdepesche. An Staatsanwalt in L. Vernehmen nach wird dort Brachmeier gesucht. Hat sich hier vor vierzehn Tagen nach Z. abgemeldet, wo zu finden.

S. Polizeiverwaltung.“

„So,“ sagte ich, „Sie sind also die Polizeiverwaltung von S.? Nun, Sie werden bald genug mit derselben zu schaffen haben!“

Brachmeier, alias Mehlmann, schwieg achselzuckend. Wir brachten ihn darauf in sichern Gewahrsam, und demnächst begann die Untersuchung.

Dieselbe ergab, daß er mit mehreren Geldmännern des Ortes, namentlich Salomon Löwenherz, in Verbindung gestanden und diesen wichtige Börsendepeschen, die durch das Gehör ihm zur Kenntniß gekommen waren, verrathen hatte. Letztere hatten das, was sie vernommen, sofort telegraphisch in Chiffreschrift ihren Genossen, den Jobbern, mitgetheilt, die sofort davon Gebrauch machten. Es war dies die ungefährlichste Art des Verraths; denn hätte Brachmeier sich am Orte der Auf- oder Ausgabe der Depeschen aufgehalten, so wäre die Sache zu bald entdeckt worden. Hier war so leicht nichts zu befürchten. Zudem hatte er die Vorsicht gebraucht, selten mit seinen Genossen am Orte zu verkehren, und ihnen meist dadurch, gemäß vorheriger Abmachung, Mittheilung gemacht, daß er ihnen Formulare brachte oder schickte, deren Zahl irgend eine verabredete Bedeutung besaß. In der Regel war für ihn nur die Mittagsstunde von Drei bis Vier wichtig, weil zu dieser Zeit die Börsendepeschen durch den Apparat kamen, und deshalb hatte er Nachmittags das Bureau so ungern verlassen. In seiner Wohnung fand sich noch sein Beuteantheil, elfhundert Thaler. Seine Papiere waren natürlich alle gefälscht oder ihm von Anderen gegeben. – Das Ende vom Liede war wieder einsame Beschaulichkeit, welcher er noch heute obliegt.

L. Sch