Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Zweiter Teil
In Uebereinstimmung mit Eurer Excellenz telegraphischen Instruktionen vom 7. März kam ich hier am 10. März an. Die schrecklichen Ereignisse, welche während der zwei letzten Monate von 1895 stattgefunden, hängen noch wie eine dunkle Wolke über der Stadt, und das armenische Quartier insbesondere bietet trotz der Bemühung der letzten zehn Wochen, die Spuren des Unglücks hinwegzuräumen, noch den Anblick einer Stadt, welche zerstört und verwüstet wurde durch ein Strafgericht, schrecklicher als Krieg und Eroberung. Die Läden mit zerbrochenen Fenstern und Thüren standen leer und verlassen. Thatsächlich nicht ein einziges männliches Wesen war zu sehen, und nur wenige zerlumpte und schlecht genährte Kinder und Frauen mit dem Ausdruck des Schreckens auf ihren Gesichtern sah man umherschleichen, offenbar, um sich die nötigsten Lebensbedürfnisse, trockenes Brot und dürftiges Zeug zusammenzusuchen.
Gerüchte von weiteren Massacres an dem bevorstehenden Bairam-Fest gingen um, und die muhammedanische Bevölkerung, ermutigt dadurch, daß sie die vorigen Massacres ungestraft hatte begehen können, drohte öffentlich, mit den armenischen Christen während der Bairam-Feiertage reinen Tisch zu machen. Vor dem 25. Dezember 1895 betrug die Bevölkerung in Urfa nahezu 65 000, von denen etwa 20 000 Armenier, 3000 oder 4000 Jakobiten, Chaldäer, syrische Katholiken, griechische Katholiken, Maroniten und Juden waren und die übrigen 40 000 türkische, kurdische und arabische Muhammedaner.
Wie Euer Excellenz wissen, haben zwei Massacres in Urfa stattgefunden, das erste am 28. und 29. Oktober, und das zweite oder große Massacre am 28. und 29. Dezember desselben Jahres. Die Ursachen, welche zu diesen Massacres führten, sind entferntere und näher liegende.
Die Haltung der türkischen Regierung in der armenischen Frage war seit dem letzten russisch-türkischen Krieg darauf angelegt, mit einer solchen furchtbaren Katastrophe zu endigen, wie sie kürzlich über das armenische Volk und die Regierung des Sultans hereinbrach. Seit 12 oder 15 Jahren hat der Widerstand der letzteren gegen die Ausführung der in den Verträgen für die armenischen Provinzen versprochenen Reformen eine Anzahl Armenier zur Verzweiflung getrieben, so daß sie ihre Zuflucht zu revolutionären Plänen nahmen. Anstatt zwischen den Schuldigen und Unschuldigen zu unterscheiden, zogen es die ottomanischen Beamten vor, teils aus Unwissenheit, größtenteils aber aus Beweggründen persönlichen pekuniären Vorteils, alle Armenier als Verräter anzusehen, die nichts anderes im Sinn hätten, als das ottomanische Joch abzuwerfen. Wie es gewöhnlich im Orient geht, wenn die Central-Regierung sich derselben Meinung angeschlossen hat, wurde die Thatsache förmlicher Auflehnung einzelner Armenier verworren und begraben in einer Masse von aufgebauschten Beschuldigungen, vorgeblichen aufrührerischen Dokumenten und imaginären Berichten mit Listen von revolutionären Komitees, die von allen Seiten regneten, sobald von der Central-Regierung ein dahingehender Wunsch empfunden wurde. Türkische Beamte und einflußreiche Muhammedaner brachten solche Vorstellungen in verbrecherischer Weise unter die unwissende und urteilslose Masse der muhammedanischen Bevölkerung, die sich in ihrer allgemeinen Handlungsweise durch die Vorschriften des Scheri-Gesetzes leiten ließ. Dieses Gesetz schreibt vor, daß, wenn die Rayahs (Christen) versuchen, bei fremden Mächten Schutz (Dekhalet) zu suchen, die Grenzen ihrer Privilegien (Berat), die ihnen von ihren muhammedanischen Herren gesteckt sind, zu überschreiten, und sich selbst aus ihrer Gebundenheit zu befreien, ihr Leben und Eigentum verwirkt ist, und sie der Gnade der Muhammedaner verfallen sind. Nach der Meinung der Türken haben die Armenier durch Anrufung der fremden Mächte versucht, diese Grenze zu überschreiten. Sie hielten es deshalb für ihre religiöse Pflicht und für eine gerechte Sache, das Leben der Armenier zu vernichten und ihr Eigentum an sich zu reißen.
Durch das eben Gesagte wurde, so befremdlich es sein mag, in der That Ueberzeugung und Gewissen der Muhammedaner bestimmt und aufgeregt, als im letzten September die Demonstration in Konstantinopel stattfand.
Ich habe mit aller Sorgfalt erforscht, welchen Umfang etwa die revolutionäre Propaganda in Urfa gehabt hat, und bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß, wenn auch ein großes Maß, meines Erachtens wohlbegründeter Unzufriedenheit unter den Armeniern darüber herrscht, daß sie in den letzten Jahren ebenso wie ihre Brüder in Anatolien thatsächlich als außerhalb des Gesetzes stehend behandelt wurden, förmliche Ungesetzlichkeiten von ihrer Seite nur in sehr geringem Maße vorgekommen sind.
Armenische geheime Gesellschaften in Europa haben, wie ja bekannt ist, den Versuch gemacht, Explosivstoffe, Gewehre und revolutionäre Litteratur in der Gegend von Aleppo einzuführen, aber ihr Erfolg in Urfa ist ein außerordentlich geringer gewesen. Es scheint, daß sie einige revolutionäre Pamphlete eingeschmuggelt haben, aber weder Gewehre noch Explosivstoffe.
Urfa übrigens fällt nicht unter den geographischen Begriff von Armenien, gehört vielmehr zu Mesopotamien oder Arabistan. So war der Stand der Dinge in Urfa, als unmittelbar nach der armenischen Demonstration in Konstantinopel, wie es scheint, hier von der Central-Regierung Ordre einlief, des Inhalts, daß, sollten die Armenier irgend einen Versuch machen, Unruhen hervorzurufen, diese sofort aufs strengste unterdrückt werden sollten, und daß, im Falle sie Widerstand leisteten, ihnen eine furchtbare Lektion (terbiyye shedide) zuteil werden sollte. Die Central-Regierung hätte wissen sollen, welche verhängnisvollen Konsequenzen im Blick auf die feindseligen Gefühle der Muhammedaner gegen die Armenier solche Instruktionen sicherlich in den Provinzen haben mußten, und eine große Verantwortlichkeit lastet auf ihr, dieselben gesandt zu haben.
Die Muhammedaner hier und anderswo interpretierten dieselben als den Wunsch des Souveräns, daß die Vorschriften des Scheri-Gesetzes in Ausführung gebracht werden sollten, und daß man sich daran machen solle, Leben und Eigentum der rebellischen armenischen Rayahs zu nehmen. Die Demonstration in Konstantinopel wurde von den Beamten als ein Versuch der Armenier, die Hohe Pforte zu stürmen, dargestellt; Gerüchte drangen hierher von armenischen Massacres, die in anderen Städten Anatoliens durch ihre Glaubensgenosten stattgefunden hatten. Man erzählte, die Armenier hätten Moscheen angegriffen, Dynamit gebraucht, und von ihren muhammedanischen Brüdern in Städten, wo Massacres stattgefunden hatten, kamen Berichte, welche dazu aufforderten, ihre Pflicht als Moslems zu thun. Ueberdies begann die Regierung, Waffen und Patronen an die Zaptiehs und andere Wachtmannschaften auszuteilen und ließ die armenischen Quartiere abpatrouillieren.
Ich muß noch hinzufügen, daß die telegraphischen Nachrichten von der Annahme der Reform den Muhammedanern so ausgelegt wurden, als ob sie den Armeniern Autonomie gewährten, eine Auslegung, welche von den Beamten der Regierung herrühren mußte, und welche einen verhängnisvollen Einfluß auf die Gefühle der Moslems gegen die Armenier hatte. Während so die Empfindung der Muhammedaner in Urfa aufgeregt war, ereignete sich ein Umstand, welcher den Stein ins Rollen brachte. Ich muß etwas ins Detail gehen, weil es sich um den meist umstrittenen Punkt, um die Veranlassung des umfangreichsten unter den neueren armenischen Massacres handelt. Ein Muhammedaner Ismael Birijikli kaufte von einem armenischen Geldwechsler, genannt Bogos, eine Anzahl Gahzis, alte Goldmünzen, die von den eingeborenen Frauen als Schmuck benutzt werden, und als er etwas langsam mit der Zahlung war, kam der Armenier Bogos Sonnabend, den 26. Oktober 1895, in das Haus des Muhammedaners, um sein Geld zu fordern. Der letztere, offenbar aufgebracht über das Kommen des Armeniers in sein Privathaus, um ihn wegen des Geldes zu drängen, wies den Geldwechsler rundweg ab, schickte ihn fort und sagte, er würde ihn morgen sehen.
Am folgenden Tage, Sonntag, den 27. Oktober, kam der Muhammedaner, treu seinem Wort, mit einigen Kameraden in Bogos’ Haus, und da man ihm sagte, daß der letztere aus sei, machte er sich auf, um ihn in den Straßen zu suchen. Er fand ihn nahe der armenischen Kathedrale in dem armenischen Quartier und schlug ihn mit einem Schlage tot nieder. Da es Sonntag war, befand sich eine große Zahl von Armeniern in der Nähe der Kathedrale. Sie ergriffen sofort den Muhammedaner und lieferten ihn den Zaptiehs des benachbarten Wachhauses aus.
Die türkische Version von dem, was folgt, ist, daß die Armenier das Wachhaus angegriffen hätten und den Muhammedaner ermordeten, während die Armenier erklären, sie wären, als sie bemerkten, daß die Zaptiehs den muhammedanischen Mörder entschlüpfen lassen wollten, auf das Wachhaus eingedrungen, um darauf zu bestehen, daß die Zaptiehs entweder den Mörder ihnen aushändigten, damit sie ihn auf das Regierungshaus brächten, oder daß sie (die Armenier) die Zaptiehs und ihren Gefangenen zur Regierung begleiten wollten. Als die Zaptiehs sie natürlich abwiesen und die Armenier auseinander zu treiben versuchten, entstand ein Handgemenge, in welchem der Gefangene ernstlich verwundet wurde. Er starb auf dem Wege, während die Zaptiehs ihn in das Regierungshaus brachten. Dort wurde ein armenischer Arzt, genannt Melkon, von dem Major der Gendarmerie gerufen, um einen ärztlichen Bericht zu geben, und dieser erklärte, daß die Wunden, an denen der Mann gestorben, von Zaptieh-Bajonetten herrührten. Es ist festgestellt, daß der Major den armenischen Doktor mit dem Tode bedrohte, wenn er erklären würde, daß die Wunden Bajonettwunden seien. Melkon flüchtete sich in ein muhammedanisches Haus, wurde aber am folgenden Tage von dem Major und einer Menge von Menschen ausfindig gemacht. Er wurde weggeschleppt, von dem Major erschossen, und sein Leichnam von der Gefolgschaft desselben herausbefördert. Dieser wurde dann mit jeder Art von Entwürdigung durch die Straßen geschleift, in Stücke zerrissen und in eine Grube geworfen.
Die Erregung unter den Muhammedanern und die Besorgnis unter den Armeniern war Sonntag Nacht, den 27. Oktober, in der Nacht, die auf den Tod des Muhammedaners folgte, sehr groß und einige Armenier wachten während derselben in ihrem Quartier in Erwartung eines Angriffes. Sie begegneten einer türkischen Patrouille, und Schüsse wurden abgefeuert. Die Armenier sagen, daß, als einer von der türkischen Patrouille die Armenier anrief, die letzteren entflohen, und daß auf sie von den Zaptiehs geschossen wurde, während die türkische Version ist, daß eine mit Martinigewehren bewaffnete Bande von Armeniern die Patrouille angegriffen habe.
Da von den türkischen Behörden nach der Demonstration von Konstantinopel das Stichwort „Angriff der Armenier“ ausgegeben wurde, und die stereotype, offizielle Version von dem Ursprung der meisten Massacres „Angriff der Armenier auf Moscheen während des Freitagsgebetes“ lautete, muß obiger offizieller Bericht inbetreff der Patrouille mit der größten Reserve, wenn nicht mit Unglauben ausgenommen werden. Es ist überdies sonderbar, daß die Patrouille, die von den Armeniern angegriffen sein soll, in keiner Weise verletzt oder verwundet wurde, und daß es ihnen nicht gelungen sein sollte, einen von den armenischen Angreifern zu arretieren. Ich will noch eine andere armenische Version erwähnen, daß die Attacke von einer Bande als Armenier verkleideter Türken gemacht worden sei, mit dem Zweck, einen Vorwand zum Massacre zu geben.
Die wenigen Armenier, die am folgenden Morgen sich in den Bazar wagten, kamen alsbald zurückgelaufen, die meisten von ihnen verwundet und mit Blut überströmt. Es folgte ihnen ein bewaffneter muhammedanischer Pöbel, der das armenische Quartier angriff mit dem Rufe: „Tod den Ungläubigen!“
Als die Armenier, von denen der größere Teil zu Haus geblieben war, sahen, daß es die Muhammedaner auf ein allgemeines Massacre abgesehen hatten, leisteten sie an den Haupteingängen ihres Quartiers entschiedenen Widerstand und zwangen endlich den Pöbel, sich mit einem Verlust von 4 oder 5 Muhammedanern zurückzuziehen, während von ihnen selbst 27 getötet wurden.
Der Pöbel, der seine Absicht in dieser Beziehung vereitelt sah, richtete sein Augenmerk auf die Plünderung. 700 armenische Laden und 190 armenische Häuser wurden vollständig ausgeplündert und zerstört.
Die Schnelligkeit, mit der obige Ereignisse eines dem andern folgte, läßt auf einen zuvor bedachten Plan schließen, und es ist festgestellt, daß ein gewisser muhammedanischer Notabler von Urfa, Hussein Pascha, der später nach Aleppo versetzt wurde, der Hauptanstifter war, und daß der oben erwähnte Birijikli, der ein armer Mann und nicht in der Lage war, eine große Zahl von Gahzi-Goldmünzen zu kaufen, in dem Aufträge Hussein Paschas handelte, mit der Absicht, die Armenier zu einem offenen Akt der Gewaltthätigkeit gegen einen Muhammedaner zu treiben. Man muß hinzunehmen, daß erlogene Berichte von Vergewaltigungen türkischer Frauen durch Armenier in Anatolien unter die muhammedanische Bevölkerung ausgestreut wurden, und es scheint unwahrscheinlich, daß ein allgemeiner Angriff und Massacre der Armenier während der einen Nacht, Sonntag, den 27. Oktober, geplant worden wäre.
Nach dem Montag, an dem die Muhammedaner zurückgeschlagen waren, wurden alle Armenier, die außerhalb des armenischen Quartiers in oder vor der Stadt wohnten, angegriffen, attackiert und die Männer erschlagen. Das Quartier wurde belagert und niemandem herauszugehen gestattet. Die Wasserleitung wurde abgeschnitten, und keinerlei Nahrungsmittel wurden hereingelassen. Dieser Zustand der Belagerung dauerte thatsächlich 2 Monate, bis zum 28. Dezember, dem Datum des letzten großen Massacres.
Der armenische Bischof wünschte, die Lage Seiner Majestät dem Sultan telegraphisch mitzuteilen, aber die Behörden verweigerten die Absendung seines Telegramms. In der Verzweiflung über die hoffnungslose Lage seiner Herde zog er sich in sein Kloster außerhalb der Stadt zurück, wo er bis zum zweiten Massacre als Gefangener blieb. Kein Armenier, nicht einmal sein Sekretär, erhielt Erlaubnis, mit ihm zu sprechen, es sei denn auf türkisch und in Gegenwart von Wachen.
In der Nacht des Montags sandten die Armenier im Blick auf ihre verzweifelte Lage, da Post und Telegraph ihnen verschlossen war, einen Boten nach Aintab, um ihre Lage bekannt zu machen und Hilfe zu erhalten. Der Bote wurde indessen arretiert und ist jetzt in Urfa im Gefängnis unter der schweren Anklage, sich durch seinen Dienst einer aufrührerischen Handlung schuldig gemacht zu haben. Ein anderer Bote, der in der Nacht des folgenden Mittwoch abgesandt wurde, erlitt dasselbe Schicksal.
Dienstag, den 29. Oktober, fuhr der Pöbel fort, die Außenbezirke des armenischen Quartiers zu plündern, wobei er von den Zaptiehs unterstützt wurde, die auf und über die armenischen Quartiere feuerten. Nachträglich wurde es von Muhammedanern so dargestellt, als hätten die Armenier auf die Türken geschossen. Mittwoch, den 30. Oktober, langte der Mutessarif Hassan Pascha von Surruj an, wo er etwa 10 Tage gewesen war. Ueber 1000 Muhammedaner, von denen sich die meisten an dem Angriff und der Plünderung der vorigen Tage beteiligt hatten, wurden als Reserve einberufen, und die Regierung forderte die Armenier auf, ihre Waffen auszuliefern, insbesondere 1800 Martinigewehre, die sie von auswärts erhalten haben sollten, indem versprochen wurde, daß nachher auch die Muhammedaner entwaffnet werden würden. Die Armenier erwiderten, daß sie keine solchen Martinigewehre hätten, und daß sie kein Vertrauen hätten zu ihren muhammedanischen Mitbürgern, da diese der angreifende Teil gewesen und erklärt hätten, die Regierung des Sultans habe die Ausrottung aller Armenier angeordnet, daß sie folglich die Waffen, die sie hätten, nicht ausliefern könnten, es sei denn, daß zuvor die Muhammedaner entwaffnet würden. Die Regierung bestand trotzdem darauf, die Armenier zuerst zu entwaffnen, indem sie dieselben wissen ließ, daß sie auf keinerlei Schutz hoffen könnten, es sei denn, daß sie ihre Martinigewehre ausgeliefert hätten.
Die eben einberufene Reserve wurde in das armenische Quartier verteilt, nominell zu ihrem Schutz; aber sie hörten nicht auf, den Armeniern zu erzählen, daß ihre Ausrottung von der Regierung beschlossen sei. Sie erpreßten hohe Summen Geldes und Wertsachen von ihnen, mit dem Versprechen, sie zu schützen und zuletzt eröffneten sie ihnen, daß nur diejenigen, die Muhammedaner würden, am Leben bleiben könnten. Alle, die den Islam annehmen wollten, sollten eine weiße Flagge auf ihren Dächern aufziehen. Die Armenier, in äußerster Verzweiflung, wurden en masse Moslems, und Donnerstag Nacht wehten unzählige weiße Fahnen auf dem Quartier der Christen. Die Regierung aber weigerte sich, ihren Uebertritt offiziell anzuerkennen und fuhr fort, die Auslieferung der Waffen zu fordern.
Um diese Zeit wurde ein Schriftstück des Inhalts, daß die Armenier das Wachhaus angegriffen, auf dasselbe gefeuert und Muhammedaner und Zaptiehs getötet, auch den Regierungstruppen mit modernen Feuerwaffen Widerstand geleistet hätten, bei den Häuptern der verschiedenen Konfessionen, sogar bei einigen Fremden zur Unterzeichnung vorgelegt. Dieses Schriftstück wurde mutmaßlich an die Central-Regierung nach Konstantinopel geschickt. Am 12. Oktober wurden 15 hervorragende Armenier auf das Regierungshaus bestellt. Dort wurden sie gefragt, was die rebellische Haltung bedeuten solle; sie sollten sofort 1800 Martinigewehre und 100 Revolver ausliefern und außerdem 10 Männer, die ausgewählt waren aus einer Liste von 120, die Sonntag, den 27. Oktober, das Wachhaus angegriffen haben sollten, und der Kommandeur der Truppen, Nazis Pascha, sprach sich zornig gegen sie aus, daß er im Jahre 1876 in Bulgarien gewesen sei und wisse, wie man rebellische Rajahs behandeln müsse.
Die Armenier lieferten sofort die 16 geforderten Leute aus und machten, indem sie leugneten, Martinigewehre zu haben, das Anerbieten, alle anderen in ihrem Besitz befindlichen Waffen zu sammeln und abzugeben, was sie auch gleich in Angriff nahmen. Die Unterhandlung wegen der Uebergabe der Waffen dauerte einige Wochen, da die Regierung, nachdem sie die gewöhnlichen Waffen von den Armeniern ausgeliefert erhalten hatte, immer wieder aufs neue die Herausgabe der Martinigewehre forderte und sogar den Armeniern zu verstehen gab, daß, wenn sie keine Gewehre hätten, sie doch Geld hätten, um sich welche zu verschaffen. Die letzteren kauften in der That Revolver und andere Waffen von befreundeten Türken und anderen Christen, um sie der Regierung auszuliefern, und in der Verzweiflung versuchten sie die unaufhörlichen Nachfragen nach modernen Waffen zum Schweigen zu bringen, indem sie dem Mutessarif, dem Kommandeur Nazis Pascha und anderen Muhammedanern große Summen Geldes gaben und auch versuchten, ihre sogenannten Beschützer, die Reserve, in ähnlicher Weise zufriedenzustellen.
Am 30. November hatten sie 240 Stück Waffen, meist alte Gewehre, Pistolen, Dolche etc. und einige 15 Revolver. Am selben Tage bat die Missionarin Miß Shattuck, wie ich erwähnen will, um Erlaubnis und um eine Eskorte zu dem Weg nach Aintab, eine Erlaubnis, die ihr erst am 28. Dezember, eine Stunde vor dem letzten großen Massacre, gegeben wurde.
Am 1. Dezember griff der Pöbel aufs neue das armenische Quartier an und feuerte auf dasselbe. Er wurde aber von der Regierung zurückgehalten. Am 3. Dezember waren 600 Waffen aller Art ausgeliefert worden; aber der Mutessarif und der Kommandeur erneuerten immer noch ihre Forderungen. Die Armenier erfuhren nun alle Schrecken einer regelrechten Belagerung. Obwohl sie ihre Wächter bestochen hatten um unter dem Vorwande, daß es für die Soldaten bestimmt sei, ihnen Nahrungsmittel zu bringen, obwohl sie alte Quellen geöffnet hatten, die seit vielen Jahren verschüttet waren, ging ihnen doch Provision und Wasservorrat aus, und Lasttiere, die mehrere Pfund wert waren, wurden für ebenso viele Schillinge hingegeben.
Zu dieser Zeit beschlossen sie, einen verzweifelten Versuch zu machen, um sich mit Aleppo in Verbindung zu setzen. Nachdem sie einen Bericht über ihre Lage auf ein Stück Stoff geschrieben hatten, nähten sie es in das Futter eines der langen Gewänder, die in dieser Gegend getragen werden, zogen es einem armenischen Bauer an, der nicht darnach aussah, als ob er die Aufmerksamkeit oder Begehrlichkeit der umherstreifenden Kurden auf sich ziehen würde und sandten ihn bei Nacht auf einem wenig frequentierten Wege nach Aleppo mit dem Versprechen hoher Belohnung im Falle des Gelingens. Aber auch dieser Bote wurde aufgefangen und des Gewandes beraubt, das die Botschaft trug.
Am 13. Dezember ordnete der Kommandeur der Truppen unter dem Vorwand, daß die Ruhe vollständig wieder hergestellt sei, an, daß die wenigen Armenier, deren Geschäftslokale, Bäckereien u. s. w. noch benutzbar wären, in die Stadt kommen und ihre Arbeit wieder aufnehmen sollten. Als sie es thaten, wurden sie angegriffen und verwundet und flohen in ihre Quartiere zurück. Der Kommandeur zwang sie wiederum, an ihre Arbeit zu gehen, und unter Bewachung von Kavallerie mußten die Armenier unter so ungewöhnlichen beängstigenden Bedingungen ihre Geschäfte besorgen. Die Regierung zwang sodann 25 hervorragende Armenier, ein Telegramm nach Konstantinopel zu unterzeichnen, des Inhalts, daß der Friede durch das unruhige Betragen einiger Armenier gestört gewesen sei, aber infolge der Bemühungen der Lokalbehörden nun die Ruhe wieder völlig hergestellt worden wäre. Während der folgenden Woche jedoch, obwohl die Behörden den Armeniern versicherten, daß sie nichts zu fürchten hätten, und daß die Regierung sich jetzt daran machen würde, die Muhammedaner zu entwaffnen (die Armenier hatten bis jetzt einschließlich von Revolvern und eines Martinigewehres 1200 Waffen jeder Art abgeliefert, von denen eine große Zahl gekauft wurde, um die Forderungen der Behörden zufriedenzustellen), gingen doch Gerüchte um von einem drohenden furchtbaren Massacre, denn freundlich gesinnte Türken ließen den Armeniern sagen, auf ihrer Hut zu sein, und den nicht armenischen Christen wurde geraten, aus Vorsicht einen schwarzen Turban zu tragen.
Endlich Sonnabend, den 28. Dezember, kam ein Gendarmerie-Hauptmann zu Miß Shattuck, um sie zu benachrichtigen, daß sie nach Aintab abreisen könne, da alles ruhig sei. Darauf ging er zur Kathedrale, wo die armenische Nationalversammlung ihre Sitzung hielt, und eben eine Mitteilung an den Mutessarif gesandt hatte, die ihn auf die Ursache ihrer Besorgnis aufmerksam machte und um Schutz bat. Der Hauptmann gab ihnen vonseiten der Regierung die Versicherung, daß keine Unruhe stattfinden würde. Kaum jedoch hatte er das Gebäude verlassen, als der Sturm losbrach, und das allgemeine Massacre des 28. und 29. Dezember begann. Am Sonnabend Morgen hatte der Kommandeur der Truppen den nicht armenischen Christen sagen lassen, sie sollten sich in ihren Kirchen versammeln, dieselben nicht verlassen und unter keiner Bedingung auch nur einem einzigen Armenier Zuflucht gewähren.
Das Militär mit einiger berittener Polizei hatte sich auf einem Hügel aufgestellt, an dessen Abhang das armenische Quartier gebaut ist, und drängte sich an die Hauptausgänge des Quartiers. Hinter ihnen stand der bewaffnete Pöbel, während die Minarets mit Muhammedanern dicht besetzt waren, offenbar in Erwartung eines bevorstehenden Ereignisses; auch die türkischen Frauen drängten sich auf den Dächern und Abhängen der Festung, die das armenische Quartier überragt. Zwischen 11 und 12 Uhr ergoß sich ein Strom von bewaffneten Muhammedanern in derselben Richtung, angefeuert von ihren Frauen, die das wohlbekannte „Zilghit“, einen besonderen Kehllaut ausstießen, der bei solchen Gelegenheiten von orientalischen Frauen gebraucht wird, um ihre Tapfern zu ermutigen. Gegen Mittag gab der Muezzin das Mittagsgebet nur von einem Minaret, und alle anderen Minarets blieben still; von der Spitze der Festung, die an einer Seite das armenische Quartier überragt, wurde mit einem glitzernden Glas in Gestalt eines Halbmondes ein Zeichen gegeben, während von einem Minaret auf der anderen Seite des Quartiers ein Mollah eine grüne Fahne schwenkte.
Wenige Schüsse wurden abgefeuert, und mit einem Trompetensignal aus den Reihen der Soldaten wurde zum Angriff geblasen. Man sah, wie die Soldaten ihre Reihen öffneten und dem Pöbel hinter ihnen erlaubten, nach vorn zu kommen. Sodann stürzten sich die Soldaten und der Pöbel auf das armenische Quartier und begannen eine allgemeine Niedermetzelung aller Männer über einem gewissen Alter.
In dem Augenblick, als die erwähnten Schüsse abgefeuert wurden, sah man den Kommandeur Nazis Pascha sich zurückziehen mit einer Geste, die die Menge ermunterte. Es wurde später bekannt, daß, als die ersten Schüsse fielen, er ausrief: „Eine Martini-Kugel hat soeben meinen Kopf gestreift; die Armenier schießen auf mich. Geht hin und zahlt es ihnen heim!“ während mir durch gute muhammedanische Zeugen versichert wurde, daß die erwähnten Schüsse nicht von Armeniern, sondern von Moslems abgefeuert wurden.
Die Reservetruppen, die das armenische Quartier gut kannten, unter welchem sie die beiden vorhergehenden Monate Wache gestanden hatten, dienten sowohl als Führer als auch als Avantgarde und wurden begleitet von einem Trupp von Waldarbeitern von den benachbarten Bergen, mit der Axt in der Hand. Die letzteren brachen die Thüren ein, worauf die Soldaten hineinstürmten, indem sie ihre Martini-Gewehre auf die armenischen Männer abfeuerten, von denen sie einen gewissen Widerstand erwarteten. Diese hatten jedoch alle ihre Waffen abgegeben und konnten in ihrer schrecklichen Lage nichts anders thun, als in äußerster Angst um ihrer Frauen und ihrer Kinder und um des Propheten Jesu willen um Gnade bitten. Mit Schimpfworten wurden sie einer nach dem andern aus ihren Verstecken hervorgezogen und brutal abgeschlachtet. In vielen Fällen hatten sich 15 bis 20 Mann in den größeren Häusern, die mehr Schutz zu gewähren schienen, versammelt. Sie wurden einer nach dem andern herausbefördert und von den Mördern schleunigst umgebracht. In dem Hause, welches dem des protestantischen Pastors benachbart ist (dieser selbst wurde erschlagen und ließ sechs Waisen zurück), wo ich während meines Aufenthaltes hier abgestiegen bin, wurden auf diese Weise 40 Männer erschlagen. Ein gewisser Scheikh befahl seinem Gefolge, so viel als möglich kräftige, junge armenische Leute zusammenzubringen. Diese wurden, ungefähr 100 an der Zahl, auf ihren Rücken geworfen, an Händen und Füßen festgehalten, während der Scheikh in einer Verbindung von Fanatismus und Grausamkeit sich daran machte, indem er Koranverse rezitierte, ihre Hälse durchzuschneiden nach dem Ritus, mit dem man in Mekka die Schafe schlachtet.
Viele armenische Männer versteckten sich in der Tiefe von Cisternen in der Hoffnung, ihren Verfolgern zu entrinnen. Aber die letzteren warfen Krüge und Steine hinunter, schossen mit Revolvern hinab warfen mit Petroleum getränkte Matten, an die sie Feuer legten, in die Gruben. In vielen Fällen wurden Frauen und Mädchen, die es versuchten, ihre Verwandten zu schützen, erbarmungslos niedergeschlagen.
Wenn in einem Haus alle Männer getötet waren, machte sich der Pöbel daran, in äußerst sorgfältiger Weise die Plünderung vorzunehmen. Dann gossen sie Kerosin aus, verbrannten Korn, Gerste, Holzwerk und alles, was sie nicht wegschleppen konnten, indem sie nur die leeren Mauern zurückließen. Während dieser von Haus zu Haus gehenden Schlächterei hielt ein beständiges Feuer an von dem Gipfel des Hügels über dem Quartier auf alle Armenier, die über die Dächer zu entrinnen suchten. Gegen Sonnenuntergang wie zu Mittag wurde wiederum eine Trompete geblasen, und der Pöbel sistierte sofort seine Arbeit mit Ausnahme einiger Strolche, die mit der Plünderung fortfuhren.
Am folgenden Tage, Sonntag, den 29. Dezember, wurde die Trompete in aller Frühe geblasen und das Massacre wieder aufgenommen. Große Scharen, die am Sonnabend nicht am Angriff teilgenommen hatten, weil sie Widerstand von seiten der Armenier befürchteten, schlossen sich nun dem Pöbel an. Die scheußliche Schlächterei des vorigen Tages wurde bis zum Mittag fortgesetzt, wo der Brand der armenischen Kathedrale stattfand, ein Akt, der an teuflischer Barbarei alles überstieg, was an Schreckensereignissen in den langen armenischen Massacres vorgekommen ist, und für den die Annalen der Geschichte wenig oder gar keine Parallelen bieten.
Sonnabend Nacht flüchteten sich Massen von armenischen Männern, Frauen und Kindern in diese herrliche Kathedrale, die mehr als 8000 Menschen faßt, und der Priester verwaltete das Sakrament, das letzte, das stattfand, und wie eine Notiz an einem der Pfeiler der Kirche angiebt, an 1800 Seelen ausgeteilt wurde. Diese blieben über Nacht in der Kathedrale und wurden am Sonntag durch viele Hunderte vermehrt, die hofften, daß der Schutz des heiligen Gebäudes sie vor den Gewaltthätigkeiten selbst eines fanatischen mohammedanischen Pöbels erretten würde. Man nimmt an, daß zuletzt 3000 Personen in der Kirche versammelt waren, als der Pöbel diese angriff.
Zuerst feuerten sie durch die Fenster hinein, sodann brachen sie die eisernen Thüren ein und machten sich daran, alle, die sich im Schiff der Kirche befanden, meist Männer, abzuschlachten. Nachdem sie diese abgethan und einige junge Frauen beiseite gebracht hatten, plünderten sie den Kirchenschatz, die Schreine und heiligen Gerate im Werte von etwa 4000 türk. Pfd., zerstörten die Gemälde und Reliquien, indem sie höhnisch Christus anriefen, er möge nun beweisen, daß er ein größerer Prophet sei als Muhammed. Eine mächtige, teils aus Stein, teils aus Holz gearbeitete Empore, die rings um den Oberteil der Kathedrale lief, war vollgepackt mit einer Masse von entsetzten Frauen und Kindern mit nur einigen Männern. Etliche vom Pöbel sprangen auf die erhöhte Plattform des Altars und begannen auf dieselben mit Revolvern zu schießen. Als aber dieser Prozeß zu langwierig wurde, besannen sie sich auf die praktische Methode, die angewendet worden war bei denjenigen, die sich in die Cisternen geflüchtet hatten. Sie brachten einen Haufen von Betten und Kirchenmatten zusammen, gossen einige dreißig Kannen Kerosin darauf, sowie auch auf die im Schiff liegenden Leichen und zündeten dann das Ganze an. Die Balken und das Holzwerk der Emporen fingen bald Feuer, worauf noch die zu den Emporen hinaufführenden Treppen mit gleichem Brennmaterial blockiert, und sodann die ganze sich windende Menschenmasse als eine Beute der Flammen zurückgelassen wurde. Mehrere Stunden lang erfüllte der Geruch von bratendem Menschenfleisch die Stadt, und noch heute, 2½ Monate nach dem Massacre, ist der Geruch faulender und verkohlter Ueberbleibsel in der Kirche unerträglich. Halb 4 Uhr nachmittags zur Stunde des Akindi-Namaz-Gebetes wurde wiederum die Trompete geblasen, und der Pöbel zog vom armenischen Quartier ab. Kurz darauf machten der Mufti und andere Notable unter Vorantritt von Musik, bei der sich viele Blechinstrumente des Militärs befanden, eine Prozession rund um das Quartier, indem sie verkündeten, das Massacre sei nun zu Ende („paydoss“), und sie würden keinen Christen mehr töten. Die nächsten drei Tage beschäftigte man sich damit, die Leichname wegzubringen, indem zu diesem Zweck von den Behörden die Juden und die Esel requiriert wurden. Den Christen wurde nicht erlaubt, die Kirche zu betreten, die jetzt eine Ruine ist. Die Aufräumung der Trümmer wurde durch das Militär besorgt, welches, wie man berichtet, große Mengen von geschmolzenem Gold und Wertsachen auffand, die die Armenier an sich versteckt hatten in der vergeblichen Hoffnung, daß die Kathedrale als ein Heiligtum angesehen werden würde.
Das Massacre war ausschließlich anti-armenisch; kein Unterschied wurde gemacht zwischen Gregorianern, Protestanten und römischen Katholiken. Die Kirche der letzteren wurde völlig geplündert. Von 300 jakobitischen Familien wurden nur 40 Personen und außerdem ein griechischer Katholik getötet. Zwei oder drei Chaldäer wurden noch verwundet. Die Gründlichkeit, mit der die Arbeit gethan wurde, kann man aus der Thatsache ersehen, daß 126 armenische Familien vollständig ausgerottet wurden, nicht ein Weib noch Kind ist von denselben übrig geblieben. Die Zahl der in dem Massacre getöteten Armenier zu berechnen, ist schwer; die offiziellen türkischen Register der früheren armenischen Bevölkerung und der jetzt übergebliebenen sind völlig unzuverlässig, da eine große Zahl, um der Besteuerung zu entgehen, nicht registriert waren, während einige unoffizielle türkische Schätzungen der armenischen Verluste die von den Armeniern selbst gegebenen weit überschreiten und offenbar übertrieben sind. Nach einer sehr sorgfältigen und mühevollen Untersuchung glaube ich, daß nahezu achttausend Armenier an den zwei Massacre-Tagen des 28. und 29. Dezember umgekommen sind, von denen 2500 bis 3000 in der Kathedrale getötet oder verbrannt waren. Ich würde aber nicht überrascht sein, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, daß die Zahl von 9 oder 10 000 mehr der Wahrheit entspricht. Die Tausende von Witwen und die vielen Tausende von Waisenkindern und die übrig gebliebenen erwachsenen Männer befinden sich im äußersten Elend. Gegenwärtig ist die Zahl der Sterblichkeit infolge von mangelnder Sorge für die Verwundeten, von Hunger und Krankheit und allgemeinem moralischen und physischen Elend groß und wird noch größer werden. Der Verlust von Eigentum wird oberflächlich auf 150 000 bis 200 000 Pfd. Sterl. geschützt und ist noch schwerer zu berechnen. Die Mehrzahl hat thatsächlich alles verloren mit Ausnahme der Kleider, die sie anhatten, und die Behörden haben keinen ernstlichen Versuch gemacht, das geplünderte Eigentum wieder zurückerstatten zu lassen. Familien, die früher wohlhabend waren, sind nun an den Bettelstab gebracht und schämen sich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele Kinder sind zu jung, um das Eigentum ihrer toten Eltern an Haus und Land zu reklamieren und zu verwalten, und ein großer Teil ist sicher für dieselben verloren. Ueberdies sind viele Muhammedaner, besonders Landleute, den Armeniern der Stadt stark verschuldet. Die Schulden sind nun nicht mehr einzutreiben, da der Muhammedaner ebenso berechtigt zu sein glaubt, das Eigentum der rebellischen armenischen Rajahs zurückzubehalten, als er’s war, ihr Leben und Eigentum zu nehmen. In der That, eine der Folgen und Resultate der letzten Massacres ist eine wahrhafte Seisachtie, was die Schulden der Muhammedaner an Armenier betrifft.
Die allgemeine Lage der Armenier hier und in den umliegenden Landdistrikten, wenn nicht in allen asiatischen Provinzen des Reiches, ist beklagenswert. Sie werden thatsächlich als außerhalb des Gesetzes stehend angesehen und in den Augen der Muhammedaner kommt es beinahe darauf hinaus, daß ein Armenier zu sein schon ein Kapital-Verbrechen ist. Nur eine strenge Bestrafung der Muhammedaner, die an den neuen Massacres und Unruhen hervorragenden Anteil gehabt haben, verbunden mit einer langen Periode von Ruhe kann das Vertrauen wiederherstellen, und es ist zweifelhaft, daß eine solche Ruheperiode der Regierung des Sultans vergönnt sein werde. Diese Regierung hat den verhängnisvollen Fehler begangen, die Schuldigen mit den Unschuldigen zusammenzuwerfen und anstatt von dem Recht Gebrauch zu machen, mit aller Strenge des Gesetzes solche Armenier zu bestrafen, die sich wirklich verräterischer Handlungen gegen ihre rechtmäßige Obrigkeit schuldig gemacht haben, ist der weitere und nicht wieder gut zu machende Fehler begangen worden, der muhammedanischen Bevölkerung zu erlauben, die Prärogativen der Regierung an sich zu reißen, ihre blinde und unvernünftige Wut an einem zum größten Teil schuldlosen Teil der intelligentesten, arbeitsamsten und nützlichsten Unterthanen Sr. Majestät auszulassen.
Die Größe des Unheils in Urfa scheint trotz der offiziösen lügnerischen Berichte und Ableugnungen selbst die türkische Regierung erschreckt zu haben. Aber ihr Wille, eine sofortige Untersuchung und Bestrafung der verantwortlichen Behörden muß ernstlich bezweifelt werden aus der Hast, mit der einige ihrer Beamten in entfernte Teile des Reiches versetzt worden sind. Hassan Bey, Major der Gendarmerie, Haupturheber des ersten Massacre vom 1. Oktober wurde nach Janina gesandt, während Nazis Pascha, der Brigade- und General-Kommandeur der Truppen, welcher das zweite Massacre anführte, nach Korna am Zusammenfluß des Euphrat und Tigris versetzt wurde.
Die Lokalbehörden zu Urfa und in anderen Städten der Umgegend, die ich besucht habe, abgesehen von dem Fall von Zeitun, über dessen Ursprung ich nicht in der Lage bin, eine Meinung auszusprechen, können unmöglich, wie ich glaube, diese Massacres geduldet oder herbeigeführt haben, ohne Instruktionen in der Hand zu haben, die ihr Vorgehen rechtfertigten. Diese Instruktionen sind das Resultat ihrer wohlüberlegten und ihrer unverantwortlich lügenhaften Berichte nach Konstantinopel inbezug auf die Armenier, zugleich mit der falschen und jeder Staatsweisheit entbehrenden Haltung der Centralregierung in dieser ganzen Frage. Es ist schwer, die Verantwortlichkeit genau zwischen die Central- und Provinzial-Behörden zu verteilen. Aber ich bin sicher, daß die Regierung des Sultans das Gefühl hat, daß der geheime Mechanismus, der diese völligen Vernichtungen von Leben und Eigentum zustande gebracht hat, das Licht des Tages scheuen muß, und daß die Regierung niemals, es sei denn unter dem Druck der auswärtigen Mächte, wie in Syrien im Jahre 1861, eine ernstliche Untersuchung bestimmen würde, sondern es vorziehen wird, den entstellten Berichten über die letzten Ereignisse, mit denen sie von ihren skrupellosen Provinzialbehörden versorgt wurde, Glauben zu schenken. Ein diplomatischer Druck mag den Sultan dazu bestimmen, Untersuchungs-Kommissionen einzusetzen, aber wenn nicht die Furcht vor dem bewaffneten Einschreiten fremder Mächte bei der Erwägung einer solchen Kommission mitspielt, wird das Vorgehen derselben, weit entfernt die Wahrheit an den Tag zu bringen und das Unheil wieder gut zu machen, nichts anderes als eine Farce sein, die, weil bestimmt, Europa zu täuschen, nur das beklagenswerte Los der christlichen Bevölkerung dieser Provinzen verschlimmern würde.
In dem Wirrwarr von Aussagen und Verleugnungen inbezug auf die letzten Ereignisse steht aber eine Thatsache unwidersprechlich fest. Alle Schichten der ottomanischen Bevölkerung haben trotz ihrer allgemeinen Unwissenheit ein feines Sensorium inbezug auf die eigentlichen Tendenzen der Wünsche ihrer autokratischen Regierung, und sowohl Muhammedaner als Nichtmuhammedaner bestätigen mit einem Munde, daß die Regierung wünschte, daß die Massacres stattfänden, und daß, wenn sie es nicht gewünscht hätte, sie nicht hätten stattfinden können. Diese Regierung kennt die Anschauung beider Teile, aber bis jetzt meidet sie eine Untersuchung und zeigt sich durchaus abgeneigt, das Unheil wieder gut zu machen. So lange dies nicht geschieht, werden alle Teile der Bevölkerung sie nicht freisprechen können von dem Verdacht, diese Massacres mit reiflicher Ueberlegung herbeigeführt zu haben.
Mitten in der wilden Verwüstung und Zerstörung, welche sich über diese Gegend ergossen hat, ist ein großes armenisches Dorf Germusch verschont geblieben. Diese außerordentliche Thatsache erklärt sich folgendermaßen: Als die Muhammedaner die Armenier von Urfa angriffen, machte auch eine berittene und bewaffnete Schar von Kurden und Arabern eine Attacke auf Germusch. Die Armenier schlugen einige Zelte, die sie besaßen, vor ihrem Dorfe auf, stellten so viele Bewaffnete aus, als sie zusammenbringen konnten, schossen ihre Gewehre ab und sandten zugleich an ihre Angreifer eine Botschaft, daß die Zelte von Soldaten besetzt seien, die die Regierung zum Schutze des Dorfes gesandt habe. Die Araber und Kurden, die aufgestachelt worden waren, das Dorf zu zerstören, wurden stutzig, ließen sich täuschen und zogen ab unter dem Eindruck, daß die Regierung aus irgend einem unbegreiflichen Grunde thatsächlich die Einwohner von Germusch zu schützen wünsche. Die Behörden von Urfa verlangten kurz darauf von den Armeniern zu Germusch die Auslieferung der Waffen, mit denen sie Muhammedaner, Araber und Kurden angegriffen hätten. Die Armenier aber kamen in corpore nach Urfa und erklärten der Regierung, daß, wenn sie wünschten, daß sie umgebracht würden, sie besser thäten, es auf einmal und auf dem Fleck in Urfa zu thun, da sie (die Armenier) vollständig ihrer Gnade ausgeliefert seien, daß sie aber niemals ihre Waffen ausliefern würden, die ihr einziger Schutz seien gegen die bewaffneten und feindlichen Kurden- und Araberstämme der Umgegend. Man ließ sie laufen und ihre Waffen behalten, für welches letztere Privilegium sie nicht unbeträchtliche Summen Geldes zahlen mußten.
Euer Excellenz haben mich weiter beauftragt, festzustellen, wie groß die Anzahl der Armenier in Urfa ist, die infolge der letzten Ereignisse den Islam angenommen haben. Die Zahl in Urfa beträgt 400 bis 500, einige von diesen wurden schon zwischen dem ersten und zweiten Massacre Muhammedaner, andere während des zweiten Massacres und der Rest seitdem. Sie entschlossen sich dazu unter Drohungen oder in der Ueberzeugung, daß weder Leben noch Eigentum sicher sei, weder vonseiten der Regierung noch vonseiten der mohammedanischen Nachbarn für irgend einen Armenier, der offen sein Christentum bekennt.
Obwohl die Regierung die Ausführung der legalen Formalität, welche infolge der Konversion zum Islam notwendig war, nicht genehmigt hat und infolgedessen offiziell erklären kann, daß sie ihre Konversionen nicht anerkenne, werden die Armenier gleichwohl von den Beamten und von der muhammedanischen Bevölkerung als Muhammedaner behandelt.
Die Feststellungen und Thatsachen, die in dem vorhergehenden Bericht über das Urfa-Massacre aufgeführt sind, belasten die ottomanische Regierung aufs schwerste und ich trage schuldigermaßen die Verantwortlichkeit, sie in einem offiziellen Bericht niedergelegt zu haben. Obwohl das System von Hinterlist und Einschüchterung, dessen sich die türkische Verwaltung bedient, nicht immer gestatteten, die Thatsachen zu einer Evidenz zu erheben, wie sie für einen europäischen Gerichtshof erforderlich ist, habe ich es mir doch große Mühe kosten lassen, meine Informationen sorgfältig zu sichten. Den größten Teil derselben habe ich direkt aus muhammedanischen Quellen erhalten oder sie durch muhammedanische Autoritäten bestätigen lassen.
Ich habe u. s. w.
Sileh ist eine Stadt von 5000 Häusern, wovon 350 bis 450 Armeniern, 15 bis 20 Griechen gehören, der Rest ist türkisch. Nach der Bekanntmachung des Reformplanes, als die Unglücksbotschaften von andern Städten kamen, wurden 1200 Redifs ausgehoben, die Hälfte derselben in einem Khan einquartiert, die andere Hälfte in der Stadt und außerhalb derselben stationiert, sodaß Hoffnung war, daß in Zileh alles ruhig bleiben würde. Da trotzdem die türkische Bevölkerung eine immer drohendere Haltung annahm, wurden die Armenier ängstlich. Als einige ihre Laden zu schließen und ihre Waren in ihre Häuser zu bringen wünschten, wurden sie von den Offizieren daran gehindert. Letztere riefen die ersten Leute der Armenier zusammen, versicherten sie, daß sie nichts zu fürchten hätten und drängten sie, das Geschäft wieder aufzunehmen.
Am 26. November, dem Tag des Jahrmarktes, schickten die Behörden die Menge der Tscherkessen und der Dorfleute, welche gekommen waren, aus der Stadt heraus, und überließen die Stadt ihren gewöhnlichen Einwohnern. Da die Furcht der Armenier wuchs, sandte ihnen der Gouverneur ein Schriftstück folgenden Inhalts: „Die Regierung macht sich all’ diese Ausgaben, um euch zu schützen; wenn ihr noch Furcht zeigt, so ist dies eine Beleidigung der Regierung, wofür ich euch als Rebellen behandeln und eure Bestrafung verfügen werde.“ Infolge dessen waren am 28. November die meisten armenischen Ladenbesitzer auf ihren Plätzen und von denen, deren Geschäft ohne Laden betrieben wurde, wurden 50 bis 60 der Vornehmsten durch die Polizei in ein Kasino im Markt unter dem Vorwand von Steuerangelegenheiten bestellt.
Plötzlich am Mittag ertönte ein Trompetensignal und die türkischen Soldaten fielen im Verein mit dem Pöbel über die Armenier her. mit dem Ruf: „Nieder mit den Armeniern! Das ist der Befehl des Sultans! Ihr Eigentum gehört der Krone! Gute Gelegenheit zu plündern!“ Der Hauptmann gab 40 bis 50 Soldaten Befehl, das Feuer zu eröffnen. Von den im Kasino versammelten wurden alle bis auf 20 getötet; die letzteren entkamen, wenn auch verwundet. In 2 Stunden waren 200 Läden geplündert.
Der Gouverneur rief in die Menge: „Seid rührig! Hört nicht auf zu töten, zu plündern und zu beten für den Sultan!“ Die andern Offiziere beteiligten sich am Morden. Ein Major überwachte die Verteilung von Patronen, als der Vorrat zu Ende war. Die Offiziere sorgten dafür, daß der wertvollste Raub durch ihre Leute für sie beiseite geschafft wurde.
Vom Markt aus verbreitete sich der Angriff durch mehrere organisierte Banden in die verschiedenen Quartiere der Stadt. Die Soldaten feuerten über die Mauern, in die Fenster und auf jeden, der sich sehen ließ. Durch ihr Feuer gedeckt, erbrach der Pöbel die Thüren. lieferte die zurückgebliebenen Einwohner aus und plünderte die Häuser. Ein vornehmer Mann, lange Zeit Mitglied des „Iraed Medjlisi“ (des Gerichtshofes), wurde mit seinen beiden Söhnen getötet und von einem oberen Fenster hinuntergestürzt, mit den Worten: „Mach, daß du fortkommst; der Gouverneur erwartet dich in der Sitzung.“ Eine Frau versuchte, ihren Mann zu schützen und wurde mit ihm getötet; ihr kleines Kind teilte ihr Schicksal. Ein 80jähriger Mann wurde vom Pöbel getötet, und sein Schädel von einem ebenso alten Greis in Stücke geschlagen. Ein junger Mann wurde von der Menge festgehalten, ein Türke legte einen Revolver in die Hand seines 8 oder 10jährigen Sohnes und sagte: „Schieße, mein Sohn und lerne, wie man Giaurs tötet!“
Gewöhnlich wurde die Wahl zwischen Tod und Islam gestellt. Einer, ein Priester, bot lieber als Christum zu verleugnen, seine Brust den Gewehren dar. Er wurde getötet. Ein anderer sagte: „Ich werde nicht an den Islam glauben; aber ich will sterben für die Ehre Christi im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.“ Er wurde mit dem Bajonett erstochen.
Im ganzen wurden 200 Läden und 300 Häuser geplündert; 150 bis 200 getötet; 50 bis 60 verwundet. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurde ein zweites Trompeten-Signal gegeben; und der Pöbel begann sich zurückzuziehen. Einige, die sich vom Plündern nicht trennen wollten, fuhren fort, bis der Sonnenuntergang ihrer Arbeit ein Ende machte und den übrigbleibenden Armeniem Zeit ließ, sich von den Schrecken ihrer Lage zu erholen.
Während der Nacht wurden die Toten in Wagen fortgeschafft und auf den Dunghaufen vor der Stadt geworfen. Obgleich einige Verwundete baten, heimgebracht zu werden, wurden sie getötet und mit den übrigen hinausgekarrt. Leichname wurden aus den Fenstern heruntergeworfen oder an Stricken bei den Füßen aus den Häusern herausgezogen. Am nächsten Tage wurden 100 in einer Grube auf dem armenischen Kirchhof begraben. Alle bis auf drei waren so zerschnitten und verstümmelt, daß ein Wiedererkennen unmöglich war, wie der Doktor und Priester, die gegenwärtig waren, bezeugten. Der Begräbnisplatz der übrigen ist bis jetzt unbekannt.
Der Gesamt-Verlust an Hab und Gut wird auf 150 bis 200 000 türk. Pfund (ca. 3–4 Millionen Mark) berechnet. Zehn von den Erschlagenen waren Frauen, 20 oder 30 Kinder.
In dem bitter kalten Winter sind die Ueberlebenden barfuß, fast ohne Betten, in Häusern zusammengedrängt, die von allem entleert, auch der Thüren und Fenster ermangeln. 1500 Personen bedürfen dringend der Unterstützung ihrer christlichen Brüder.
Schepik bei Arabkir wurde am 2. November geplündert. 400 Bewaffnete unter der Führung des Saru Schechekli-Kurd-Oghlu überfielen das Dorf und feuerten auf dasselbe bis Mittag. Als die Aeltesten des Dorfes mit ihnen zu verhandeln suchten, forderten sie 100 türk. Pfd. als Lösegeld. Sie wurden gezahlt, aber die Angreifer wollten nicht gehen. „Ihr müßt uns noch eure Uhren geben!“ Man gab sie, aber sie gingen nicht. „Ihr müßt uns auch eure Waffen geben!“ Man gab sie, aber sie gingen nicht. „Wir werden euer Korn, eure Kühe und Ziegen nehmen!“ Sie nahmen sie und waren doch nicht zufrieden. „Wir werden durch eure Häuser gehen und uns nehmen was uns gefällt!“ Sie thaten’s und schleppten alle wertvolle Habe weg. Darauf sandten wir sieben junge Leute in die Stadt, um die Regierung zu benachrichtigen. Sie wurden eingekerkert und kamen nicht wieder. Einige Tage später versuchte einer zu entfliehen und wurde erschossen. In der Nacht nach dem ersten Angriff hofften wir, daß alles vorüber sei, aber am nächsten Morgen kamen die Türken der umliegenden Dörfer und drohten uns zu töten, wenn wir nicht unsere Häuser verlassen würden. So gingen wir heraus und sie kamen herein zum Plündern. Acht Tage lang verbrannten sie unsere Häuser, nachdem sie sie ausgeleert hatten; nur 10 der ärmsten Häuser blieben stehen. Aber auch von ihnen nahm man Thüren und Fenster mit, und selbst die Dachsparren wurden aus einigen herausgezogen. Darauf überfielen sie die Frauen und nahmen ihnen ihre Schuhe und Kleider ab. Am 8. Tage, nachdem sie ihr Werk beendigt hatten, kamen sie zu uns, die wir am Ufer des Stromes saßen, töteten am andern Ufer Pastor Melkon und Bruder Baghdos Sohn, weil sie sich weigerten, ihren Glauben zu wechseln. Es wurde Nacht, Finsternis brach herein. Aber sie kamen mit Laternen und wählten 45 junge Leute aus, indem sie sagten, die Regierung wünsche sie zu haben; da sie wußten, was ihnen drohte, erbaten sie sich eine Stunde Gnadenfrist. Sie beteten und sangen, sie baten einer den andern um Vergebung, sie küßten die Hände ihrer Eltern und schieden mit Thränen in der Erwartung, sich nicht wiederzusehen. Nachdem man sie eine halbe Stunde weit auf einen einsamen Platz gebracht hatte, nahm man sie, zwei und zwei besonders, und bedrohten sie mit Tod, wenn sie nicht ihren Glauben wechseln würden. Sie alle sagten mit einer Stimme und unerschrocken: Wir wollen unsern Glauben nicht verleugnen, wir sind bereit, für die Liebe unsers Heilandes zu sterben. Nur 5 gelang es zu entfliehen, doch die übrigen 40 wurden Märtyrer für die Liebe Jesu. Die 5 Fliehenden brachten 12 Tage in einer Höhle zu.
Die ihrer Häuser beraubten Dorfbewohner irrten erst einige Tage hungrig auf den Bergen umher, bis sie sich getrauten, in die Stadt Arabkir zu kommen, um dort Hilfe zu suchen, aber vergeblich. Ein Teil zerstreute sich in andere Ortschaften. Ein Teil kehrte zurück und lebt nun zusammengedrängt in den 10 noch stehenden Häusern, die ohne Thüren und Fenster sind. Sie haben weder Geld, noch Betten, noch Nahrungsmittel. Bis sie etwas Hilfe bekamen, waren 10 Hungers gestorben und viele vor Kälte und Blöße krank geworden.
Schepik hatte 86 Häuser mit 470 Einwohnern, 53 junge Männer wurden erschlagen, und die Zahl der Witwen und Waisen ist groß.
Bericht der Frankfurter Zeitung vom 15. August.
Ueber die vom 14. bis 22. Juni d. Js. in Wan vorgekommenen gräßlichen Metzeleien, von denen bisher, dank dem türkischen offiziellen Vertuschungssystem, nur spärliche und entstellte Nachrichten nach Europa gedrungen und denen zahllose Menschenleben zum Opfer gefallen sind, wie auch das ganze Vilajet Wan (armenisch Waspurakan) dabei der Zerstörung und Verwüstung anheimgegeben worden ist, erhalten wir soeben einen aus Wan. Ende Juni datierten, vom einem zuverlässigen Augenzeugen stammenden ausführlichen Bericht, der in deutscher Uebersetzung wie folgt lautet:
„Während im Laufe der letzten Jahre in allen armenischen Provinzen Feuer und Schwert in der gräßlichsten Weise wütheten und Hunderttausende von Armeniern teils hingeschlachtet, teils namenlosem Elend und dem Verderben preisgegeben wurden, erfreute sich unsere Provinz Waspurakan einer verhältnismäßigen Ruhe, obgleich besonders seit dem letzten Herbst die armenische Bevölkerung unter der Bedrückung und Verfolgung seitens der hiesigen türkischen Behörden mehr oder weniger zu leiden hatte. Niemand von uns konnte jedoch ahnen, welch’ schreckliches Loos unserem blühenden Lande Vorbehalten war.[2]
Die Kunde von den in den verschiedensten Gegenden Armeniens verübten Gräuelthaten erfüllte auch uns hier mit Schrecken und größter Besorgnis; wir schwebten in beständiger Gefahr und waren tagtäglich des Ausbruchs des muhammedanischen Fanatismus gewärtig. Zu wiederholten Malen gemachte Versuche seitens des türkischen Pöbels in unserer Stadt, eine allgemeine Erhebung gegen die Armenier ins Werk zu setzen, mißlangen nur durch die von dem thatkräftigen Vali Nazim Pascha rechtzeitig getroffenen umfassenden Vorsichtsmaßregeln.
Der allgemeine Fanatismus in den hiesigen türkischen Kreisen wurde noch mehr angefacht durch die Haltung des seit Januar d. J. hier eingetroffenen Kommissäre Saadeddin Pascha, der, als Spezialabgesandter des Sultans, angeblich als „Friedensstifter“ zu wirken die Aufgabe hatte. Als er nun im letzten Monat nach Konstantinopel zurückberufen wurde, weil er, höchstwahrscheinlich, den gewissenlosen Machthabern daselbst nicht scharf und rücksichtslos genug gegen die Armenier vorzugehen schien, suchte er durch die Beschleunigung der Ausführung seines bösen Planes seine Unentbehrlichkeit auf seinem Posten sowie seine Entschlossenheit und seinen dienstfertigen Eifer zu erweisen. Er ging selbst so weit, daß er den berüchtigten kurdischen Räuberchef Schekir, einen selbst von den türkischen Gerichten verurteilten Mann, als Gast bei sich aufnahm, zwei Tage lang bewirtete und mit allen Ehrenbezeugungen überhäufte. Saadeddin Pascha suchte schon von Anfang an, sich in alle Angelegenheiten der Civil- und Militärverwaltung zu mischen und sämtliche Geschäfte allmählich in seine Hände zu vereinigen. Den Vali Nazim Pascha beschuldigte er der Lauheit und Unfähigkeit, der durch sein gleichgiltiges, unthätiges Verhalten die armenischen „Fidaji“ (Hetzer, Aufwiegler) – mit diesem Namen bezeichnen die türkischen Behörden fast jeden Armenier – angeblich „in ihrer Wühlarbeit“ ermutige, anstatt auf sie zu fahnden. Zu diesem Zwecke ließ er selbst zunächst verschiedene Haussuchungen vornehmen; hierauf ordnete er allgemeine Durchsuchungen in den armenischen Vierteln an, unter Aufgebot einer 3–400 Mann starken Truppenabteilung. Allein alle diese Haussuchungen blieben ergebnislos.
Durch befreundete Türken hatten die Armenier erfahren, daß ein Angriff auf sie für den 12. Juni geplant sei, weshalb auch die Letzteren an diesem Tage ihre Läden und Werkstätten geschlossen hielten und sich in ihre Häuser zurückzogen, in banger Erwartung der kommenden Dinge. Es sei hier bemerkt, daß schon seit geraumer Zeit, namentlich seit der etwa 14 Tage vorher erfolgten Abreise des russischen Konsuls Herrn Wladimir, der sich auf Urlaub in Rußland befand, fast täglich Ueberfälle und Mordanschläge gegen Armenier vorkamen; täglich wurden 5–6 Armenier umgebracht; die Lokalbehörden kümmerten sich um diese Vorfälle nicht im geringsten. Unter Anderen wurde auch Herr Zolak, Lehrer an der hiesigen armenischen höheren Bürgerschule, auf der Straße Noraschen bei Nacht überfallen, niedergestochen und hierauf mit der Axt in Stücke gehauen.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni hörte man aus dem armenischen Stadtviertel Klor-Dar mehrere Flintenschüsse. Es war nämlich, wie man am folgenden Tage sicher erfuhr, eine türkische Nachtpatrouille auf eine Bande kurdischer Salzschmuggler gestoßen; es entspann sich ein Gefecht, in dem bloß das Pferd eines Kurden getödtet wurde; die Schmugglerbande entkam. Die armenische Bevölkerung, in ängstlicher Ungewißheit über die Ursache des Lärmes, erwartete von Augenblick zu Augenblick den Beginn des Blutbades. Am folgenden Morgen wurde auf Befehl der Lokalbehörde das vorerwähnte totgeschossene Pferd auf dem Marktplatz öffentlich zur Schau ausgestellt und zugleich bekannt gemacht, die Bande, auf die die türkische Nachtpatrouille gestoßen wäre, sei eine armenische Räuberbande gewesen. Dadurch suchten die Behörden die ohnedies schon hocherhitzten Gemüter der türkischen Bevölkerung gegen die Armenier noch mehr aufzuregen. Dies gab den unmittelbaren Anstoß zur Entfesselung der türkischen Volkswut und zum Beginn des von langer Hand wohlvorbereiteten Angriff auf die Armenier.
Es war Montag, der 15. Juni. Der Major Halim Effendi, der sich schon seiner Zeit durch seine Greuelthaten bei den Metzeleien in Sassun hervorgethan hatte, und dem die „polizeiliche Aufsicht“ sowie „die Sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung“ in dem hauptsächlich von Armenien, bewohnten Stadtteile Aigestan[3] anvertraut war, begab sich an der Spitze einer starken Truppenabteilung nach der Klor-Dar-Straße, woselbst angekommen er Halt machen und ohne weiteres auf die in einen panischen Schrecken geratene Menge auf der Straße Feuer zu geben befahl. Dies war das Zeichen zum Beginn des Gemetzels. Sofort eilten aus den türkischen Vierteln wilde Pöbelhaufen herbei, mit Flinten, Messern, Schwertern und Aexten bewaffnet; sie machten alle Armenier, die ihnen auf ihrem Wege begegneten, nieder, drangen in deren Häuser und begannen dort zu plündern, zu zerstören und niederzubrennen. Das Morden und Zerstören dauerte den ganzen Tag. Die armenischen Stadtteile Klor-Dar, Arark, Haikawang, Thorman, Pos-Dagh, Tschawurme, Surp-Hagog und Noraschen wurden fast gänzlich zerstört. Die Zahl der Opfer belief sich auf etwa 800 Seelen, und zwar durchweg männlichen Geschlechts, während Frauen und Mädchen in der bestialischesten Weise geschändet und zum großen Teil in die Harems weggeführt wurden. Viele flüchteten sich in die Wohnungen einflußreicher Türken, in der Hoffnung ihr Leben zu retten; ungefähr 100 solcher Flüchtlinge, die bei dem hiesigen Bürgermeister Temür-Zade Halil Pascha Schutz gesucht hatten, wurden nach zwei Tagen hinausgeführt und einzeln abgeschlachtet. Die Geistlichen: Pater Dr. Daniel und Priester Mesrop fanden bei diesem gräßlichen Gemetzel auch einen entsetzlichen Tod: Letzterer wurde lebendig geschunden, ersterer dagegen auf der Straße erschlagen, sein Leichnam durch die Straßen geschleift und schließlich in eine Kotgrube geworfen.
Die Nacht verlief ruhig. Am anderen Morgen, den 16. Juni, begann jedoch der Angriff des fanatisierten türkischen Pöbels von neuem; jetzt war die Reihe an den übrigen, am vorigen Tage verschont gebliebenen Straßen in Aigestan. Hier leisteten die in ihren Wohnungen verbarrikadierten, notdürftig bewaffneten Armenier heftigen Widerstand. Die anstürmenden Massen wurden zurückgeschlagen. Es gelang auch einer Menge von Frauen und Kindern, die dem Gemetzel des vorhergehenden Tages entronnen waren, mit Hilfe einiger Konsuln, in dem von den Armeniern verteidigten Quartiere Zuflucht zu finden. Unterdes füllte sich die Stadt nach und nach mit raublustigen Kurden und türkischen Zigeunerbanden aus der Umgebung.
Mittwoch, den 17. Juni erneuerte sich der Angriff der nunmehr aus allen möglichen mord- und raublustigen Elementen zusammengesetzen Masse auf die armenischen Stellungen, unterstützt zugleich von regulären Hamidieh-Reitern. Die Armenier wehrten sich aus allen Kräften: es war für sie ein Kampf auf Leben und Tod. Nur zeitweilig unterbrochen, setzte sich der Kampf, immer heftiger werdend, die Nacht hindurch bis zum Morgen des 18. Juni fort. Die Lage der eingeschlossenen Armenier wurde immer schrecklicher. Das reguläre Militär, das bisher nur vereinzelt an dem Kampfe teilgenommen hatte, erhielt nun den Befehl, in geschlossener Ordnung gegen „die Aufrührer“ vorzugehen. Zu gleicher Zeit wurde mit einigen auf einer Anhöhe in Aigestan aufgestellten Kanonen ein mörderisches Feuer auf die Stellungen der Armenier eröffnet. Der Kommissär Saadeddin Pascha erklärte dem Pater Dr. Sahak, dem geistlichen Haupt der Armenier hierselbst, sowie den Konsuln, daß er, falls nicht „die Anfrührer“ sofort die Waffen streckten und sich auf Gnade und Ungnade ergäben, von der Zitadelle aus mit Krupp’schen Kanonen die ganze Stadt beschießen und zerstören würde. Die Vermittlerrolle zwischen der türkischen Regierung und den Armeniern übernahm der englische Konsul Herr Williams, der, als würdiger Vertreter der zweideutigen Politik seines Chefs und um die Gunst der türkischen Regierung buhlend, sich eifrig bemühte, in deren Sinne seine Mission zu erfüllen. Aus politischen Gründen schloß sich Konsul Williams gegen besseres Wissen sogar der türkischen Auffassung an, wonach die notgedrungene Selbstverteidigung der Armenier einfach für „Empörung“ erklärt wurde. Einen Helfer in diesem seinem Unternehmen fand er in dem amerikanischen Missionar Mr. Reynals, der sich die günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, sich bei den türkischen Behörden wieder einzuschmeicheln.
Durch den Missionar Reynals ließ nun Konsul Williams den Armeniern mitteilen, sie sollten, zum Zweck der Besprechung der Sachlage und der Feststellung der etwaigen für die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung als geboten erscheinenden Bedingungen, einige Abgeordnete zu ihm senden; er ließ ihnen zugleich erklären, er habe den Auftrag, im Namen der sechs Großmächte mit ihnen zu verhandeln. Die Armenier erwiderten, daß sie nur unter Beisein und Mitwirkung der übrigen hier residierenden Konsuln auf eine Unterhandlung mit ihm eingehen könnten. Freitag, den 19. Juni, sowie an dem darauffolgenden Tag fand je eine Zusammenkunft statt; anwesend waren einerseits außer dem Konsul Williams noch der persische Konsul Mirza Hussein Chan und der derzeitige Verweser des russischen Konsulates, der Dragoman Karapet Tschilingaroff (der russische Konsul Wladimir war, wie schon oben erwähnt, verreist), seitens der Armenier der obgenannte Pater Dr. Sahak, nebst drei Abgeordneten. Die Konsuln verlangten von den Armeniern die Auslieferung der angeblichen drei „Rädelsführer“, welche die Verteidigung geleitet hatten, nebst sechzig anderen Hauptbeteiligten, unter der ausdrücklichen Versicherung, daß dieselben vom Sultan begnadigt werden sollten; diese Auslieferung sollte unter der besonderen Garantie des englischen Konsuls erfolgen. Die armenischen Abgeordneten erbaten sich nun eine Frist von 24 Stunden, um mit ihren Auftraggebern Rücksprache zu nehmen; bis zum Eintreffen ihrer Antwort sollte jeder weitere Angriff seitens der Türken auf sie unterbleiben.
Trotz dieser bestimmten Zusicherung sollte es aber anders kommen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni, acht Stunden nach Abschluß der vorerwähnten Verhandlung, brach ein erneuter Sturm seitens der Türken auf die unglücklichen Armenier aus. Ganz Aigestan wurde mittels 6 Kanonen, die auf der nahe gelegenen Anhöhe Akervikar ausgestellt waren, beschossen. Gleichzeitig begann das Plündern, Morden und Zerstören wieder. Feuer und Schwert wüteten auf diese Weise während 12 Stunden, bis zum Abend des folgenden Tages. Ueberall in der Stadt herrschte Schrecken und Entsetzen. Der Gouverneur forderte die Konsuln auf, um der Gefahr und dem Verderben zu entgehen, sich mit ihren Beamten und den Missionaren in die Citadelle zurückzuziehen. Da jedoch der russische Konsulatsverweser erklärte, daß er auf seinem Posten zu verharren und nur unter der russischen Flagge zu fallen entschlossen sei, wurde diese Aufforderung auch von den übrigen Konsuln abgelehnt. Tausende von Armeniern flüchteten sich teils in die Wohnungen der Konsuln, teils in die Häuser und Anstalten der protestantischen und römisch-katholischen Missionen. Als nun die eingeschlossenen Armenier, auf die vornehmlich der türkische Angriff zielte, die Aussichtslosigkeit jedes weiteren Widerstandes einsahen, beschlossen sie, angesichts des der ganzen Stadt drohenden Unterganges und in der trügerischen Hoffnung, der übrige wehrlose Teil ihrer Volksgenossen würde vor weiterer Verfolgung bewahrt bleiben, ihre Stellungen zu verlassen und wegzuziehen. Ungefähr 1000 Mann, von denen kaum der vierte Teil bewaffnet war, schlugen sich durch und zogen nach dem etwa 1½ Stunden östlich von Wan gelegenen Kloster Warag.[4]
Unterdessen war die Stadt der Schauplatz fortwährender unbeschreiblicher Greuelthaten und Verwüstung. Das Militär, durch die aus anderen Orten herangezogenen Truppen auf 7–8000 Mann angewachsen, im Vereine mit den Pöbelmassen, vollführte das Plünderungs- und Zerstörungswerk. An diesem Tage, dem 21. Juni, versuchte ein wildtobender Pöbelhaufe die mit Tausenden armenischer Flüchtlinge (ungefähr 15 000) angefüllten Wohnungen der Konsuln und Missionsgebäude und die angrenzenden Häuser, auf denen allen russische und englische Flaggen aufgesteckt waren, zu stürmen. Der englische Konsul, zitternd vor Angst und Schrecken, erschien, mit einem türkischen Fez auf dem Haupt, auf der Terrasse des Konsulatsgebäudes und befahl den ihn umgebenden Soldaten, die zu seinem Schutze dorthin kommandiert worden waren, auf die anstürmende Volksmenge zu schießen, welche hierauf sich in die benachbarten Straßen zurückzog.
Es sei hier noch erwähnt, daß zwei Tage vorher, während der Beschießung Aigestans, eine Granate die Mauer des englischen Konsulats durchgeschlagen hatte und bis in das Schlafzimmer des Konsuls gedrungen war, ohne jedoch zu platzen.
„Die innere Stadt blieb von Mord und Zerstörung verhältnismäßig verschont. Dank dem thatkräftigen Major Emin Agha, der es verstand, seine Soldaten im Zaume zu halten und die zu wiederholten Malen anstürmend vorgehenden Pöbelmassen auseinanderzutreiben. (Im Ganzen kamen daher hier nur 15 Armenier um; etwa 150 Läden wurden geplündert.) Das Auftreten dieses tüchtigen Offiziers muß rühmend hervorgehoben werden. Einen völligen Gegensatz hierzu bildet das Verhalten des Majors Halim Effendi, des Befehlshabers der Truppen in Aigestan, der persönlich die Pöbelhaufen anfeuerte, indem er ihnen zurief: „Wohlan, meine Kinder! Machet nur erst alles nieder, hernach könnet Ihr in aller Ruhe rauben und plündern!“
Am Montag, den 22. Juni, gegen Mittag, machte ein Trompetensignal den achttägigen Metzeleien ein Ende. Die Vorstadt Aigestan wurde mit einem starken Militärkordon umstellt; zahlreiche Militärpatrouillen durchzogen die Straßen überall. Die zusammengeflüchteten Armenier wurden im Namen der Regierung aufgefordert, sich in ihre Wohnungen – soweit solche der Zerstörung entgangen sind – zurückzuziehen; dieselben trauten sich jedoch nicht, ihre Zufluchtsstätten zu verlassen. Die aus der Stadt weggezogenen Kurdenhorden und die Hamidieh-Reiterei warfen sich nun auf die Dörfer der Umgebung sowie auf alle Ortschaften des Vilajets Wan, mordend, plündernd, sengend und brennend. Das Schicksal der unglücklichen armenischen Landbevölkerung war entsetzlich. Viele Dörfer sind dem Erdboden gleich gemacht und die Bewohner männlichen Geschlechts zum größten Teil hingeschlachtet, Mädchen und junge Frauen gewaltsam entführt worden.[5] In der Stadt selbst sind gegen 200 Frauen und Mädchen von den Soldaten in die Kaserne fortgeschleppt worden. Viele Armenier wurden mit Gewalt gezwungen, zum Islam überzutreten. Andere entflohen nach allen Richtungen. Die Klöster und Kirchen wurden geplündert und in Brand gesteckt, unter anderen auch das altehrwürdige Kloster Warag[6], das von einer Truppenabteilung mittels Kanonen beschaffen, erstürmt und, nachdem der Klosterabt Pater Aristakes und sein Bruder Pater Werthanes an der Schwelle des Thores enthauptet und alle übrigen Mönche nebst den 25 Schülern niedergemacht worden waren, ausgeplündert und zuletzt verbrannt wurde.
In der Stadt beläuft sich die Zahl der getöteten Armenier auf mehr als 1000; der angerichtete materielle Schaden ist unermeßlich, dürfte aber, soweit es das bewegliche Vermögen allein betrifft, über 1 Mill. türk. Pfd. betragen. Ungefähr 3000 Häuser wurden geplündert, gegen 600 vollständig niedergebrannt; fünf Kirchen wurden entweiht und durch Brand zerstört; desgleichen wurden sechs Schulen eingeäschert.
Auf dem Lande sind die Metzeleien und Verwüstungen noch schrecklicher gewesen. Genauere Angaben darüber fehlen noch. Doch bin ich im stande, auf Grund vorläufiger zuverlässiger Ermittelungen, folgende Thatsachen mitzuteilen: Die Zahl der umgekommenen Armenier dürfte sich auf mindestens 20 000 Seelen beziffern (anderen Nachrichten zufolge soll die Zahl der Opfer fast das Doppelte betragen), nicht mitgerechnet die vielen Tausende, die nach allen Richtungen versprengt und spurlos verschwunden sind; nach vielen Tausenden zählen die Frauen und Mädchen, die geraubt worden sind. Der materielle Schaden läßt sich zur Zeit nicht sicher abschätzen, ist aber natürlich ungeheuer groß. Der ganze Wohlstand unserer blühenden Provinz ist auf lange, lange Jahre hinaus völlig vernichtet; kaum ein Dorf dürfte der Plünderung und Zerstörung entgangen sein; die Felder sind verwüstet, die Saaten vernichtet; das Vieh fiel, soweit es am Leben blieb, in die Hände der Kurdenhorden. Tausende von Familien in der Stadt und auf dem Lande sind ihrer Ernährer beraubt, viele wohlhabende Bürger und Bauern sind heute an den Bettelstab gebracht. Im ganzen Bezirke liegen Tausende von Leichen der unglücklichen Erschlagenen umher, zum Fraß den wilden Tieren und zur Augenweide für die blutdürstigen türkischen und kurdischen Raubmörder. Als vor zwei Tagen der russische Konsul Herr Wladimir von seinem Urlaub hierher zurückkehrte, waren noch viele Straßen der Stadt mit zahlreichen Leichen der gefallenen Armenier bedeckt, so daß bei seiner Einfahrt der Wagen ganze Straßen lang über dieselben hinweg fahren mußte. Seit einigen Tagen langen ganze Scharen von flüchtigen Frauen und Kindern in einem bejammernswerten Zustande hier an; sie finden in den Wohnungen der Konsuln, sowie in den Häusern und Anstalten der protestantischen und römisch-katholischen Missionen ein notdürftiges Unterkommen, zum größten Teil lagern sie unter freiem Himmel. Die Zahl dieser Flüchtlinge beläuft sich gegenwärtig auf etwa 25 000 Köpfe, und wird durch neuen Zuzug ohne Zweifel noch mehr wachsen. Die Verpflegung dieser völlig mittellosen Massen kann unter den obwaltenden Umständen in genügender Weise kaum bewerkstelligt werden: täglich können zur Zeit nicht mehr als 15 000 Laib Brote verteilt werden. Viele müssen Tage lang hungern; täglich sterben eine Anzahl dieser Unglücklichen den Hungertod; auch Krankheiten beginnen, große Verheerungen unter ihnen anzurichten; es wird der Ausbruch einer Cholera-Epidemie befürchtet.
Durch die Anordnung der Metzeleien in unserer Provinz hat die türkische Regierung einen doppelten Zweck verfolgt: zunächst wollte sie, in konsequenter Durchführung des bereits in den anderen Vilajets gegen unsere Nation systematisch ins Werk gesetzten Ausrottungsplans, nunmehr auch die armenische Bevölkerung Waspurakans mit einem Schlage vertilgen, sodann zu gleicher Zeit der Habsucht und Raubgier der Türken und Kurden und namentlich des unzufriedenen Militärs, das seit langer Zeit keinen Sold erhalten hatte, volle Befriedigung verschaffen.
Trotzalledem zwang der Kommissär Saadeddin Pascha eine Anzahl hervorragender Armenier unter Anwendung von Gewalt dazu, ein Schriftstück an die Adresse des Sultans zu unterschreiben, worin sie erklären, daß „die belanglosen Unruhen“ in Wan „durch Anstiften einiger verbrecherischer armenischer Uebelthüter hervorgerufen worden seien.“
Der Civil-Gouverneur Nazim Pascha hat dieser Tage um seine Entlassung gebeten, welche ihm sofort gewährt wurde. An seiner Stelle wurde der Kommissär Saadeddin Pascha zum Gouverneur ernannt. Derselbe hat sofort ein Kriegsgericht eingesetzt, welches die Aufgabe hat, auf „die Revolutionären“ zu fahnden und sie abzuurteilen.
Gegenwärtig herrscht äußerlich verhältnismäßig Ruhe – allerdings eine Grabesruhe! Wir leben noch unter dem Eindruck der letzten so grauenvollen Schreckenstage in beständiger Furcht und blicken mit verzweiflungsvoller Besorgnis, ohne Hoffnung und ohne Vertrauen, in eine trübe Zukunft. Wohin man sieht, überall Jammer, Elend und entsetzliche Not! Ganz Waspurakan, dieses gesegnete Land, liegt heute in Trümmern, in Feuer und Blut! Was soll aus uns werden? Wie soll dieser schreckliche Zustand enden? Gott weiß es. Er, der Allbarmherzige, möge unseren namenlosen Leiden ein baldiges Ende machen!“
Es ist mir sehr schmerzlich, Ihnen über das große Unglück, welches die Stadt Eghin befallen hat, berichten zu müssen. Es giebt im Innern des Landes kaum eine Stadt mit mehr Wohlstand und besseren Häusern. Es waren dort ungefähr 1000 armenische Häuser und eine gleiche Zahl von türkischen. Von den christlichen Häusern sind mehr als 600 verbrannt. Die Getöteten werden auf 800 bis 1000 geschätzt. Eghin ist eine von den wenigen Städten, die während der Verwüstung des letzten Jahres verschont blieben. Ein großes Lösegeld wurde damals den Kurden gezahlt und die türkische und christliche Bevölkerung verband sich, um den Platz zu verteidigen. Die offizielle Version über die Entstehung des Blutbades vom 15. und 16. September d. J. ist folgende (ich habe dieselbe von höheren Beamten):
Die Christen hätten sich Sonntag Morgen und Montag Morgen in großer Zahl in den Kirchen versammelt und ihre Gottesdienste so ausgedehnt, daß der Argwohn der Türken dadurch gereizt worden sei. Am Dienstag hätten die Armenier an einige von ihren eigenen (!) Häusern im oberen Teil der Stadt Feuer angelegt, hätten auf die türkischen Häuser zu schießen begonnen und einen Soldaten getötet.
Thatsächlich verhielt sich die Sache nach unseren Informationen so: Der Gouverneur der Stadt, ein Eingeborener des Ortes und zwei oder drei andere wurden bei dem Gouverneur in Charput vorstellig, daß einige Personen von aufrührerischem Charakter in Eghin seien; ebenso wurde behauptet, daß einige Leute von Eghin an den letzten Unruhen in Konstantinopel beteiligt gewesen seien. Der Vali in Charput sprach darüber mit einigen Leuten aus Eghin, die in Charput leben. Diese schrieben an ihre Freunde und erhielten zur Antwort, daß nur eine verdächtige Person und zwar ein Mann aus Charput sich dort befinde und bereits fortgeschickt worden sei. Die Korrespondenz zwischen den Behörden in Eghin, Charput und Konstantinopel wurde gleichwohl einige Wochen in dieser Sache fortgesetzt, und es scheint, daß der Regierung in Konstantinopel die Ueberzeugung beigebracht wurde, daß aufrührerische Elemente in Eghin seien, und es kamen Befehle, daß man dieselben ausmerzen solle. Einige Tage später bedrohten Kurden, jedoch nicht in großer Zahl, den Platz, wurden aber von den Soldaten wieder weggeschickt. Dies wiederholte sich zwei- oder dreimal. Montag, den 14. September, erschienen sie wieder. Die Christen wurden mißtrauisch gegen ihre türkischen Mitbürger und schlossen ihre Läden. Dienstag Morgen, als die Läden noch nicht geöffnet waren, sandte der Gouverneur Ausrufer durch die Stadt, die bekannt machten, daß die Kurden zerstreut seien und daß die Regierung jedem Bürger völlige Sicherheit garantiere und daß jedermann seinen Laden wieder zu öffnen und sein Geschäft wieder aufzunehmen habe. Daraufhin wurden die Läden geöffnet und das Geschäft nahm seinen gewöhnlichen Lauf. Um Mittag wurde ein einzelner Schuß abgefeuert und alsbald begann die Schlächterei. Man nimmt an, daß der Schuß das Signal war; trotzdem behaupten die Türken, er sei von einem Armenier abgefeuert worden. Allem Anschein nach war das Blutbad der Anfang, und die Plünderung und das Verbrennen der Häuser folgte erst später. Man berichtete, daß viele Frauen und Mädchen sich selbst in den Euphrat stürzten, der am Fuße der Stadt fließt.
Der Kaimakam telegraphierte, daß zwei- bis dreitausend Menschen hilflos und dem Hunger ausgesetzt seien, und erbat Unterstützung. Die Regierung wird vielleicht etwas für den Augenblick thun, aber es wird nur zeitweise und unzulänglich sein. Eghin hat allem Anschein nach noch mehr als Arabkir und Malaiin gelitten. Einige angesehene Türken gaben zu verstehen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach größere Unruhen für diese Gegend bevorständen, und sie fügten hinzu, wenn sie kämen, würden sie schlimmer sein, als im Vorjahre.
Die Nachrichten, welche ich vorige Woche in Bezug auf Eghin gab, stammten hauptsächlich von zwei unparteiischen Türken, welche sich zur Zeit des Massacres dort befanden. Alle Briefe, die ich gesehen habe, stimmen darin überein, die Zahl der Getöteten auf etwa 2000 festzustellen. (Der amtliche Konsularbericht giebt die gleiche Zahl an.) Im Verhältnis scheinen mehr Frauen und Kinder dies Schicksal erlitten zu haben, als in irgend einem früheren Massacre, von dem ich Kenntnis habe. Viele Tote wurden tagelang in den Straßen gelassen als Nahrung für die Hunde, und eine große Zahl wurde in den Euphrat geworfen. Man sah sie viele Meilen weit unterhalb der Stadt den Fluß hinuntertreiben. In einigen Fällen sind ganze Familien ausgerottet worden. Genaue Statistiken können natürlich jetzt noch nicht gegeben werden, aber man fürchtet, daß 2000 noch zu gering gerechnet ist. Dies ist ein großer Bruchteil einer auf 5–6000 Christen geschützten Bevölkerung. Die Briefe geben die Zahl der Häuser auf 1100 an und von diesen, sagt man, seien nur etwa 150 übrig geblieben. Diese blutige Schlächterei und Feuersbrunst dauerte vom Dienstag, den 15., bis Donnerstag, den 17. Alle Zeugnisse stimmen darin überein, daß das Massacre offiziell veranstaltet war und daß keine Ursache dafür vorlag. Es war kein störendes Element da, außer in der Einbildung einiger Beamten. Sie hatten die Zentral-Regierung alarmiert. Der Vali und der Militär-Kommandant waren fast die ganze Zeit, von Anfang bis zu Ende, auf dem Telegraphen-Amt, und verkehrten mit Konstantinopel. So viel ich erfahren habe, leistete das Volk nicht den geringsten Widerstand und keine Türken wurden getötet, außer vielleicht später, bei der Verteilung der Beute. Es befanden sich keine Kurden am Ort. Das Werk wurde von Bürgern und Soldaten ausgeführt. Das Massacre dehnte sich auf mehrere Dörfer bei Eghin aus; aber wir haben keine Einzelheiten. Die Lokal-Behörde hält an ihrer Versicherung fest, daß weiter kein Blutbad in dieser Gegend stattfinden werde, und es wird ein gut Teil Energie gezeigt in der Zurückhaltung der störenden Elemente. In den Aghun-Dörfern wurden 5 Personen, darunter ein Priester, getötet, aber das rechtzeitige Eintreffen der Soldaten verhinderte ein allgemeines Blutbad. Nachdem all dies geschehen ist, ist es nicht überraschend, daß die Christen kein Gefühl der Sicherheit mehr haben und daß die Furcht sie entnervt hat. Das Elend droht im kommenden Winter fast so schlimm wie im vorigen Jahr zu werden.
Anmerkungen
- ↑ Engl. Blaubuch. Turkey, No. 5, 1896. Correspondence relating to the Asiatic Provinces of Turkey.
- ↑ Waspurakan bildet ein Hauptzentrum der armenischen Nation; die Zahl der hier lebenden armenischen Bevölkerung beläuft sich auf ca. 200,000 Seelen. (Anm. d. Uebers.)
- ↑ Die Stadt Wan besteht aus der sog. Innern Stadt, welche von einer Mauer umgeben ist und an deren nördlicher Seite auf einer Bergspitze die uralte Semiramis-Burg, gegenwärtig türk. Citadelle, sich erhebt, und der außerhalb der alten Mauern in östlicher Richtung gelegenen, weitausgedehnten Außenstadt Aigestan („Gartenstadt“) genannt. (Anm. d. Uebers.)
- ↑ Laut einer uns gleichzeitig mit obigem Berichte aus Persien zugegangenen brieflichen Mitteilung wurden gegen 850 Mann von dieser Schar, die sich auf persisches Gebiet flüchten wollten, an der Grenze von kurdischen Hamidieh verfolgt und nach einem verzweifelten, heldenmütigen Kampf vollständig aufgerieben. Ueber das fernere Schicksal der übrigen 150, die sich schon früher von der Hauptmasse getrennt hatten, ist nichts mehr bekannt geworden. (Anm. d. Uebers.)
- ↑ In dem aus Persien uns zugegangenen Briefe wird mitgeteilt, daß ca. 150 solcher geraubter Frauen und Mädchen auf persischen Märkten als Sklavinnen für 8 gran (= 5 Mark) öffentlich feilgeboten worden seien. (Anm. d. Uebers.)
- ↑ Das altberühmte Kloster Warag ist Stammsitz einer gleichnamigen Kongregation, hat eine bedeutende Bibliothek und eine vielbesuchte Klosterschule. (Anm. d. Uebers.)