Arthur Schopenhauer und die Geschichtswissenschaft

Textdaten
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Autor: Richard Fester
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Titel: Arthur Schopenhauer und die Geschichtswissenschaft
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 3 (1890), S. 48–64
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br.
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[48]
Arthur Schopenhauer und die Geschichtswissenschaft.[1]
Von
Richard Fester.


Es hat seit der Neubelebung der historischen Studien durch die Schule Leopold Ranke’s nicht an Versuchen gefehlt, der Geschichtswissenschaft neue Ziele zu stecken. Wenn auch heute noch die Mehrzahl der Historiker glaubt, sie habe Wichtigeres zu thun, als sich mit Untersuchungen über ihre Wissenschaft zu befassen, so hat doch jeder mehr oder minder umfassende in dieser Richtung angestellte Versuch alsbald zu den lebhaftesten Discussionen geführt. So ist Droysen, als Buckle durch Einführung der naturwissenschaftlichen anstatt der bewährten philologisch-historischen Methode die Geschichte überhaupt erst zum Range einer Wissenschaft erheben wollte, dem Schotten mit der ganzen Schärfe eines philosophisch weitaus geschulteren Denkens entgegengetreten, so bot noch in jüngster Zeit eine Rede Dietrich Schäfer’s, in welcher dieser für die politische Geschichte eine Lanze brach, Gothein genügenden Anlass zu einer glänzenden Ehrenrettung der Culturgeschichte. Aber selbst die Fortgeschrittensten dieser Neuerer, selbst Buckle und Dubois Reymond bestreiten wenigstens Eines nicht, dass die Geschichte eine Wissenschaft ist. Dies aber hatte schon lange vor dem Erscheinen der „History of civilisation“ der Frankfurter Philosoph [49] gethan, und so wie die These vor achtzig Jahren von ihm formulirt worden ist, hat sie bis heute keine Antwort gefunden[2]. Die Anhänger seiner Lehre könnten daher wohl, wie er von den Philosophieprofessoren, so von uns Historikern sagen, es gehe uns mit dem fatalen Satze: „Die Geschichte ist ein Wissen, keine Wissenschaft“, wie dem Magus, der beim Anblick des Teufelchen Asmodeus im Fläschchen denkt: „Ich weiss, kommst du heraus, so holst du mich[3].“ Um so mehr scheint es zumal bei der grossen Verbreitung seiner Schriften[4] angemessen, das „Galgenmännlein“ endlich einmal zu näherer Betrachtung ans Licht zu ziehen, wenn wir uns nicht des Secretirens schuldig machen wollen, welches nach Schopenhauer ein Menschenalter hindurch die Taktik der Philosophieprofessoren seinem Systeme gegenüber war. Auch ist es ja wohl eine historische Aufgabe, die Frage zu beantworten, wie der Zeitgenosse Niebuhr’s und Ranke’s zu seinen historischen Paradoxien kam, und des weiteren, wie seine Definition der Geschichte mit dem Ganzen seines Systemes zusammenhängt und von diesem gestützt wird.

Da ist es nun gleich auffallend, wie die Geschichtschreiber der Philosophie immer geschwankt haben, welche Stelle sie Schopenhauer im Entwicklungsgange der philosophischen Wissenschaft anweisen sollen. In einer Hegel’sehen Geschichtsconstruction ist allerdings für ihn kein Platz vorhanden. „Eine gewisse Nothwendigkeit, d. h. eine gesetzmässig fortschreitende Entwicklung“ hat jedoch auch Schopenhauer, wie er in seiner [50] meisterhaften Einleitung in das Studium der Philosophie ausführte, in der Geschichte derselben nicht in Abrede gestellt[5]. Nur fügt er hinzu, dass in ihr noch mehr wie in der Weltgeschichte „die Individualität derjenigen, die zur Wirksamkeit kamen, als ein zufälliges Element stark eingreift und den Gang der Philosophie wie den der Weltbegebenheiten stark modificirt“, und weist auf die Stillstände und Rückschritte in beiden hin. Diese Worte werden durch Schopenhauer’s Entwicklungsgang vollauf bestätigt. Bei keinem seiner Zeitgenossen greift das individuelle Moment mit gleicher Stärke ein.

Das Jahr 1788 kann man einen Markstein in der geistigen Entwicklung Deutschlands nennen. Damals verkündete Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ der Nation seine Lehre vom kategorischen Imperativ, damals kehrte Goethe aus Italien nach Weimar zurück und leitete jene schönheitstrunkene Zeit ein, in der Schiller die drakonische Härte des Kantischen Pflichtgebots durch Neigung zu mildern suchte[6]. Beide Elemente, das ethische wie das ästhetische, finden sich nun in seltsamer Verzerrung bei dem Philosophen, der in eben jenem Jahre 1788 dieses irdische Jammerthal betrat. Was Kant weit von sich wies, die „Fleischestödtung des Anachoreten“[7], wird bei ihm zum Kernpunkt seiner Tugendlehre, wie ihm andererseits „die schwere Verbindung“[8] von Geschmack und Genie in Folge seines masslosen Geniecultus nie glücken wollte.

Schon als Knabe kommt Schopenhauer durch weite Reisen in nähere Berührung mit dem Welttreiben, als es sonst in diesem Alter zu geschehen pflegt. Holland, England, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Oesterreich und Deutschland werden durchstreift, aber die Vergangenheit all’ dieser Länder und ihrer Völker bleibt ihm stumm[9]. Um so lebendiger treten dem heranwachsenden [51] Jüngling die Phantasiegebilde ihrer Dichter vor sein geistiges Auge und belehren ihn, noch bevor ihm „der Menschheit ganzer Jammer“ in der rauhen Wirklichkeit des Lebens aufgegangen sein kann, über „die Nichtigkeit und das Leiden dieses Lebens“. So sehen wir bereits den Achtzehnjährigen bei dem consequenten Pessimismus angelangt, gegen welchen sich der doch ganz anders vom Leben geschüttelte Verfasser der „Confessions“ bis zum letzten Athemzuge gesträubt hat, ja selbst jene vom modernen Standpunkte so hochbedeutsame Zuspitzung seiner Kunstlehre, nach welcher uns in der Musik „ein unmittelbarer Widerhall des Ewigen“ geblieben ist, wird für den genannten Zeitpunkt durch einen Brief an seine Mutter bezeugt[10]. Als er dann dem Kaufmannsstande entsagt und nach kurzer Vorbereitung 1809 die Universität bezieht, vermag Heeren’s Vortrag an seiner Grundanschauung nichts mehr zu ändern, wenn schon er auf dessen Empfehlung hin J. von Müller’s „vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichte“ liest[11]. Mit der im Sommer 1813 erschienenen Dissertation „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ legt er den Grundstein seines 1819 vollendeten, später nur ergänzten Lehrgebäudes. Das Zeitalter der Befreiungskriege aber, in welches der Ausbau seines Systemes fallt, gewinnt ihm nur ein gleichsam ästhetisches Interesse ab. Damals hat sich in ihm die Ueberzeugung befestigt, dass es im Wesentlichen einerlei ist, „ob ein böses Gemüth sich abspiegele als ein Welteroberer, oder als ein Gauner oder hämischer Egoist“[12]. Denn Bonaparte ist ihm lediglich „ein gewaltiger Spiegel des Willens zum Leben“, das mit seinem Namen verknüpfte Unheil dagegen muss ihm zum Beweise dienen für den namenlosen Jammer, den jener Wille im Gefolge hat[13]. Wie er sich aber in seiner gelassenen Betrachtung der Dinge dem alten Goethe nähert, so entfernt er sich wiederum von diesem, wenn er den Handelnden selbst die ästhetische Gerechtigkeit versagt und diejenigen schmäht, welche von der grossen [52] Zeit ergriffen, auch ohne von der Natur dazu bestimmt zu sein, das Schwert zur Hand nehmen[14]. Hier trennen sich seine Wege von denen unseres grössten Dichters, der dem hochgeschätzten jungen Manne in sein Stammbuch die ahnungsvollen Worte schrieb: „Willst du dich deines Werthes freuen, – So musst der Welt du Werth verleihen.“

Mit dem Jahre 1819 sind wir auch am Endpunkte der Entwicklung angelangt. Alles später Erschienene dient nach dem eigensten Geständnisse des 1860 gestorbenen Philosophen nur zur Ergänzung seiner ein für allemal feststehenden Lehre, und „auf die Entstehungsgeschichte des Systems folgt“, wie Rudolf Haym in seiner unerreichten, wissenschaftlichen Widerlegung der Schopenhauer’schen Lehre bemerkt, „die Krankheitsgeschichte desselben“[15]. Wie Schopenhauer’s Philosophie allmählich aus den heterogensten Elementen zu der in der „Welt als Wille und Vorstellung“ niedergelegten Lehre zusammengewachsen ist, wie seine Dissertation erst schwache Spuren der späteren Lehre zeigt, nach welcher wir im Willen das Ansich der Dinge zu sehen haben, dies alles hat Haym auf eine so gründliche und überzeugende Weise dargethan, dass wir hier nur auf ihn verweisen können. Dagegen wird man den Pessimismus, der gleichsam den Grundbass seiner Philosophie bildet, nach den oben citirten Briefen seiner Mutter jetzt noch weiter zurückdatiren müssen. Es ist dies aber nicht mehr der Pessimismus des 18. Jahrhunderts, welcher sich bald pathetisch wie in Rousseau’s „Diskurs über die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen“, bald satirisch wie in Voltaire’s „Candide“ geäussert hatte. Es ist vielmehr jene eigentümliche Mischung beider Elemente, wie sie gleichzeitig in Lord Byron’s Werken zu dichterischem Ausdrucke gelangt. Schopenhauer hat sich gelegentlich selbst, als man ihm Widersprüche nachweisen wollte, „den consequentesten und einheitlichsten aller Philosophen“ genannt[16], und wir würden ihm gern beistimmen, wenn er nur das Wort „Pessimisten“ an die Stelle von „Philosophen“ gesetzt hätte. Denn dem Vereinsamten blieben die „unverwüstliche [53] Heiterkeit des Sinnes“ wie der „weltverschönernde Blick“, worin er die vornehmsten Eigenschaften sah, um von vielen geliebt zu werden, zeitlebens versagt[17]. Unbegreiflich musste es ihm daher erscheinen, dass Rousseau allen Ausfällen gegen unsere Culturverhältnisse zum Trotz gegen Voltaire die unbegrenzte Güte der Naturabsicht vertheidigte, und die Lehre des Genfers von einem verlorenen Paradiese, wie die Zukunftsträume anderer Philosophen dünkten ihm in gleichem Masse verächtlich, während die allegorische Wahrheit des Mythos vom Sündenfall ihn allein mit dem alten Testamente aussöhnte. Dagegen lehrt uns die im Christenthume so tief erfasste Nichtigkeit alles Daseins, dass das Menschenleben schliesslich nur den Stoff zu Tragödien oder Komödien darbiete[18], und in der Durchführung dieses niederschlagenden Gedankens lässt uns die durchaus in ästhetischen Grundanschauungen wurzelnde Philosophie Schopenhauer’s, die man eine Elegie grossen Styles nennen möchte, die Erlösung von dem Joche des Willens zum Leben in der göttlichen Kunst finden, wenn wir nicht bis zur Weltentsagung der Anachoreten und indischen Büsser vordringen. So endet seine unleugbar atheistische Lehre[19] mit dem rettenden Glauben an die Gottheit des Genies[20] und die Heiligkeit des Asketen, wodurch er seine Geistesverwandtschaft mit der Romantischen Schule bei aller Polemik gegen die Fratzen dieser Richtung erweist. Wir werden danach mit der Vermuthung nicht irre gehen, dass auch [54] für seine Anschauung vom Wesen der Geschichte hauptsächlich ästhetische Gesichtspunkte den Ausschlag geben.

Als ein hervorragendes Verdienst muss es nun da bezeichnet werden, dass er das Problem des Verhältnisses von Freiheit und Nothwendigkeit, in welchem die tiefsten Räthsel geschichtlichen Lebens wurzeln, auf das Gründlichste untersucht. Er thut dies in der preisgekrönten Abhandlung über die Freiheit des menschlichen Willens[21], vielleicht dem Besten, was er geschrieben hat. Voraussetzung derselben ist freilich seine Willenstheorie. Im Krystall wie in der Pflanze, im Thiere wie im Menschen erkennt Schopenhauer als treibendes Element ein Gemeinsames, den Willen, der seiner Potentialität nach bald Natur, bald Lebenskraft oder Wille im engeren Sinne des Wortes genannt zu werden pflegt. Man hat nun mit Recht darauf hingewiesen, dass diese Behauptung besten Falls metaphorische Geltung hat[22], und in der That erinnert das, was Schopenhauer „über den Willen in der Natur“ vorträgt, lebhaft an das schöne poetische Glaubensbekenntniss der Naturphilosophie[23]. Auf diesen Willen aber, als den mehr oder minder starken Lebensodem aller Objecte der organischen [55] wie der anorganischen Natur wirkt der Satz vom Grunde, welchem die ganze Welt der Erscheinung unterworfen ist, in der Weise ein, dass er sich bei dem anorganischen Körper als Ursache im engsten Wortsinne, bei Pflanze und Thier als Reiz, bei dem Menschen jedoch als Motivation äussert[24]. Von Freiheit kann sonach nur beim Menschen die Rede sein; denn er allein ist sich vermöge des Selbstbewusstseins seines Willens bewusst. Dabei kommt nicht in Betracht die physische Freiheit; denn sie ist stets vorhanden, wo keine materiellen Hindernisse unserem Handeln im Wege stehen[25]. Es kommt ferner nicht in Betracht die intellectuelle Freiheit; denn diese ist bei normalem Zustande des Erkenntnissvermögens gegeben[26]. Ist der Mensch frei, so ist er es in moralischer Hinsicht, indem alsdann sein Wille durch nichts bestimmt ausserhalb des Satzes vom Grunde oder der Nothwendigkeit steht[27]. Nun hat schon Kant auf das Bündigste erwiesen, dass jede That des empirischen Menschen „das nothwendige Product seines Charakters und des eingetretenen Motives ist“[28], wofür auch die unbelebte Natur ein Analogon bietet in der Aeusserung, welche durch eine Ursache der allgemeinen Naturkraft abgenöthigt wird. Verantwortlichkeit kann daher dem Menschen nur dann zugemuthet werden, wenn sein Charakter seine eigne That ist[29]. Dies hatte Kant behauptet, indem er aus dem unauslöschlichen Gefühl der Verantwortlichkeit in unserer Brust auf ein dem empirischen Charakter des Menschen Uebergeordnetes schloss und dem von ihm sogenannten intelligibelen[30] Charakter des Menschen die Freiheit wahrte, die er für den empirischen Menschen, d. h. den Menschen, wie er in die Erscheinung tritt, bestreiten musste. Dagegen will nun Schopenhauer nicht „durch Hineinziehen des Gewissens in das Selbstbewusstsein die Frage auf den Boden der Moral hinüberspielen“[31], und glaubt die Frage [56] vielmehr in der Weise zu lösen, dass er den Willen als das Ding an sich in dem intelligibelen Charakter Kant’s wiederfindet und ausserhalb des Causalitätsgesetzes stellt[32]. Da jedoch dieses Ding an sich seiner Potentialität nach auch blosse Lebenskraft sein kann, so vernähme man gern, warum die Freiheit als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“, nun gerade die moralische Freiheit sein muss. Das Räthsel löst sich aber sofort, wenn wir uns noch einmal Schopenhauer’s Methode transcendentaler[WS 1] Betrachtung vergegenwärtigen.

Angenommen, wir könnten alle Phänomene auf ihre Ursachen zurückführen, so bliebe doch immer die Grundursache für die ganze Reihe der Phänomene unerklärt[33], und zwar so lange, als wir uns auf das Begreifen beschränken und unser Blick nur an der Erscheinungswelt haftet. Bei allen Wissenschaften ist dies der Fall. Zu dem Wesen der Dinge dringen allein durch das Genie des Künstlers und die Philosophie, welche demnach strenggenommen keine Wissenschaft, sondern ein der Kunst Verwandtes ist[34]. Wie den Künstler sein Genius, so leitet dabei den Philosophen „das bessere Bewusstsein“[35].

In dieser Schärfe hat Schopenhauer jedoch seine Gedanken nur in den Studien zu seinem Hauptwerke ausgeprägt. Wenn er in diesen die Wissenschaften noch als die eigentliche Domäne des vernünftigen Normalmenschen bezeichnet, so kann nach seiner späteren Ansicht beispielsweise auch der Historiker die Pfade [57] des Genius wandeln, sobald er uns nämlich in der Geschichte das Wesen der Menschheit aufdeckt[36]. Doch fügt er sofort hinzu, dass dies nur ein Ausnahmefall sein dürfe. Denn der Historiker hat sich stets an die Erscheinungswelt zu halten und darf demgemäss nie von der strengen Verknüpfung von Ursache und Wirkung absehen. Was ohne Wirkung geblieben ist, steht ausserhalb seiner Sphäre und die Idee kommt desshalb nach ihrer inneren Bedeutsamkeit bei dem Dichter zu reinerer Entfaltung.

In einem Punkte hat Schopenhauer gewiss Recht. Es ist die Achillesferse des Historikers, dass er die Ursachen festgestellter Wirkungen niemals restlos nachzuweisen vermag, wohingegen der Dichter von seinem erhabenen Standpunkte aus selbst das Wunder begreiflich macht. Aber diese Schwäche, die gerade für unsere Wissenschaft so charakteristisch sein soll, haftet ja, wie wir eben erst gehört haben, allen Versuchen an, die sich auf das Begreifen beschränken. Und wenn wir mit dem alten Faust des Glaubens leben, dass die Spur der Erdentage eines wirklich bedeutenden Menschenlebens „nicht in Aeonen untergehen“ werde, so huldigt Schopenhauer dem entgegengesetzten Glauben und erinnert durch seine Declamationen über einflusslos gebliebene Handlungen hervorragender Individuen nur an den Denker, der Jahrzehnte lang vergeblich auf die Anerkennung der Mitwelt gewartet hat.

Das Hauptergebniss der bisherigen Ausführungen scheint mir aber zu sein, dass die Grundprincipien der Schopenhauer’schen Lehre zwar zu einem Gegensatze zwischen Philosophie und Wissenschaft führen, dass hingegen eine Ausstossung der Geschichte aus der Reihe der Wissenschaften keineswegs mit Nothwendigkeit daraus folgt. Um so unwiderleglicher folgt sie seiner Meinung nach aus seiner Definition des Begriffes Wissenschaft. Diese ist nämlich diejenige Form der Erkenntniss, welche vom Allgemeinen auf das Besondere schliesst, so zwar dass sie das Besondere dem Allgemeinen subordinirt. Da nun Schopenhauer das Allgemeine der Geschichte in dem ganz und gar willkürlichen Schematismus der Hauptperioden sieht, Begriffe wie Gattung, Volk, Staat, Cultur jedoch völlig unbeachtet lässt, so hat er natürlich leichtes Spiel, die Subordination des Besonderen [58] unter das Allgemeine hinsichtlich der Geschichte in Abrede zu stellen[37]. Denn die einzelnen Geschehnisse sind ja dem Begriffe nach den Perioden coordinirt. Wir dürfen mithin nur von einem Wissen, nicht von einer Wissenschaft der Geschichte reden. Gleichwohl haben wir alle Ursache, dieses Wissen nicht zu unterschätzen, insofern uns allein die Geschichte auf den Begriff Menschheit führt. „Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte“, d. h. sie ist das vernünftige Selbstbewusstsein desselben, so zu sagen die Gattungsvernunft[38]. Nur wenige Seiten vor der zuletzt angeführten Stelle[39] hatte der Philosoph freilich noch gelehrt, dass die Geschichte von Individuen, die Wissenschaften dagegen von Gattungen reden. Denn diese haben es mit dem zu thun, „was immer ist“, jene mit dem, „was nur einmal und dann nicht mehr ist“, wobei es uns nicht stören darf, dass die Devise der Geschichte an anderer Stelle „Eadem sed aliter“ lautet[40].

So viel erhellt wohl aus alledem, dass sich Schopenhauer nie die Frage vorgelegt hat, wodurch ein Factum zu einem historischen Vorgange, oder wie Droysen sich ausdrückt[41], „wie aus [59] den Geschäften Geschichte wird“. Aber dürfen wir von ihm Klarheit in diesen Dingen verlangen, wo er doch mit sich über den Begriff der Wissenschaft so wenig im Reinen ist? Nach dem Dinge an sich, so heisst es das eine Mal, fragt allein die Philosophie, welche mit den Wissenschaften nichts zu thun hat. Dennoch beschäftigen sich diese mit dem, „was immer ist“, woraus sich mit Nothwendigkeit die u. a. von Schelling gezogene Folgerung ergibt, dass wir streng genommen nur von Einer Wissenschaft, der Philosophie reden dürfen. Wenn nun Schopenhauer trotzdem die Existenz von Naturwissenschaften behauptet, welche sich also mit dem immer Seienden in der Natur zu beschäftigen hätten, so setzt er damit doch eigentlich eine todte, starre Materie an die Stelle der lebendigen, sich ununterbrochen neu gestaltenden Natur, die Entwicklung, welche unter das eiserne Joch des Causalitätsgesetzes gebeugt und in den apriorischen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit vorstellbar wird, fällt alsdann nicht mehr in den Bereich wissenschaftlicher Untersuchung. Und wenn er schliesslich der Geschichte insbesondere einen Vorwurf daraus macht, dass sie in Folge der Unerschöpflichkeit des Individuellen und Einzelnen „von jedem neuen Tage, in seiner Alltäglichkeit, sich das lehren lassen müsse, was sie noch gar nicht wusste“, so vergisst er, dass auch die Natur, der Erdball, das Sonnensystem eine Zukunft haben, deren Dunkel bei allen Fortschritten der Naturwissenschaften wohl nie ganz gelichtet werden wird, der Schüler Kant’s vergisst vor allem, dass ja auch die Zukunft jedes Einzelindividuums und des weiteren selbst der Gattung sich im Voraus berechnen liesse, falls nur das aus Charakter und Motiven hervorgehende Product, welches unsere Handlungen sind, auflösbar wäre[42]. Soll aber eine Wissenschaft unter allen Umständen die Dinge auf ihre letzte empirische Wurzel zurückführen können, so wird sich freilich die Geschichte in noch höherem Grade als die Naturwissenschaften [60] für immer begnügen müssen, nur ein Wissen zu sein.

Der Inhalt dieses Wissens aber ist „nur der lange und verworrene Traum der Menschheit“. Hatte noch Kant die Frage nach einem Fortschritt zum Besseren in der Menschengeschichte schliesslich bejahen müssen[43], so hält Schopenhauer in dieser schlechtesten aller Welten allein eine intellectuelle Vervollkommnung für möglich, „da das Moralische im Wesentlichen unverändert bleibt“[44]. Auch Kant’s Lehre vom Antagonismus der Kräfte schimmert in dem durch, was er seine „Teleologie der Moral“ genannt hat[45] und wie jener glaubt auch er, dass es ohne die natürlichen oder von Menschen hervorgebrachten Uebel keine Tugend auf Erden gebe, aber auch – und hier hören wir nur den ästhetischen Philosophen – kein Trauerspiel. Doch ist hier abermals ein Widerspruch nicht nur mit Kant, sondern auch mit seiner eigenen Lehre zu constatiren. In Gemässheit seiner Freiheitslehre ist nämlich ein Fortschreiten hinsichtlich der Moral, da der Charakter als die Sphäre des Wollens als constant angenommen wird, nur durch Berichtigung der Erkenntniss möglich[46], welche eine Läuterung der Motive zur Folge haben kann. Indem aber derart gereinigte Motive den Willen nach einer anderen moralisch besseren Richtung hinlenken, führt intellectuelle Vervollkommnung mittelbar auch zu erhöhter Moralität.

Am auffallendsten tritt der zuletzt berührte Widerspruch in seiner „Rechtslehre“ zu Tage. Hier ereifert er sich namentlich gegen Kant, weil dieser im Staate eine Anstalt zur Beförderung der Moralität sehe. Aber ist es nicht dasselbe, wenn Kant Legalität als die Vorstufe der Moralität hinstellt, oder wenn Schopenhauer behauptet, dass der Staat, falls er nur seinen Zweck, die Verhütung der nachtheiligen Folgen des Egoismus, vollständig erreiche, auf diesem Wege „dieselbe Erscheinung hervorbringen werde, als wenn vollkommene Gerechtigkeit der Gesinnung allgemein [61] herrschte?“ Meint er etwas anderes als die Kantische Legalität, wenn er in seiner drastischen Weise den Bürger dieses Idealstsaates dem Raubthiere vergleicht, das „mit einem Maulkorb so unschädlich ist, wie ein grasfressendes Thier“? Sein Unterschied von Kant ist auch hier im Grunde nur eine Folge seines Pessimismus. Denn hinter den Uebeln, welche dieser Staat beseitigen würde, sieht er, darin einem verzogenen Kinde, das durch nichts zufriedengestellt werden kann, vergleichbar, alsbald die Langeweile des Schlaraffenlandes auf die arme Menschheit lauern[47]. Der Staatsvertrag wird erst dann eine Wahrheit, wenn sich alle „den Schmerz des Unrechtleidens dadurch ersparen, dass sie dem durch das Unrechtthun zu erlangenden Genuss entsagen“. Solange jedoch dieses Problem zu keiner reinen Lösung gekommen ist, nehmen wir an allen Staaten eine Tendenz entweder zur Anarchie oder zur Despotie wahr, zu dieser bei den Monarchien, zu jener bei den Republiken, während der Mittelweg der constitutionellen Monarchie zur Herrschaft der Factionen tendirt. So sehr nun auch Schopenhauer überzeugt ist, dass auf Erden nicht das Recht, sondern die Gewalt herrsche, von welcher man nur wünschen könne, dass sie mit dem Rechte verbunden sei, so hebt er doch immer wieder die monarchische Regierungsform als die dem Menschen natürliche hervor[48]. Der niedrige Utilitarianismus, welcher zum Schaden von Künsten und Wissenschaften in den Vereinigten Staaten, als der grössten Republik unserer Zeit, herrscht[49], empört seinen vornehmen Sinn, aber auch er verkennt nicht, dass die zur grösseren Hälfte aus Sklaven bestehende Bevölkerung Bedingung der in Künsten und Wissenschaften blühenden Republiken des Alterthums war. Fügen wir noch hinzu, dass seine Republik des Plato in einer Despotie der Weisen und Edlen einer Nation bestünde, „erzielt auf dem Wege der Generation, durch Vermählung der edelmüthigsten Männer mit den klügsten und geistreichsten Weibern“, so haben wir die Hauptzüge seiner „Politik“ wiedergegeben[50].

[62] Wie in das zuletzt Mitgetheilte seine Theorie oder besser gesagt Marotte von der Erblichkeit der Eigenschaften hineinspielt, als wonach wir den Charakter vom Vater, von der Mutter aber den Intellect überkommen, so krankt die ganze „Rechtslehre und Politik“ an einer bei einem Philosophen schier unglaublichen Subjectivität, für welche wohl nichts bezeichnender ist, als seine einseitige Charakteristik des amerikanischen Wesens. Wüssten wir nicht hinlänglich, wie gering Schopenhauer von dem Werthe des Studiums der Geschichte dachte[51], derartige Sätze würden allein beweisen, dass er sich nicht viel damit befasst hat. Die Vorlesungen, die er als Student bei Heeren und Wolf gehört hat[52], waren überhaupt wohl die letzte Berührung mit einer Disciplin, deren Unzuverlässigkeit er durch ein cynisches Gleichniss veranschaulicht hat[53]. So finden wir bei ihm kein Anzeichen einer Bekanntschaft mit Niebuhr, mit dem sich doch der um achtzehn Jahre ältere Hegel, wenn auch polemisch, auseinandergesetzt hat; kein Wort seiner Schriften und Briefe deutet auf Kenntniss der Schriften Ranke’s und seiner Schule hin[54]. Wenn er dennoch der Weltgeschichte eine Einwirkung auf den [63] Philosophen zusprach, insofern gerade sie es ihm möglich mache, „seine Individualität auszubilden, zu entfalten, zu benutzen, nicht nur für sich, sondern auch für andere“[55], so wirft das allerdings ein eigenthümliches Licht auf eine Lehre, die uns keinen besseren Rath weiss, als die Weltflucht.

Wie sehr ihm aber der historische Sinn abging, das beweist, wie schon öfter hervorgehoben worden ist, seine Gleichstellung der Lehre Kant’s, Platon’s und der Upanischaden, das beweist vor allem seine autodidactische, unkritische Citirmethode, für welche ultramontane Geschichtsklitterungen unserer Zeit ein lehrreiches Analogon darbieten. Denn begegnen wir bei ihm auch keiner Ungeheuerlichkeit, wie es die Urvolkhypothese Fichte’s, Schelling’s und ihrer Nachfolger ist, so scheut er doch nicht vor der Behauptung zurück, dass die ersten Menschen schwarz gewesen seien, wesshalb auch die ältesten Madonnenbilder diese Farbe trügen[56], er zögert nicht, Indra, Ormuzd und Jehova, ferner Wodan und Buddha zu identificiren[57], er entdeckt frischweg im Buddhaismus und Christenthum nicht bloss ideelle, sondern auch historische Verwandtschaft[58], und wenn er seine Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben durch Beispiele belegen will, so gelten ihm die aus irgend einer Englischen Zeitung geschöpften Notizen über die erbauliche Rede eines Verbrechers auf dem Schafott als vollwerthige Zeugnisse seiner Theorie[59]. Nicht mit Unrecht hat ihn daher ein geistreicher Franzose[60] den letzten aus der Generation der Voltaire, Diderot, Helvetius und Chamfort genannt. In historischen Dingen wenigstens steht er noch ganz auf dem Boden des Rationalismus. Und doch nannten wir ihn einen Geistesverwandten der Romantiker? Die Wahrheit ist, dass er mit diesen nur den masslosen Cultus des Genies theilt, die vertiefte Anschauung der Geschichte, als die segensreichste ihrer Bestrebungen, ihm dagegen versagt blieb. In Kant’s Kritik der Urtheilskraft fand er wohl den Satz, dass die Wissenschaften als ein Lehrbares, Nachzuahmendes nicht zu dem Gebiete des [64] Genius gehören. Da musste dem sich genialisch dünkenden jungen Manne die Philosophie nothwendig zur Kunst werden. So nur konnte es kommen, dass der Begeistertste aller Kantianer sich in einem Netze von Widersprüchen gefangen hat.

Zunächst bekennt sich ja seine Lehre ganz und gar zu den Grundsätzen des Kriticismus. Sie fragt daher nicht, wozu die Welt da sei, sie fragt lediglich, was die Welt ist, mit einem Worte: seine Philosophie ist „eine vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstracten Begriffen“[61]. Damit aber hat sich der Philosoph nach Haym’s treffender Bemerkung[62] die Möglichkeit genommen, an irgend einer Stelle den Kreis zu durchbrechen, den er mit dem Satze „die Welt ist Vorstellung“ um alles Sein gezogen hat. Um so mehr musste er sich also auf die Erscheinungswelt hingewiesen sehen, d. h. neben dem Studium der Naturwissenschaften, dem er in der That fleissig obgelegen hat, vor allem auf das der Geschichte. Sein Pessimismus hat jedoch, statt durch die Geschichte eine Correctur zu erfahren, frühzeitig die Anschauung von dem Wesen derselben verfälscht. So wie er Kant’s Lehre weiter entwickelt hat, gehört er durchaus, so sehr er sich auch dagegen verwahren mochte, in die idealistische mit den Namen Fichte’s, Schelling’s und Hegel’s bezeichnete Reihe als letzter bedeutender Vertreter derselben. Und wenn er in bewusstem Gegensatze zu den Letztgenannten Philosophie und Geschichte einander aufs schroffste gegenüberstellte[63], so handelte er in dem richtigen Instincte, dass der nachkantische Idealismus durch die erstarkenden Einzeldisciplinen seinen Todesstoss empfangen werde. Die Bewunderung die man dem tiefen, dem vielseitigen Denker, vor allem dem wundervollen, classischen Prosaisten nie versagen wird, schwindet jedoch dahin, sobald wir eine Prüfung der Solidität seines Lehrgebäudes unternehmen. Denn es ist nicht anders: die Paradoxie, das süsse Vorrecht des Dichters, beherrscht durchaus sein wissenschaftliches Bewusstsein und hat sein Streben mit dem Fluche des Dilettantismus belastet.



Anmerkungen

  1. Der Kern dieses Aufsatzes ist Theil einer „Rousseau und die Deutsche Geschichtsphilosophie“ betitelten Schrift, welche im Laufe des Jahres bei der G. J. Göschen’schen Verlagshandlung in Stuttgart erscheinen wird.
  2. Vgl. F. Laban, Die Schopenh. Literatur. Versuch einer chronolog. Uebersicht derselben. Leipzig 1880. Nur Schopenhauer’s „Erzevangelist“ J. Frauenstädt hat 1867 unser Thema in vermittelndem Sinne behandelt unter dem Titel „Schopenhauer’s Geschichtsphilosophie“ im „Deutschen Museum“, hrsg. von Prutz u. Frenzel S. 673–81, 718–25. In der Einleitung zu Sch.’s Werken Bd. I, S. 23 entschuldigt er Sch. damit, dass er nur die alte, unwissenschaftliche Geschichtschreibung, nicht aber die neue, wissenschaftliche eines Buckle gekannt habe!
  3. E. O. Lindner u. J. Frauenstädt, A. Schopenhauer. Von ihm. Ueber ihn. Memorabilien, Briefe u. Nachlassstücke. Berlin 1863, S. 487 in einem Briefe an F. vom 11. Juni 1848. Das Buch im Folgenden als „Memorab.“ citirt.
  4. „Die Welt als Wille u. Vorstellung“ und die „Parerga und Paralipomena“ liegen bereits in 6. Aufl. vor, die bei jener mit der 4., bei diesen mit der 3. Aufl. identisch ist. Leider war mir die 1. Aufl. der „Welt“ u. s. w. von 1819 zum Vergleiche nicht zugänglich.
  5. Als Bruchstück der einmaligen Berliner Vorlesung (S. S. 1820) veröffentlicht Memorab. 743.
  6. Schiller, Anmuth u. Würde. Bd. 10, 100 der hist. krit. Ausgabe.
  7. Anthropologie, Werke (Schubert-Rosenkranz) VII, 2, 209.
  8. Vgl. das so betitelte Schiller’sche Epigramm.
  9. Am 4. Aug. 1803 schreibt seine Mutter an den in einer Pension zu Wimbledon bei London Befindlichen: „Du bist nun fünfzehn Jahre alt, du hast schon die besten Deutschen, Französischen und z. Th. auch Englischen Dichter gelesen und studirt, und doch, ausser den Schulstunden, kein einziges Buch in Prosa, einige Romane ausgenommen, keine Geschichte, nichts, als was du etwa lesen musstest, um bei Herrn Runge [dem Vorsteher eines Hamb. Institutes] zu bestehen“, s. Gwinner, Schopenhauer’s Leben. 2. Aufl. Leipz. 1878, S. 23.
  10. Gwinner S. 46–52.
  11. Gwinner S. 101.
  12. Memorab. 730.
  13. Ebenda 304. Dresdener Aufzeichnung von 1814.
  14. Brief s. Mutter vom April 1814, bei Gwinner 134.
  15. R. Haym, A. Schop. Preuss. Jabrbb. 1864. Bd. 14, S. 45–91; 179–243. Auch separat erschienen.
  16. Mem. 695–6, an Frauenst. Frankfurt 11. Juli 1856.
  17. Memorab. S. 257.
  18. Welt als Wille etc. 2, 657; 666–72.
  19. Vgl. ausser den einschlägigen Capiteln s. Schriften Memorab. 246; 463 ff. u. 239 die Randbemerkung zu einem bei Schleiermacher nachgeschriebenen Collegienhefte: „Keiner, der religiös ist, gelangt zur Philosophie, er braucht sie nicht. Keiner, der wirklich Philosoph ist, ist religiös: er geht ohne Gängelband, gefährlich, aber frey.“ In seinem Hass auf den „Judengott“, der in allen möglichen Variationen wiederkehrt, kann er den Voltaireschüler nicht verleugnen. Schon bei seinem Röm. Aufenthalte 1819 liebt er es, die Deutsche Colonie im Café Greco mit den Worten zu reizen: „Das Beste an den Deutschen ist noch, dass sie überhaupt keine Religion mehr haben“, vgl. Cornill, J. v. Passavant. Neujahrsblatt des Frankfurter Vereins f. Geschichte u. s. w. 1864, S. 67.
  20. Frauenstädt, Deutsch. Mus. 1867, S. 677 (Dresden 1814): „Die Philosophie ist so lange vergeblich versucht, weil man sie auf dem Wege der Wissenschaft, statt auf dem der Kunst suchte.“
  21. Die beiden Grundprobleme der Ethik. 1839. Ich citire nach der 2. Aufl. Leipz. 1860.
  22. Dies thun Trendelenburg u. Haym, vgl. bei letzterem S. 66: „Das wechselseitige Vertauschen des generellen Begriffs der Kraft u. des speciellen Begriffs Wille, dieses Vexirspiel mit dem Wort Wille – in Verbindung mit dem Vexirbegriff des Dings an sich – dies allein macht es Schopenhauer möglich, auf der einen Seite den menschlichen Willen und mit ihm die ganze Ethik zu naturalisiren, auf der anderen Seite die Natur phantastisch-poetisch zu anthropomorphosiren“. Wenn dagegen Frauenstädt in der Einl. zu Sch.’s Werke Bd. I, S. L einwendet, dass bei allen Gemeinbegriffen, also in unserem Falle auch bei dem Begriff Wille, nach Abzug der specifischen Artunterschiede nur das all diesen Artunterschieden „gemeinsame Wesentliche übrig gelassen“ werde, so bestreiten ja eben Trendelenburg u. Haym dieses „gemeinsame Wesentliche“ in allen Naturobjecten, sie bestreiten vor allem, dass wir durch das Selbstbewusstsein auf den Willen im weiteren Sinne geführt werden. Zum mindesten musste Sch. für den Willen, zum Unterschied von dem menschlichen Willen, einen besonderen Terminus prägen.
  23. Das „Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporsten’s“. Aus Schelling’s Leben, Bd. 1 vgl. bes. die auch von Treitschke, Deutsche Gesch. 2, 83 citirte Stelle: „Vom ersten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguss der höchsten Lebenssäfte ist eine Kraft, ein Wechselspiel u. Weben, ein Trieb u. Drang nach immer höh’rem Leben.“
  24. Grundprobleme S. 29.
  25. l. c. S. 4.
  26. l. c. S. 5 u. 98 fg.
  27. l. c. S. 8.
  28. l. c. S. 56. Die Hauptstelle bei Kant, Kritik d. r. V. S. 577 der 2. Aufl. S. 392 der Erdmann’schen Ausg.
  29. l. c. S. 73.
  30. Kant, K. d. r. V. S. 566 der 2. Aufl. (Erdmann S. 385): „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel.“
  31. Grundprobleme S. 10.
  32. l. c. S. 96–7.
  33. Welt a. W. I, § 17, vergl. Deutsch. Mus. a. a. O. S. 679.
  34. Vgl. oben S. 53 Anm. 4. Ferner Memorab. 718 „Der Philosoph vergesse nie, dass er eine Kunst treibt und keine Wissenschaft“. Ebenda 719, 714 u. 247.
  35. Dieses in den Studien zur Welt a. W. häufig begegnende Vermögen identificirt Frauenst. Mem. S. 245 mit der „Verneinung des Willens zum Leben“, während es doch besten Falls nur das zu jener Verneinung führende Bewusstsein bezeichnen kann! Schopenh. selbst hat die Verwandtschaft desselben mit Schelling’s „intellectualer Anschauung“ gefühlt; denn er sagt in den Anmerkungen zu Schelling’s „Philosophie und Religion“, (aus A. Sch.’s handschriftl. Nachlass: Abhandlungen u. s. w., hrsg. v. Frauenst. Leipz. 1864, S. 230): „Schelling’s intellektuale Anschauung ist doch etwas Anderes, als das bessere Bewusstseyn, das ich dem Menschen zuspreche. Denn der Leser soll sie immer gegenwärtig erhalten, und das kann man nur einen Verstandesbegriff: was ich meyne, ist ausserzeitlich und steht nicht in unserer Willkühr nach Begriffen.“
  36. W. a. W. I, 288.
  37. W. a. W. I, 74–5. Das Verhältniss der genannten Begriffe liesse sich etwa in folgender Figur darstellen.
  38. W. a. W. II, 508 fg.
  39. l. c. 502.
  40. W. a. W. II, 505–8. Vgl. I, 33–4, wo wegen des Gegensatzes von Wissenschaft u. Philosophie erklärt wird, dass alle Wissenschaft nie in das innerste Wesen der Welt treffe und im Grunde nichts weiter lehre als das Verhältniss einer Vorstellung zur anderen.
  41. Grundriss der Historik. 2. Aufl. S. 5 „macht den Kaufcontract, der heute zwischen Privaten abgeschlossen wird, ein Jahrtausend zu einer geschichtlichen Urkunde?“ Eine Frage, auf welche allerdings manche moderne Publication die Antwort schuldig bleiben dürfte.
  42. K. d. r. V. 2. Aufl., S. 577 fg. (Erdmann 392): „Alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung [sind] aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit Vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten.“
  43. Streit der Facultäten (1798). 2. Abschnitt, 6. S. 142 ff. der 1. Ausg.
  44. W. a. W. II, 506.
  45. Memorab. 736: Zur Beförderung der menschlichen Moralität diene u. a. „das ganze Verhältniss der Natur zu den Bedürfnissen des Menschen, wohin auch die Nothwendigkeit der Collission der Menschen untereinander gehört“.
  46. Grundprobleme S. 52.
  47. W. a. W. I, 407–14. Memorab. 736 n. 302.
  48. W. a. W. I, 406. Parerga II, 270.
  49. Viel unverblümter heisst es in den „Aphorismen“ (Aus Sch.’s. Nachlass S. 385): „Der eigentliche Charakter der Nordamerikaner ist Gemeinheit: sie zeigt sich an ihnen in allen Formen, als moralische, intellectuelle, ästhetische und gesellige Gemeinheit.“
  50. Parerga II, 272 fg., vgl. W. a. W. II, 624.
  51. Memorab. 301.
  52. Ebenda 232. Er hörte bei Heeren 1809/10 Staatengesch. S. S. 1810 Gesch. d. Kreuzzüge. S. S. 1811 Ethnographie b. Heeren. Reichsgesch. b. Lüder. In Berlin: 1812/13 Griech. Alterthümer b. Wolf.
  53. Parerga II, 480.
  54. Was er ebenda 481–2 über die neuere kritische Geschichtsforschung bemerkt, ist viel zu allgemein gehalten, als dass man daraus auf histor. Studien schliessen dürfte. Da ist nun eine neuere Publication von E. Grisebach, Edita u. Inedita Schopenhaueriana, Lpzg. 1888, wenigstens in einem Punkte von Interesse. Grisebach hätte sein in typographischer Beziehung hervorragendes Buch auch einen Beitrag zum Schopenhauercultus nennen können. Denn aus den hier veröffentlichten Randglossen, die jedesmal in der Sprache des betreffenden Buches abgefasst sind, ersieht man nur, dass Schopenhauer das Wort Esel in allen Sprachen geläufig war. Aber wir finden hier auch einen Katalog der Schopenhauer’schen von Gwinner verkauften Bibliothek, der nach dem Bär’schen Auctionskatalog angefertigt, zwar nicht vollständig ist, aber doch weitaus den grössten Theil derselben enthält. Mag es da nun eine Folge der Unvollständigkeit sein, dass wir keinen Thukydides u. Polybios finden, so stimmt es auffallend, dass seine Bibliothek an historischen Werken nur Indica, von neueren Deutschen Historikern aber nur J. v. Müller’s ihm von Heeren anempfohlene allgemeine Geschichte enthält. Auf der Frankfurter Stadtbibliothek aber war der Philosoph, der seinen Bedarf an Büchern sich anzuschaffen pflegte, ein seltener Gast.
  55. Memorab. 744.
  56. W. a. W. II, 627. Parerga II, 168 fg.
  57. W. a. W. II, 716 fg. Parerga II, 405 ff.; 433.
  58. Parerga II, 410 ff.; 415.
  59. W. a. W. II, 726 fg.
  60. Foucher de Careil, Hegel et Schopenh.: Paris 1862. S. 176. „Heureux ceux qui ont entendu ce dernier des causeurs de la génération du dixhuitième siècle.“
  61. W. a. W. I, 99.
  62. Preuss. Jbb. a. a. O. S. 56.
  63. Aus Sch.’s Nachlass S. 306. Wegen des Gegensatzes „zwischen Philosophie und Geschichte haben Philosophen und Historiker nie einander hochgeschätzt“. Uebrigens weist er selbst doch auf Leibniz und, was ihm wohl unangenehmer war, auch auf Hume als Ausnahmen jener Regel hin.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: transscendentaler