Textdaten
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Autor: Rudolph Löwenstein
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Titel: Auf dem Neuen Canale
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 132–134
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Der Landwehrkanal in Berlin
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[132]
Berliner Skizzen.
1. Auf dem Neuen Canale.
Von Rudolph Löwenstein.[1]

Wären die Gebrüder Grimm mit ihrem Wörterbuche bis zum Buchstaben U gediehen, so hätten sie sicherlich bei dem Worte „Unverfroren“ bemerkt: „mit diesem beiworte bezeichnet der berliner einen menschen, der auch in dunkler zeit heitren herzens und hellen geistes bleibt.“ – In den politischen Stürmen unverschnupft, unter dem Trucke staatsbürgerlicher Lasten nicht verknubbert, bei zwanzig Grad Pannaché nicht verkältet und bei dreißig Grad Hitze unverfroren – so muß ein richtiges Berliner Kind nicht blos sein, sondern auch sind.

Der unverfrorene Berliner harrt sehnsüchtig des Tages, da sich die erste feste Kruste auf die trägen, durch und um die Residenz schleichenden Gewässer legt. Die Spree trotzt innerhalb der Stadt mit fast impertinenter Ruhe der Gewalt des Winters und läßt sich nur in besonders tyrannischen Jahren in eisige Fesseln schlagen; die Panke, ein kleines Bächlein, dessen Dasein sich weniger durch Wasser als durch böse Dünste verräth und das sich aus Melancholie – in die Spree stürzt, ist ein zu schmales Podium für den Eiskothurn; der Grüne, der Zwirn- und der Kupfergraben – und wie die Verzweigungen der Cloaca maxima von Berlin heißen – sind gar zu trübe Rinnsale und dem Berliner verhaßt wegen der himmelschreienden Sünden, durch die sie ihn während des Sommers corrumpiren und in schlechten Geruch bringen. – Draußen aber vor den Thoren bereitet der Winter die krystallenen Tanzplätze. Die kleinen Seen und Tümpel des Thiergartens laden zuerst mit schimmerndem Parquetboden die Tanzlustigen ein, während die Spree noch mit „offenen Armen“ Berlin umfängt. Die Rousseauinsel, im Sommer das heimlichste, lauschigste Plätzchen des Parks, wo der Mond sich spiegelt in wellenlosem Weiher und neugierig guckt in die dichten Ufergebüsche, wo der Philosoph einsam wandelt und sentimentale Liebespärchen durch die Laubgänge huschen – wie

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Auf dem Neuen Canale bei Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Th. Hosemann.

ist sie jetzt umschwirrt von muntrem Leben, fröhlichem Geschrei und Gelächter!

Die eigentliche Saison des unverfrorenen Berliners beginnt aber erst, wenn der Neue Canal, auch Landwehrgraben und von unsren Altvordern Schafgraben genannt, der in weitem Bogen Berlin von Ost nach West umzieht, sich geschlossen und seinen Tanzboden geöffnet hat.

Sobald die ersten dünnen Eisladungen vor den Thüren der vorsorglichen Conditoren halten, eilt die liebe schulschwänzende Jugend hinaus, um die Tragkraft des Canaleises zu proben. Welche Freude, wenn es den scharfgeschleuderten Handgranaten widersteht, wenn die Krähe sicher auf der Eisdecke schreitet und ein kühner Pudel die Mütze eines Knaben ungefährdet apportirt! Noch eine Nacht „juten jediegenen Frost“, und die rothen Zettel mit der Inschrift „Größte Eisbahn“ prangen an allen Anschlagesäulen der Stadt.

Glückliche Eispächter, glückliche Schneeschipper, die ihr lange Wochen hindurch trübselig zum trüben Himmel geblickt und den hundertjährigen Kalender verwünscht habt, der schon für den November scharfe Kälte geweissagt! – „Was nutzt mich das Eis, wenn es nicht gefroren ist?“ – Wie oft habt ihr Armen mit diesem Wehruf über die Regenwolken droben geseufzt, die schon seit Jahren euer Geschäft zu Wasser gemacht haben! Wie bebte eure Seele vor dem Gedanken, daß der große Gelehrte Recht habe, der da gesagt, die Erde bewege sich in einer Spirallinie zur Sonne, und in kurzer Zeit werde es daher weder Winter, noch Eisbahn, weder Gletscher, noch Schlittschuhe, weder Pickschlitten, noch – Gefrorenes geben! – die Angst ist von euch genommen: das Eis hält!

[134] Jetzt ist es Zeit, das Breterhaus zu zimmern und die Vorratskammer zu füllen mit den Delicatessen des Berliners, der kühlen Blonden, der Flasche Gilka’s und der Wurst des Knoblauch. Schon harrt Schneewittchen, das holde Kind, das sich während des Sommers als aufbrausende Jungfrau und Odaliske des Dönhofsplatzes ernährt, um ihr Mundschenk-Amt am Büffet anzutreten.

In wenigen Stunden ist das Werk vollbracht, die Restauration aufgeschlagen, der Vorrath an Schlittschuhen und Pickschlitten ausgekramt und die Fahne aufgehißt zum Zeichen, daß der Tanz beginnen kann. Und noch einige Stunden – und das Parquet füllt sich mit lustigen Tänzern. Bruder Studio und Mosjö Pennal sind die Ersten, ihnen folgen die Fräuleins Backfisch und Tantchen Unverzagt. Die ganze Schaar der Junggesellen, welche in der Residenz nisten, der schmeidige Commis, der sanfte Registrator, der civilisirte Fähndrich, der unentgeltliche Referendarius, sie Alle finden sich ein, um ihre Künste vor dem schönen Geschlecht zu entfalten und ihre Dienste als Schlittenschieber anzubieten. Auch der ehrsame Bürger und Ehekrüppel schnallt sich die Flügel Mercur’s an die Füße, um „Muttern“ einen galanten Liebesdienst zu erweisen. – Welch buntes Bild, welch übermüthige Scherze! – „Sehen Sie nur, Piefke, dort den Baron und dicht hinter ihm die beiden Halsabschneider! Bardauz – da liegen sie Beide!“ – „Der Baron hat sich mit seinen Gläubigern gesetzt!“ – „So ist es!“ – „Was sagen Sie zu den kleinen Rangen, die sich um die Ehre streiten, das Balg von Geheimeraths zu stoßen?“ – „Zukünftige Assessoren – angeborener Respect!“ – „Brennecke auch hier? Ich denke, der reitet blos Wechsel?“ – „Er übt sich bei Zeiten im Laufen.“ – „Aha!“ – „Potztausend, welch schmucke Polka-Prinzessin!“ – „Still, still! der Lieutenant hinter ihr könnte uns hören! ’s ist ja eine Banquierstochter aus dem orientalischen Viertel!“ – „Schwemmler, sehen Sie mal, wie propper der Rath aus dem Cultusmysterium rückwärts läuft!“ – „Janz jenau nach die Rejulative!“ – „Famöses Schneewittchen da in Bude, lieber Strudelwitz!“ – „Auf Jletscher, Kamrad, wollen Budenparade machen!“ – „Aber mein Herr!“ – ruft eine über die Schlittschuhe des Paradirenden stürzende Schöne. – „Pardon, meine Jnädige, weiß jetzt, wie jefallener Engel aussieht, auf Jletscher!“

Vor etwa fünfzehn Jahren noch wagte kein Jungfräulein Berlins den schlüpfrigen Boden zu betreten; heut gehört die holländische Sitte zum guten Ton, und selbst manch stolze Frau der Wilhelmsstraße läßt ihre Töchterchen zum Eisballe ziehn, nachdem sie ihren Jean instruirt hat, den Gnädigen nicht von den Fersen zu weichen.

Wie manche heiße Liebe ist schon auf der eisigen Bahn entflammt worden! Wie mancher Jüngling hat mit kühnen Bogen Augen und Herz einer Schönen erschwungen! – Kein Jahr, in dem nicht der Stadtklatsch neue Beiträge zur Literatur der Eisnovellen liefert, deren Inhalt stets der nämliche ist: „Arthur hatte sie noch nie gesehen. Louise ihn auch nicht. Louise war auf eine warme Stelle gekommen. Arthur zitterte, Louise brach ein. Er rettete sie – sie sahen sich in die Augen – sie liebten sich, und schon nach drei Tagen hielten sie sich fest umfaßt, liefen selbander anmuthig dahin, und Arthur recitirtc seiner Louise die Verse Herder’s:

„Wir tanzen, wir schweben auf tönendem Meer,
Auf Silberkrystallen dahin und daher;
Der Stahl ist uns Fittig, der Himmel das Dach,
Die Lüfte sind eilig und schweben uns nach.
So gleiten wir Beide mit fröhlichem Sinn
Auf eherner Tiefe des Lebens dahin.“

  1. Mitredacteur des Kladderadatsch.