Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Dritter Teil

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III.
Armenien vor den Massacres.
Von E. J. Dillon.[1]

Die wirkliche Macht der Türkei in Armenien datiert vom Jahre 1847, als Osman Pascha der weltlichen Macht der kurdischen Derebeken in den fünf südöstlichen Provinzen (Wan, Bitlis, Musch, Bajezet und Diarbekr) den Gnadenstoß versetzte. – In diesem langen Zeitraume von 50 Jahren können wir zwei Perioden unterscheiden: 1847–1891 die Periode der schmachvollen Regierung und 1892–1894 die Periode der Vernichtungspolitik. – Zureden oder Einreden kann viel thun, um die Uebel zu lindern, die aus dem ersten System fließen, aber nichts als Gewalt kann gegen das letztere etwas ausrichten. – Und in diesem Sinne ist die Anschauung, die Lord Salisbury kürzlich ausgesprochen hat, völlig korrekt.

Im Jahre 1891 beschloß die Hohe Pforte, die ernstliche Gefahren von der versprochenen Einführung von Reformen in Armenien und von der feindseligen Stimmung der Christen, die an der russischen Grenze wohnten, im Falle eines Krieges befürchtete, zwei Vögel mit einem Steine zu töten und schuf die sogenannte Hamidieh-Reiterei, die ausschließlich aus Kurden gebildet wurde. Es war dies eine Anwendung desselben Grundsatzes, demzufolge Aufrührer und Revolutionäre die Gefängnisse öffnen und die Sträflinge auffordern, die Angehörigen der höheren Stände umzubringen. Der Plan, der von einigen der höchsten Würdenträger des Reiches vorgelegt wurde, ging dahin, die Armenier aus den Grenzgebieten auszutreiben und ihr Land von Muhammedanern in Besitz nehmen zu lassen, ferner die Zahl der Christen in den fünf Provinzen so zu vermindern, daß künftig das Bedürfnis nach Reformen für dieselben wegfiele und endlich die Kurden im Kriegsfall als Gegengewicht gegen die Kosacken zu benutzen. – Diese klare Vernichtungspolitik ist treulich befolgt und seit damals noch bedeutend ausgedehnt worden und wird zweifellos, wenn ihr nicht schleunigst ein Ende gemacht wird, eine definitive Lösung der armenischen Frage herbeiführen. Eine Lösung freilich, die ein Hohn auf alle Civilisation und für die Christenheit eine ewige Schande sein wird. Die eingereihten Kurden werden in ihren heimatlichen Sitzen belassen, vom Militärdienste befreit, mit Waffen versehen, mit der Unverletzlichkeit von Gesandten ausgestattet und mit der der hohen Pforte eigentümlichen Regelmäßigkeit bezahlt. Und sie führten ihre Mission mit peinlicher Genauigkeit aus: sie beraubten reiche Armenier, zündeten die Häuser an, verbrannten Korn und Heu, plünderten Dörfer, trieben Vieh weg, entführten junge Mädchen, entehrten verheiratete Frauen, trieben die Bevölkerung ganzer Distrikte weg und töteten alle, welche mutig oder verrückt genug waren, einen Widerstand zu versuchen. Armenier gehören jetzt zu den ärmsten und elendesten Menschen auf dem Erdball. –

Aber vielleicht sah die türkische Obrigkeit diese Folgen nicht voraus, oder wurden diese von den türkischen Gerichtsbarkeiten mißbilligt? Die Obrigkeit hat diese Folgen nicht bloß vorhergesehen sondern diejenigen, die sie thatsächlich herbeiführten auf alle Weise unterstützt, gefördert und belohnt. Und wenn je ein Armenier sich zu beklagen wagte, wurde er von den Beamten, die er bezahlte, damit sie ihn schützen sollten, nicht nur nicht angehört, sondern in ein abscheuliches Gefängnis geworfen, gefoltert und auf eigentümliche und schreckliche Weise mißhandelt – zur Strafe für seine Unverschämtheit und Anmaßung. –

Es hat sich nun herausgestellt, daß das Blutbad von Sassun eine wohl überlegte That der Vertreter der Hohen Pforte gewesen ist, sorgfältig von denselben vorbereitet und unbarmherzig ausgeführt trotz der Bedenken kurdischer Räuber und der vereinzelten Spuren menschlichen Gefühls, das sich sogar in den Herzen türkischer Soldaten regte. –

Darüber zu klagen, daß in Armenien Leben und Eigentum nicht sicher sind, ist daher, solange das Land von der Hohen Pforte ohne Kontrolle regiert wird, ungefähr ebenso vernünftig, als wenn ein Soldat während eines Gefechtes über die Gefahr für seine Gliedmaßen sich beschweren würde. Die Folge, über die geklagt wird, ist genau das Ziel, das man erreichen will, und daß es so vollständig erreicht wird, ist nur ein Beweis für die Wirksamkeit der angewendeten Mittel. Ein hervorragender Staatsmann des Auslandes, der gewöhnlich für einen waschechten Türkenfreund gilt, sagte neulich in einer vertraulichen Unterredung zu mir: die türkische Regierung in Armenien könne am besten bezeichnet werden als organisierter Diebstahl, legalisierter Mord und preisgekrönte Unzucht. – Gegen ein solches System zu protestieren, ist ja recht und gut, wird aber schwerlich viel helfen. Ein Menschenfreund, der ein Gefängnis besucht, mag sich wohl entsetzen, wenn er einen Sträfling vorfindet, der an Händen und Füßen gebunden ist; aber er wird sich schwerlich lange mit Klagen aufhalten, wenn er erfährt, daß der Gefangene zum Tode verurteilt ist, und im nächsten Augenblicke aufgehängt werden wird. Der erste Schritt, der bei der Ausführung des „Vernichtungsplanes“ gethan wurde, war, daß man systematisch daran ging, die Armenier an den Bettelstab zu bringen. Dies macht sich ganz natürlich in einem Lande, dessen Beamte acht oder zehn Monate lang auf ihren Gehalt warten müssen, und dann noch mit einem Bruchteil dessen, was ihnen zukommt, sich begnügen müssen. – „Ich habe seit 20 Wochen keinen Pera bekommen und kann nicht einmal Kleider kaufen“, erklärte der alte Beamte, der die Aufgabe hatte, mich in Erzerum Tag und Nacht zu „beschatten“. „Zahlt man Ihnen den Gehalt regelmäßig?“ fragte ich den Chef des Telegraphenamtes in Kutek. „Nein, Effendi, nicht regelmäßig“, antwortete er. „Ich habe seit acht Monaten nicht das Geringste erhalten. Doch ja, der Gehalt für einen Monat wurde mir am Beiramfeste gegeben“. „Wie bringen Sie sich denn durch?“ – „ärmlich“. „Aber Sie müssen doch etwas Geld haben, um Leib und Seele zusammenzuhalten“. „Ich habe etwas, natürlich, nicht aber genug. Allah ist barmherzig. Sie haben mir ja eben selbst etwas Geld gegeben“. „Jawohl, aber das ist doch nicht für Sie, das ist der Betrag für die Depeschen. Das Geld gehört dem Staate“. „O“, sagte er, ich behalte alles Geld, das vom Publikum eingezahlt wird. Ich nehme es als Abschlagszahlung auf meinen Gehalt. „Es beträgt ja nicht viel; aber es mag sein, wie es will, ich stecke es in die Tasche“. Diese Leute sind natürlich kleine Beamte, aber sie befinden sich in keiner wesentlich anderen Lage als die Majorität der höheren Beamten; und Richter, Offiziere, Bezirkskominandanten, Valis etc. sind ganz ebenso „arm am Beutel“, aber unvergleichlich viel habgieriger. –

Thasie Pascha, der letzte Generalgouverneur von Bitlis, kann als Typus der hohen türkischen Würdenträger in der Vernichtungsperiode angesehen werden. – Er war ein habgieriger Geizhals und so grausam wie Ruppiero, der Feind Ugolinos, und so kalt wie Kapitän Malagar in Spencers „Feenkönigin“. Er hatte die Gewohnheit eine Menge reicher Armenier einzustecken, ohne eine Anklage, und ohne auch nur zu versuchen, einen Vorwand zu finden. – Dann wurde ihnen der Vorschlag gemacht, mit enormen Summen, welche den größten Teil ihres Vermögens ausmachten, die Freiheit zu erkaufen. Weigerten sie sich zu bezahlen, so wurden sie in einer Weise mißhandelt, daß die Folterungen der Juden im Mittelalter und die Qualen der Eunuchen der Prinzessinnen von Oude im heutigen Indien im Vergleich damit leichte Züchtigungen waren. Einige Männer mußten Tag und Nacht aufrecht stehen und durften weder essen, noch trinken, noch sich rühren. Wenn sie Kraft und Bewußtsein verloren, so brachte kaltes Wasser oder heißes Eisen sie bald wieder zu sich, und die Prozedur konnte fortgesetzt werden. Da die Türken hierbei über Zeit und Ausdauer im reichsten Maße zu verfügen hatten, so endigte die Sache meistens damit, daß die Armenier alles opferten, was das Leben wertvoll machte, nur um den entsetzlichen Martern zu entgehen. Sie mußten opfern oder wurden geopfert und wählten schließlich in der Regel das, was ihnen das kleinere Uebel zu sein schien.

In dem Vilajet von Bitlis wurden mehrere 100 Armenier, welche Geld oder Vieh besaßen, oder reichlich geerntet hatten, ganz willkürlich ins Gefängnis geworfen und nachdem sie große Summen bezahlt hatten, wieder frei gelassen. Einige, welche das Geld nicht auf einmal hinlegen konnten, wurden in ekelhaften Gefängnissen so lange festgehalten, bis sie die verlangte Summe zusammengebracht hatten oder durch den Tod befreit wurden. Gegen 100 Armenier starben allein im Gefängnis von Bitlis. Folgende Bittschrift, die von einem wohl bekannten Mann, dessen Namen ich veröffentliche, gezeichnet und an mich – und wenn ich nicht irre, auch an die auswärtigen Vertreter in Musch – gesandt wurde, giebt vielleicht einen kleinen Begriff davon, wie der Vali von Bitlis seine Provinz regierte: „Wir, die wir der türkischen Regierung mit der größten Treue gedient haben, werden, besonders seit einigen Jahren, mißhandelt und unterdrückt, bald durch die Regierung selbst, bald durch kurdische Räuber. So wurde ich im vergangenen Jahre (1894) plötzlich in meinem eigenen Hause durch türkische Polizeisoldaten und Gendarmen verhaftet und in das Gefängnis zu Bitlis gebracht, wo ich mißhandelt und in schauderhafter Weise gefoltert wurde. Nachdem ich vier Monate dort gefangen gewesen war, wurde ich freigelassen gegen Bezahlung von 450 türk. Pfd. (9000 Mk.). Kein Grund, nicht einmal ein Vorwand für diese Behandlung wurde angegeben. Als ich heimkam, war mein Haus in Unordnung, mein Geschäft ruiniert, mein Vermögen verloren. Mein erster Gedanke war, bei der türkischen Regierung auf Schadenersatz zu klagen, ich unterließ es aber aus Furcht, daß ich wieder verurteilt werden könnte. – Da ich höre, daß Sie nach Armenien gekommen sind, um die Lage des Volkes zu erforschen, so wage ich es, Sie um Gottes willen zu bitten, diese Thatsachen zu berücksichtigen.“ – Gezeichnet: Boghos Darmanian aus dem Dorfe Sknakhodja bei Manazkw.

Im Jahre 1890 war der Dorfälteste von Odandjor in Bulanyk – er hieß Abdal – ein für die dortigen Verhältnisse reicher Mann. Er besaß 50 Büffel, 80 Ochsen, 600 Schafe, außerdem Pferde u. s. w. Die Frauen in seiner Familie trugen goldenen Schmuck im Haar und auf der Brust, und er bezahlte 50 türk. Pfd. Steuern jährlich in die Staatskasse. Das war 1890. Im Jahre 1894 war er gänzlich verarmt, im tiefsten Elend und dem Hungertode nahe. Sein Dorf und die ganze Gegend war ausgeplündert, und die Bewohner sozusagen nackt ausgezogen worden, die türkischen Behörden aber sahen mit beifälligem Lächeln zu. Während des Jahres 1894 wurden allein in den Distrikten von Bulanyk und Musch nicht weniger als 1000 Stück Rindvieh und Schafe von den Kurden weggetrieben.

Dies war die Methode, die im ganzen Lande üblich war; im einzelnen kamen je nach der Lage der Dinge, der Ortschaften etc. Verschiedenheiten vor, aber die Mittel und der Zweck waren immer gleich. Das Resultat ist das völlige Verschwinden allen Reichtums und ein mit rasender Schnelligkeit überhand nehmendes, intensives und unheilbares zur Verzweiflung und zum Wahnsinn treibendes Elend.

Zwischen dem Vali oder Generalgouverneur und dem Zaptieh der Steuereinnehmer giebt es viele Stufen der Beamtenhierarchie, aber an jeder derselben bleibt ein Teil des Besitzes fleißiger Armenier hängen. Zweifellos giebt es ja schlimmere Dinge als den Verlust des Eigentums – und kühle Engländer möchten ihre Sympathien lieber für diejenigen aufsparen, die jene erduldet haben – aber auch ein solcher Verlust ist schlimm genug, wenn er herbeigeführt wird nicht durch ein Verbrechen oder Zufall oder Nachlässigkeit, sondern lediglich durch schamlose und empörende Ungerechtigkeit, zumal wenn der Verlierer eine Familie von 15–20 Personen zu ernähren hat. Und daß der Verlust des Eigentums sehr oft viel größere Verluste in sich schließt, werden wir nachher sehen.

Im Juli 1892 kam ein Kapitän von Sr. Majestät Hamidieh-Reiterei, Idris mit Namen, eine Zierde des Hassanly-Stammes, nebst seinem Bruder, um eine Kontribution an Futter von den Einwohnern von Hamsisheikh einzufordern. Sie wandten sich an zwei armenische Notabeln, Ali und Hatchadoor, und befahlen ihnen, das verlangte Heu herbeizuschaffen. „Wir haben im ganzen Dorfe nicht so viel“, antworteten sie. „Schafft das Heu herbei ohne viele Umstünde, oder ich schieße euch tot“, erklärte Jdris. „Aber so viel Heu giebt es nicht, und wir können es nicht verschaffen.“ „Dann müßt ihr sterben“, sagte der edle Kapitän und schoß sie auf der Stelle tot. Eine feierliche Klage wurde gegen Idris eingereicht, und der Kaimakam, zu seiner Ehre sei es gesagt, ließ ihn arretieren und behielt ihn vier Wochen im Gefängnis. Dann bezahlte der Ehrenmann das übliche Lösegeld und wurde freigelassen. Ungefähr 30 ähnliche Mordthaten wurden in demselben Distrikte von Bulanyk in jener Zeit mit der gleichen Oeffentlichkeit und der gleichen Straflosigkeit verübt.

Zuerst pflegten die Armenier zu klagen, wenn ihre Verwandten oder Freunde getötet wurden, in der Hoffnung, daß der Arm der strafenden Gerechtigkeit die Mörder ergreifen und andere, die sich versucht fühlen könnten hinzugehen und desgleichen zu vollbringen, abschrecken werde. Aber es wurde ihnen bald abgewöhnt. Auf welche Weise dies geschah, kann man aus dem folgenden Vorgang ersehen: Im Juli 1892 ritt ein Kurde, Namens Achmed Oglor Badal, nach Govanduk und trieb 4 Ochsen weg, die einem Armenier, Namens Morkho, gehörten. 1892 wurde das Gesetz, welches den Christen verbietet, Waffen zu tragen, noch nicht strikt beobachtet. Morkho also, der einen Revolver hatte, und sah, daß der Kurde im Begriff war zu schießen, feuerte auf ihn. Beide Schüsse gingen gleichzeitig los, und beide Männer fielen tot nieder. Was sich nun ereignete, war folgendes: Neunzehn Armenier aus dem Dorfe, von welchen keiner irgend etwas von dem wußte, was vorgegangen war, wurden verhaftet und eingesperrt. Man teilte ihnen dann mit, daß sie gegen ein hohes Lösegeld freigelassen werden würden. Zehn von ihnen bezahlten und wurden sofort entlassen. Der Rest wurde lange im Gefängnis gehalten. Keinem der Kurden geschah das geringste. „Warum sollte ein Muhammedaner dafür bestraft werden, daß er Armenier tötet?“ fragte mich ein kurdischer Räuber, der auch Hamidieh-Offizier war. „Das wäre ja unerhört.“ Ja, in der That, warum? Daß die Verwandten des Ermordeten bestraft, sogar streng bestraft werden, das erscheint einem Muhammedaner recht und billig – vielleicht weil es so üblich ist. –

Im August 1893 überfielen die Djibranly-Kurden das Dorf Kaphik, plünderten es und verwundeten einen Kaufmann, namens Oannes, der in seinem Laden beschäftigt war. Am nächsten Tage ging Oannes zum Untergouverneur (Kaimakam) von Khnoussaberd und erhob Klage, worauf ihn der Kaimakam wegen Lügens ins Gefängnis sperrte. Die Leiden, die er in jenem Typhusloche zu erdulden hatte, sind kaum zu glauben, aber das gehört in ein anderes Gebiet. Nach acht Tagen brachten seine Nachbarn einen Kurden zum Kaimakam, der bezeugte, daß Oannes wirklich in der von ihm angegebenen Weise verwundet worden war und also nicht gelogen hatte. – Auf dies hin, und erst auf dies, geruhte die Obrigkeit, den Leuten gnädigst zu gestatten, ein Lösegeld von 10 Pfund zu bezahlen, um den verwundeten Mann frei zu bekommen.

Die Einwohner von Krtaboz (einem Dorfe in Bassem) erzählten mir wunderbare Dinge, die sie von den Kurden sich hatten gefallen lassen müssen, die ihnen ihre 23 Ochsen, 28 Pferde, 60 Kühe und 20 Schafe weggetrieben hatten. Wie es dabei zuging illustriert folgende Geschichte: „Im letzten Mai (1894) überfielen 12 berittene Hamidieh unser Dorf und ergriffen unsern Priester Ter David. Sie versprachen ihn loszulassen, wenn er 6 Pfund bezahle. Er entlehnte die Summe, zahlte sie den Räubern und wurde losgelassen. Tags darauf ging Guil Bey nach Hassankaleh, um vor Gericht zu klagen. Man beschimpfte ihn, nannte ihn Lügner und ließ ihn einsperren. Nachdem er 40 Tage in dem abscheulichen Loch, das man dort Gefängnis nennt, zugebracht hatte, erlaubte man ihm, ein Lösegeld von 7 Pfund zu bezahlen und heimzugehen.

Es wird niemals eine Sühne auferlegt für eine Schädigung, die einem Christen an Besitz, Gut, Leib oder Leben durch Muhammedaner zugefügt würden ist, nicht weil die Gerichtsbeamten zu faul oder zu achtlos wären, sondern weil sie nicht dürfen. Der Beweis hierfür, wenn ein Beweis überhaupt verlangt wird, ist, daß die Kläger sofort selbst dafür bestraft werden, daß sie eine Klage gegen ihre Bedränger vorgebracht haben. Wenn dagegen irgend einmal ein Kurde oder Türke das Opfer eines „Verbrechens“ oder auch nur eines Zufalls wird, dann kennt die Energie der Regierungsbeamten keine Grenzen. Im Frühjahr vorigen Jahres wandelten einige arme Kurden am Ufer des Flusses in der Nähe von Hußnahar entlang, als der Schnee gerade taute, und Flüsse und Bäche stark angeschwollen waren. Sie waren armselige Bettler, die sich kärglich von Almosen ernährten. Bei einem Versuche, den Fluß zu überschreiten, wurden sie fortgerissen und ertranken. Sofort wurden die Armenier des Dorfes beschuldigt, sie ermordet zu haben, und vier angesehene Männer unter diesem durchsichtigen Vorwand eingekerkert. Der wirkliche Grund ließ sich unschwer erkennen. Nach Verlauf von 7 oder 8 Monaten wurde den Leuten im Dorfe mitgeteilt, daß die Gefangenen gegen ein Lösegeld von 75 Pfund losgelassen werden würden. Die Summe wurde zusammengebracht, der Obrigkeit bezahlt, und die Gefangenen waren dann frei. Ich habe selbst zwei von ihnen, Atam und Dono, gesehen.

Die Abgaben, die die Armenier zahlen müssen, sind an sich schon übermäßig hoch, die Trinkgelder, die dazu gehören und von den Zaptiehs verlangt werden, können jede beliebige Höhe erreichen und die seltsamsten Formen annehmen, während die Art, wie beide eingesammelt werden, genügt, um die Forderung zu rechtfertigen, daß die türkische Wirtschaft aus Armenien weggefegt werde.

Um nur ein Beispiel davon anzuführen, wie verschieden in Städten die Muhammedaner und Christen eingeschätzt werden: es bezahlen die Muhammedaner in Erzerum, die 8000 Häuser besitzen, nur 395 000 Piaster, während die Christen, denen nur 2000 Häuser gehören, 430 000 Piaster bezahlen.

In den ländlichen Distrikten ist alles ohne Ausnahme hoch besteuert, aber die schwerste gesetzliche Steuerlast ist leicht, verglichen mit den Abgaben, welche die Regierungsorgane, die Zaptiehs, erpressen. Eine Familie z. B. soll 5 Pfund bezahlen und kommt ihrer Verpflichtung nach. Die Zaptiehs jedoch verlangen 3 oder 4 Pfund mehr, für sich selbst. Es wird ihnen verweigert. Nun wird zunächst gehandelt, und man einigt sich auf 1 Pfund. Aber die Zaptiehs sind beleidigt und sinnen auf Rache. Nach einer Woche kommen sie wieder und verlangen die Steuern noch einmal. Die Armenier werden böse und zeigen die Quittung vor; die Zaptiehs lachen und behaupten, daß das vorgezeigte Dokument keine Quittung, sondern ein Blatt aus einem türkischen Buche sei. Nun schützen die Bauern ihre Armut vor und bitten um Gnade. Habsucht, nicht Gnade, bestimmt die Zaptiehs, sich mit drei weiteren Pfunden zu begnügen. Nun wird vielleicht das Geld nicht gleich bezahlt. Dann verlangen die Zaptiehs die Auslieferung der jungen Weiber und Mädchen der Familie, um ihre bestialischen Gelüste zu befriedigen. Eine Weigerung wird mit einer Reihe von Quälereien bestraft, über welche Schamgefühl und Menschlichkeit den Schleier des Schweigens breiten müssen. Entführung und jede Art roher Ausschreitungen, auf welche nur das kranke Hirn orientalischer Lüstlinge kommen kann, vielleicht auch Mord und Brandstiftung schließen das Geschäft der Steuererhebung ab.

Ich habe mit solchen Opfern dieser Beamten der Hohen Pforte gesprochen; ich habe ihre Wunden gesehen, ihre Familien ausgefragt, ihre Priester ausgeforscht, ihre Verfolger, ihre Gefängniswärter (da einige von ihnen wegen Klagens eingesperrt wurden) habe ich gehört, und ich behaupte ohne Zögern, daß die Greuel nicht nur Thatsachen sind, sondern auch, daß sie oft vorkommen. Das Folgende ist die Uebersetzung eines Dokumentes, das in meinem Besitz ist, gezeichnet und gesiegelt von den Bewohnern von Melikan, das erst am 21. März 1895 an seine „Seligkeit den heiligen“ Erzbischof von Erzerum, einen Würdenträger, der von Freund und Feind hochgeachtet wird, gerichtet wurde.

„Seit langer Zeit haben die vier oder fünf Zaptiehs, welche mit Einsammlung der Kaiserlichen Steuern beauftragt sind, unser Dorf zu ihrem Hauptquartier gemacht und zwingen die Bewohner der umliegenden Landschaft hierher zu kommen, um ihre Steuern zu bezahlen. Sie essen, trinken und füttern ihre Pferde auf unsere Kosten und zeigen ganz offen, daß sie entschlossen sind, uns an den Bettelstab zu bringen. Letzthin kamen sieben andere Zaptiehs, welche nicht einmal den Vorwand hatten, daß sie Steuern eintreiben sollten, in unser Dorf, schlugen die Einwohner, beschimpften den christlichen Glauben und entehrten unsere Frauen und Töchter; hierauf ergriffen sie drei Männer, welche Einspruch erhoben, Kogllo, Mardig und Krikor, banden sie mit einer doppelten Kette und hingen sie bei den Füßen am Gebälk auf. Sie ließen sie so lange in dieser Lage, bis ihnen das Blut aus der Nase floß. Die armen Leute wurden infolge dieser Mißhandlung krank. Die Zaptiehs jedoch erklärten öffentlich, daß sie die Leute nur auf ausdrücklichen Befehl des Polizeichefs so behandelt hätten.

Wir wenden uns daher an die Kaiserlichen Gerichte und bitten, uns aus dieser unerträglichen Lage zu befreien.

21. März 1895. Die Einwohner des Dorfes Melikan.

gez. Katshere.

Hier ist eine andere Petition aus demselben Kazadistrikte, ebenfalls an den Erzbischof von Erzerum gerichtet:

Eine Anzahl von Zaptiehs ritten unter dem Vorwand der Steuererhebung um 10 Uhr Abends in unserem Dorfe ein, erbrachen die Thüren zu unseren Wohnungen, ergriffen unsere Weiber und Kinder und warfen sie halbnackt auf die Straßen. Dann schlugen und mißhandelten sie dieselben unbarmherzig. – Zuletzt wählten sie über 30 von unseren Frauen aus, sperrten sie in eine Scheune und verübten Notzucht an ihnen. Ehe sie abzogen, nahmen sie nach ihrer Gewohnheit alles Futter und alle Vorräte, die wir hatten, weg. Wir bitten Sie, diese Vorgänge zur Kenntnis zu nehmen und die Gnade des Sultans anzurufen.

26. März 1895. Die Einwohner von Arak.

Mooradian, Ressian, Berghoyan, Melkonian.

Ich war selbst in dem Hause eines armenischen Bauern in dem Torfe Kipr-Kieu anwesend, als einige berittene Zaptiehs ankamen, die Hausbewohner weckten und in unverschämtem Tone Speise für sich, Hafer für die Pferde und Nachtquartier verlangten. Was sie noch mehr gefordert haben würden, kann ich nicht sagen; denn ich zog meinen Wirt aus der Verlegenheit, indem ich den Zaptiehs die Aufnahme verweigerte mit der Angabe, daß ich das Haus für die Nacht gemietet habe. Ein Wunder ist es also nicht, daß die Bauern des Distriktes von Khnouß in der Petition, die sie mir mit der Bitte übergaben, sie dem „edlen und menschenfreundlichen Volke von England“ vorzulegen, sich darüber beklagen, „daß die einst glückliche und fruchtbare Gegend jetzt verwüstet und verödet daliege.“

Also dies sind die Greuel, betreffs deren einige erleuchtete Leute in England sich so äußern: „Ach, diese Armenier und Kurden liegen in ewigem Streite, und etwas mehr oder weniger Blutvergießen ändert nichts an der allgemeinen Sachlage.“ Es ist dies ja in einem gewissen Sinne wahr, so nämlich, wie man sagen kann, daß die Schafe mit den Wölfen in ewigem Kriege leben, anders aber nicht. Die Armenier sind nämlich durchweg friedliche Leute, die eifrigsten Landwirte auf dem Lande und passionierte Kaufleute in der Stadt. Für den Fall jedoch, daß irgend einmal das Pflichtgefühl oder der Selbsterhaltungstrieb oder ihre tiefgewurzelte Liebe zu ihren Angehörigen ihren natürlichen Abscheu vor allem Blutvergießen überwinden sollte, so ist ihnen verboten, Waffen zu haben, und die wenigen, die sich gegen dieses Verbot vergehen, werden in einer Weise gequält, daß sie einem hartgesottenen Anhänger des Konfucius die Schamröte in die Wangen treiben müßte. Nein, die Armenier müssen sich zu ihrem Schutze ausschließlich auf die türkischen Soldaten und die türkischen Gesetze verlassen.

Die Art dieses Schutzes nun, der von den kaiserlichen Truppen gewährt wird, offenbarte sich aufs deutlichste im letzten August und September an den Abhängen von Trfekar und auf den Bergen von Andok – in den Hütten von Dalvorik und dem Thale von Ghellygoozan. – Die Dörfer Odandjor, Hamzasheikh, Kakarloob, Kharagul, die 1890 und 1891 blühende und reiche Ortschaften waren, enthielten im Jahre 1894 nicht ein einziges Schaf, kein einziges Pferd, keinen Ochsen. Die Ställe waren verödet, die Scheunen leer, und die Asche von 70 großen Kornschobern erzählte das Uebrige. – Dies war das Werk der Kurden, deren Freunde, die türkischen Soldaten, in jener Gegend im Quartier lagen, und zwar 200 Reiter in Yondjalce, eine halbe Stunde von Odandjor entfernt, 200 in Kop und 100 in Shekagoob. Der Schutz, den sie gewähren konnten, wurde den Kurden zu teil, und ihr Lohn bestand in einem Teile der Beute.

Der Schutz, den die türkischen Gesetze gewähren, ist ähnlicher Natur, bloß noch viel verderblicher für diejenigen Armenier, welche ihn suchen. Einige Thatsachen, für deren Wahrheit eine Wolke von Zeugen einsteht, die durch ausländische Konsuln verbürgt, durch amtliche Schreiben bestätigt sind, mögen vorläufig genügend Licht auf die eigentümlichen Formen werfen, welche die türkische Gerechtigkeit in Armenien einnimmt.

Kevork Vartanian aus dem Dorfe Mankassar bezeugt unter anderem folgendes: 1892 kam ein Kurde, Namens Andon, der Sohn des Kerevasch (von dem Stamme Tschalal) mit seinen Kameraden in mein Haus und nahm mir 5 Pfund in Gold weg, die ich mir gespart hatte, um Saatkorn zu kaufen. Ich reichte eine Klage gegen ihn ein, aber die Obrigkeit wies mich mit Verachtung ab. Als Andon hörte, daß ich ihn verklagt hatte, kam er eines Nachts mit 12 Männern wieder, nahm auf dem Dache Aufstellung und feuerte durch eine Oeffnung in meine Wohnung. Meine Schwiegertochter, Yezeko, wurde von einer Kugel getroffen und starb. Ihre zwei Knaben und mein zwei Jahre altes Kind Missal kamen ebenfalls dabei ums Leben. Dann drangen die Kurden in die Wohnung ein und nahmen meine Möbel, Kleider 4 Ochsen und 4 Kühe. Ich eilte nach dem Dorfe Karakiliffe und klagte bei Rahim Pascha. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er: „Die Hamidieh sind des Sultans Krieger. So zu handeln ist ihr Recht. Ihr Armenier seid Lügner.“ Und wir wurden ins Gefängnis geworfen. Wir wurden nicht freigelassen, bis wir nicht 2 Pfund in Gold bezahlt hatten.

Im folgenden Winter kamen 200 Soldaten unter Führung des Rahim Pascha selbst in unser Dorf. Er sagte uns sofort, daß es ungesetzlich sei, wegen der Thaten der Kurden zu klagen. Dann quartierte er sich und seine Truppen bei uns ein und verlangte täglich acht Schafe, 10 Metzen Hafer und außerdem Eier, Hühner und Butter. 40 Tage hinter einander lieferte unser Dorf alle diese Nahrungsmittel gratis. Als Entgelt bekamen wir Flüche und Schläge. Rahim Pascha, der sich über seinen Wirt Pare erzürnte, weil derselbe gemurrt hatte, ließ einen kupfernen Kessel am Feuer erhitzen und dem Pare auf den Kopf setzen. Dann zog er ihn nackt aus und ließ ihn mit Zangen an Armen und Beinen zwicken.

Kaum hatten diese Elenden unser Dorf verlassen, als Aïpé Pascha mit 60 Reitern einzog. Als sie sahen, daß keine Schafe mehr im Dorfe zu bekommen waren, schlachteten und aßen sie unsere Ochsen und Kühe. Nachdem sie uns sechs Tage lang in jeder denkbaren Weise drangsaliert hatten, zogen auch sie wieder ab. Wem konnten wir unsere Klagen vortragen, wenn die obrigkeitlichen Personen selbst solche Dinge thaten? Es blieb uns nichts übrig, als das Land zu verlassen, und dies thaten wir denn auch.“

Ein anderer Fall, in welchem die Frau eines protestantischen armenischen Missionars, Frau Sookyassian aus dem Dorfe Todoverau, das Opfer war. Ich kenne die Familie persönlich und habe die Porträts von allen Familiengliedern, auch von der Dame, die später ermordet wurde. Am 12. September 1894 (so bekundete Armenog Sookyassian, der Sohn dieser Frau) saßen wir bei Tische in dem Hause meines Vaters, als ein Knabe kam und uns sagte, daß Türken und Kurden angekommen seien und die Christen angreifen. Mein Bruder ging über die Straße in unseren Laden, um einen Revolver zu holen. Inzwischen drangen 16 Kurden in die Straße ein, bestiegen die Dächer und feuerten. Wir verbarrikadierten die Thüre, aber sie brachen sie auf. Eine Kugel traf meine Mutter in die Schulter, aber ohne sie ernstlich zu verwunden. Sie verteidigte sich nun vom Dache aus mit Steinwürfen. Ein Muhammedaner erhob sein Gewehr, zielte sorgfältig und drückte ab. Die Kugel traf sie in die Wange und ging unter dem Ohre wieder heraus, indem sie das halbe Gesicht wegriß. Sie fiel, wurde ins Haus getragen, verlangte Wasser und starb am andern Morgen. Wir klagten, aber niemand wurde bestraft.

Noch ein typisches Beispiel, und dann bin ich mit diesem Teile meines Beweises fertig. Der Fall, den ich jetzt erzählen werde, ist nicht bloß den Aussagen der beteiligten Personen entnommen, sondern amtlichen Berichten, die gezeichnet und gesiegelt sind von Regierungsbeamten, die ich selbst gesehen habe. Er wirft ein helles Licht auf die türkische Gerechtigkeit und enthält eine gewaltige Lehre für die Leute, welche immer noch türkischen Versprechungen glauben, als die beredtesten Auseinandersetzungen.

Im Juni 1890 ereignete sich im Dorfe Alidjikrek ein doppeltes Verbrechen. Die armenischen Hirten, welche die Herden weideten, kamen in größter Aufregung ins Dorf gerannt und riefen um Hilfe: „Die Kurden von Ibil-Ogloo Ibrahim sind mit ihren Herden gekommen und haben uns von unserm Weideland vertrieben!“ Das ist so eines der gewöhnlichen Vorkommnisse im türkischen Armenien. Vier junge Männer gingen hinaus, um mit den Kurden zu verhandeln. Aber kaum hatten sie den Platz erreicht, als die Kurden feuerten und einen der jungen Leute, Namens Hossep, auf der Stelle töteten. Ein zweiter wurde tätlich verwundet; sein Name war Haroothioon. Ihre Kameraden flohen in Todesangst nach dem Dorfe zurück. – Die Leute stellten in ihrem Schrecken die Arbeit ein; der Priester und einige der angesehensten Einwohner des Ortes begaben sich nach dem Schauplatze des Mordes, während andere davon ritten, um die Gendarmerie zu benachrichtigen. Die Zaptiehs (Gendarmen) waren bald zur Stelle, von einem Regierungsbeamten begleitet. Sie fanden Hossep tot und den Ortsgeistlichen Ter Ohannes damit beschäftigt, dem sterbenden Haroothioon die Sterbesakramente zu reichen. Sie befahlen sofort, das Beten einzustellen und fragten in drohendem Tone: „Wo sind die kurdischen Mörder?“ „Sie sind geflohen!“ war die Antwort. „So! Vermutlich habt ihr sie getötet, ihr Hunde, und sie heimlich verscharrt. Ihr seid alle verhaftet.“ Und sich zum Priester wendend: „Du auch; vorwärts!“ – Sie wurden alle nach Hassankaleh geschleppt und in das abscheuliche Gefängnis dort gesteckt. – Nach einiger Zeit wurden sie in das Gefängnis zu Erzerum übergeführt. – Der Ortsgeistliche Ter Ohannes war ein wohlhabender Mann. Das Ausplünderungssystem hatte damals erst begonnen. Sein Bruder Karabed und die 10 Unglücksgefährten waren auch in guten Verhältnissen, und es schien daher den Beamten wünschenswert, deren Besitz in andere Hände gelangen zu lassen. – Man ließ sie daher in den ungesunden Dünsten eines verrotteten orientalischen Gefängnisses vermodern. Die Zeit schleppte sich hin, Tag um Tag, Woche um Woche, bis sie ganz vergessen zu sein schienen. Ihre Angehörigen schwebten in endloser Todesangst, ihre Geschäfte gingen zu Grunde, ihre Gesundheit wurde ruiniert. In diesem Pandeimonium verbrachten sie ein ganzes Jahr – die schrecklichste Zeit ihres Lebens.

Endlich flehten sie ihre Verfolger demütig an, ihnen die Freiheit zu geben und das Lösegeld zu bestimmen. Man einigte sich und gab ihnen den Rat, Kurden auszusenden, um die Spur der kurdischen Mörder, die sie wiederum ermordet zu haben beschuldigt waren, zu verfolgen. „Wenn man sie findet, werdet ihr freigelassen.“ Die Kosten dieses Rates und die Ausführung desselben beliefen sich auf 400 Pfund, die sie zu 40%, entlehnen mußten. Natürlich war die Nachforschung mit Erfolg gekrönt. Kurdische und türkische Räuber, die bloß Christen umgebracht haben, haben es nicht nötig, sich zu verstecken oder bange zu sein. – Was sie thun, ist wohlgethan. Die betreffenden Helden wurden also glücklich gefunden, und zwar als Angehörige von Sr. Majestät Lieblingstruppe – der Hamidieh-Kavallerie von Alaschkerd. Sie bekannten und leugneten nicht. Ein Heer von Zeugen – Türken und Kurden natürlich – Christen sind zu einem solchen Akte ungeeignet – sagten zu Gunsten der 12 gefangenen Armenier aus, die denn auch in Freiheit gesetzt wurden, allerdings am Beutel und an der Gesundheit ruiniert. Das Erkenntnis des Gerichtes lautete dahin, daß die Armenier, welche wegen Ermordung gewisser Kurden, die zwei Armenier umgebracht hatten, angeklagt gewesen waren, ihre Unschuld bewiesen hätten, indem man die betreffenden Kurden lebend und gesund und im Dienste des Beherrschers der Gläubigen als Hamadiehreiter stehend aufgefunden hätte.

Den kurdischen Mördern, um deren kostbares Leben man so viel Wesens gemacht hatte, wurde kein Haar gekrümmt; sie dienen Sr. Majestät dem Sultan mit demselben Eifer und mit derselben Treue wie zuvor.

Ein Hund bellt, wenn ein anderer Hund neben ihm totgeschossen wird. Diese Armenier murrten nicht einmal; sie riefen nur die Vertreter der kaiserlichen Gerechtigkeit herbei, und diese behandelten sie dann als Mörder.

Aber Christen in Armenien wagen nicht einmal den Anspruch zu erheben, so behandelt zu werden wie gehorsame Hunde von ordentlichen Herren behandelt werden.

Die Geschichten, die von diesen Hamadieh-Offizieren im allgemeinen und besonders von einem derselben namens Mostigo im Umlauf waren, schienen so fabelhaft unwahrscheinlich, daß ich mir die größte Mühe gab dahinter zu kommen, wieviel davon wahr sei. Als ich erfuhr, daß dieser bestimmte Fra Diavolo verhaftet worden sei und als gefährlicher Verbrecher in dem Gefängnis von Erzerum sitze, wo er wahrscheinlich gehängt werden würde, beschloß ich, wenn irgend möglich, eine Zusammenkunft mit ihm zu bewerkstelligen, um aus seinem eigenen Munde die Wahrheit zu erfahren. Anfangs wollte es mir nicht gelingen, da der Mörder sehr streng bewacht wurde. Nach langwierigen drei Wochen lang fortgesetzten Bemühungen gewann ich das Ohr des Gefängnisaufsehers, nachdem ich seinen Beutel zur Genüge gefüllt hatte. Sodann bestach ich den Räuber selbst, und das Resultat war, daß Mostigo die Erlaubnis erhalten sollte, heimlich das Gefängnis zu verlassen und sechs Stunden auf meinem Zimmer zuzubringen, um dann nach dem Kerker zurückgebracht zu werden.

Als der festgesetzte Tag herankam, weigerte sich der Aufseher seinen Pakt zu erfüllen, weil er einen Fluchtversuch des Verbrechers befürchte. Doch gelang es mir nun, zwei Geiseln für ihn zu stellen. Davon war einer ein kurdischer Landsmann, den der Räuber nach seinen Begriffen von Ehre niemals geopfert hätte, selbst nicht, um das eigene Leben zu retten. Endlich kam er eines Abends zu mir über die Dächer geklettert, damit die Polizisten, die vor meiner Thür aufgestellt waren, ihn nicht bemerken sollten. Ich behielt ihn die ganze Nacht da, zeigte ihn zweien der angesehensten Europäer der Stadt und ließ mich endlich, um keinen Zweifel an der Sache aufkommen zu lassen, am nächsten Morgen mit ihm zusammen photographieren.

Der Bericht dieses kurdischen Ehrenmannes ist ein herrlicher Kommentar zu dem türkischen Regierungssystem in Armenien. Ich kann ihn hier leider nicht vollständig geben. Einige kurze Auszüge sollen genügen.

Frage: Nun, Mostigo, ich wünsche aus deinem eigenen Munde einige deiner großen Thaten zu vernehmen. Ich werde sie niederschreiben, um sie den „Gutsbesitzern“ bekannt zu machen.

Antwort: Recht so. Teile sie den 12 Mächten mit. Er hatte offenbar keine Ahnung von Verantwortlichkeitsgefühl und auch keine Spur von Furcht vor gerichtlicher Bestrafung. Und doch sollte er bestraft werden, es hatte doch geheißen, daß er zum Tode verurteilt sei. Ich wollte diesen Punkt aufklären, frug also weiter.

Frage: Es thut mir leid, dich im Gefängnis zu finden. Bist du lange da?

Antwort: Es thut mir selbst leid. Fünf Monate, aber es scheint eine Lebenszeit.

Frage: Da sind wohl die Armenier daran schuld.

Antwort: Ja wohl.

Frage: Du hast, wie ich höre, zu viele derselben ins Jenseits befördert, ihre Frauen entführt, ihre Dörfer verbrannt und ihnen das Leben heiß gemacht.

Antwort: Das hat mit meiner Einkerkerung nichts zu thun. Ich werde nicht gestraft, weil ich Armenier beraubt habe. Das thun wir alle. Ich tötete selten, nur wenn sie Widerstand leisteten. Aber die Armenier verrieten mich, und ich wurde gefangen. Das ist’s, was ich meine. Aber wenn ich gehängt werde, so ist es nur, weil ich die türkische Post ausgeraubt und die Frau eines türkischen Obersten entehrt habe, die jetzt hier in Erzerum ist. Aber nicht wegen der Armenier. Was sind sie, daß ich ihretwegen leiden sollte?

Nachdem er einige Abenteuer erzählt hatte, wie er christliche Frauen geschändet, armenische Bauern getötet, die Post beraubt hatte und aus dem Gefängnis entkommen war, fuhr er fort:

Wir verrichteten nachher große Thaten, Thaten, die die 12 Mächte in Erstaunen setzen werden, wenn sie sie hören. Wir griffen Dörfer an, töteten Leute, die uns getötet haben würden, plünderten Häuser und raubten Geld, Teppiche. Weiber und Schafe. Groß waren unsere Thaten, und der Mund der Menschen war voll von ihnen.

Nachdem ich ihn mehrere dieser „großen Thaten“ hatte erzählen lassen, bei denen manchmal so etwa 50 Personen den Tod gefunden hatten, fragte ich:

Frage: Leisteten die Armenier oft Widerstand, wenn ihr ihnen ihr Vieh und ihre Weiber wegnahmet?

Antwort: Nicht oft. Sie können nicht. Sie haben keine Waffen, und sie wissen zu gut, daß es ihnen nichts helfen würde, auch wenn sie einige der unsern töten würden. Denn andere Kurden würden kommen und Rache nehmen. Die Türken hassen sie, wir nicht. Wir wollen nur Geld und Beute, und einige Kurden wollen ihr Land. Die Türken wollen ihr Leben. Vor einigen Monaten griff ich das armenische Dorf Kara Kiprin an und trieb alle Schafe weg. Ich ließ nicht eines zurück. In ihrer Verzweiflung verfolgten uns die Dorfleute und schossen einigemale auf uns, aber es war nicht der Rede wert. Wir trieben die Schafe Erzerum zu, um sie dort zu verkaufen. Aber unterwegs hatten wir einen Kampf in der Nähe des Dorfes Shenu. Die Bauern wußten, daß wir die Schafe ihren eigenen Leuten weggenommen hatten, und griffen uns an. Wir Kurden waren nur zu fünf, und ihrer waren viele, das ganze Dorf war hinter uns her. Zwei unserer Leute – bloß Rajahs (Gemeine) – wurden getötet. Wir töteten 15 Armenier. Es gelang ihnen, uns 40 Schafe abzunehmen. Die übrigen behielten wir und verkauften sie in Erzerum.

Frage: Habt ihr häufig viele Armenier getötet?

Antwort: Ja. Aber wir wollten es eigentlich nicht. Wir wollen nur Beute, nicht Menschenleben. Menschenleben haben für uns keinen Wert. Aber wir mußten manchmal den Leuten eine Kugel geben, um sie still zu machen, d. h. wenn sie Widerstand leisteten.

Frage: „Benütztet ihr oft Dolche?“

Antwort: „Nein, gewöhnlich unsere Gewehre. Wir müssen leben. Im Herbste sorgen wir dafür, daß wir soviel Korn bekommen, als wir den Winter durch brauchen und Geld dazu. Wir haben auch Vieh, aber wir bemühen uns nicht damit. Wir geben es den Armeniern, und lassen es von ihnen besorgen und füttern.

Frage: „Aber wenn sie sich weigern?“

Antwort: „O, dann treiben wir ihnen ihre Schafe weg, verbrennen ihnen ihre Häuser, ihr Heu und ihr Korn. Und so weigern sie sich lieber nicht. Wir verlangen im Frühjahr unser Vieh zurück und die Armenier müssen dieselbe Anzahl abliefern, die sie erhalten haben.“

Frage: „Aber wenn das Vieh an einer Seuche sterben sollte?“

Antwort: „Das ist Sache der Armenier. Sie müssen zurückgeben, was sie bekommen haben, oder wenigstens die gleiche Zahl. Das wissen sie gut. Wir können den Verlust nicht aushalten. Aber sie, warum nicht? Beinahe alle unsere Schafe sind von ihnen.“

Nachdem ich noch einer Menge von Erzählungen über seine Expeditionen, Mordthaten, Raubzüge, Entführungen etc. zugehört hatte, fragte ich wieder: „Kannst du mir noch weitere kühne Thaten erzählen, Mostigo, damit ich sie den 12 Mächten berichten kann?“ Ich erhielt die charakteristische Antwort:

„Der Wolf wurde einmal gebeten: Erzähle uns doch etwas von den Schafen, die du zerrissen hast! und er sagte: Ich habe Tausende von Schafen gegessen, von welchen derselben soll ich erzählen? So ist es auch mit meinen Thaten. Wenn ich zwei Tage lang forterzählte, würde noch vieles unerwähnt bleiben.“

Dieser Räuber ist ein Kurde und solcher Kurden giebt es viele. Ex uno disce omnes. – Und doch haben sich die Kurden als die menschlichsten unter allen Verfolgern der Armenier gezeigt. Wenn dieser Mensch Geld brauchte, dann raubte er; war er wollüstig, dann entehrte er Frauen und Mädchen; wenn er seine Beute verteidigte, tötete er Männer und Frauen, und bei alledem fühlte er sich völlig sicher davor, je zur Rechenschaft gezogen zu werden, so lange seine Opfer Armenier waren. Giebt es denn da keine Gesetze? möchte man fragen. O ja, es giebt Gesetze und für dortige Verhältnisse recht gute, wenn sie nur angewendet werden; denn in dem Augenblicke, als er die kaiserliche Post beraubte und eine türkische Frau entehrte, wurde er des Todes schuldig befunden.

Also: Gesetze, Reformvorschläge und Konstitution, und sollten sie von den weisesten Gesetzgebern und Staatsmännern verfaßt sein, sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind, solange es den Türken zusteht, dieselben ohne Kontrolle zu handhaben. Dafür sind das Leben und die Handlungen der türkischen Beamten zu jeder Zeit innerhalb der letzten 50 Jahre ein unwiderleglicher Beweis.

Hier habe ich zum Beispiel den Bericht über einen türkischen Beamten und Gesetzeswächter, S. Excellenz Hussein Pascha, Brigadegeneral Sr. Majestät des Sultans. Dieser Bericht ist absolut zuverlässig. – Hussein stand an der Spitze einer kurdischen Räuberbande, die er bis zu etwa 2000 Mann verstärken konnte, und suchte nun die friedlichen Bewohner der Provinz unaufhörlich mit Mord, Brand und Notzucht heim, bis sein bloßer Name die Mutigsten in Angst und Schrecken versetzte. Die Armenier von Patnotz hatten so viel von ihm zu leiden, daß sie ihr Dorf verließen und in Masse nach Kara Kilisse auswanderten, wo der Kaimakam residierte. Auf dies hin umzingelte Hussein mit einer zahlreichen Truppe das Haus des Bischofs von Karakilisse und zwang ihn, die Leute wieder zurückzuschicken. Selbst die Muhammedaner waren über seine Schandthat so empört, daß der muhammedanische Priester von Patnotz Sheikh Nari ihn beim Vali von Erzerum verklagte. Auf dies hin sandte Hussein Leute aus, die den Sheikh Nari ermordeten und seine Schwiegertochter so ängstigten, daß sie starb. Bei einem einzigen Raubzuge trieb er 2600 Schafe, viele Pferde etc. weg, stahl 500 Pfund, verbrannte 9 Dörfer, tötete 10 Männer und schnitt 11 anderen Nasen, Ohren und Hände ab. Anfangs 1890 raubte er 5 christliche Mädchen aus Patnotz, und im September und Oktober desselben Jahres erhob er von der Bevölkerung jenes Distriktes eine Kontribution von 300 Pfund. Für keines dieser Verbrechen wurde er je zur Verantwortung gezogen. Im Dezember 1890 schickte er seinen Bruder aus, um noch mehr Geld zu erheben. Dies geschah durch Ausplünderung von 21 Dörfern des Aintab-Distriktes. und der Raubertrag betrug 350 Pfund und 200 Batmanns.

Einem Armenier von Patnotz, namens Hatsho, der sich weigerte, eine bestimmte Summe zu erlegen, wurden die Frau und 2 Kinder umgebracht. Während dieser ganzen Zeit versah der edle Hussein das Amt eines Mudir oder Untergouverneurs der Kaiserlich-türkischen Regierung. Eines Tages trieb er 1000 Schafe und 7 Joch Ochsen von Patnotz und Kizilkoh weg und verkaufte sie einem Kaufmann in Erzerum. Dann konfiszierte er ein schönes Pferd, das einem Armenier namens Manook gehörte und schenkte es dem Sohne eines Richters in Erzerum. In einer Nacht, Ende Februar 1891, drangen Hussein, sein Neffe und andere in das Haus eines Armeniers, Kaspar, ein, mit der Absicht, die schöne Schwiegertochter Kaspars zu entführen. Als jedoch die Hausbewohner um Hilfe riefen, erhob Hussein den Revolver und schoß die Frau tot. Eine Petition wurde nun an den Vali von Erzerum eingereicht mit der Bitte, den Hussein zu bestrafen. Aber der Vali weigerte sich, sie anzunehmen, und Hussein wurde nach Konstantinopel beordert, dort feierlich empfangen, von Sr. Majestät dekoriert, zum Range eines Pascha erhoben und zum Brigadegeneral ernannt. Als die Truppen im letzten Jahre nach Musch und Sassun gingen, war Hussein einer der „Helden“, und als die „Ruhe wieder hergestellt war“ kam er mit mehreren Sassuner Mädchen zurück, die er entführt hat, und lebt jetzt glücklich und geachtet.

Ohne Zweifel giebt es ja Aufgaben, die einem Ehrenmanne vom Schlage des Brigadegenerals Hussein Pascha anvertraut werden können. Aber ist die Regierung eines christlichen Volkes eine solche? Und wenn wir auch annehmen, daß der damalige Vali von Erzerum und die anderen Regierungsbeamten auf einem höheren sittlichen Niveau standen als er, was für einen Wert hatte ihre hohe Ehrenhaftigkeit und ihre edlen und bewundernswerten Vorsätze, wenn sie einen Menschen wie Hussein ungehindert plündern, brennen und töten ließen? Und ist es verständig, ihn wegen solcher Thaten zu tadeln, nach deren Ausführung er von dem Inhaber der höchsten richterlichen und Polizei-Gewalt geehrt und befördert wurde?

Nicht alle Beamten haben denselben Geschmack oder denselben Grad von Tapferkeit wie Hussein Pascha Excellenz. Wieder andere giebt es, die, wie ihre Neigungen auch sein mögen, doch durch das Bewußtsein ihrer amtlichen Stellung sich bewogen fühlen, wenigstens nach Vorwänden für die Handhabung ihrer höchst merkwürdigen Justiz zu suchen. Und die Thorheiten, welche sie dabei begehen, würden unglaublich scheinen, wenn sie nicht thatsächlich wären. Der folgende Fall ist von den Vertretern der auswärtigen Mächte untersucht und bestätigt worden. Im Frühjahr 1893 glaubte Hassib Pascha, der Gouverneur von Musch, einige Beweise für die Unzufriedenheit der Armenier in Avzut und den benachbarten Dörfern nötig zu haben. Er sandte daher den Polizeihauptmann Reschid-Effendi ab, um nach Waffen zu suchen. Reschid ging los und stellte sorgfältige Nachforschungen an in den Häusern, auf den Dächern, unter der Erde – vergeblich. Es waren nirgends Feuerwaffen zu finden. Er kam zurück und berichtete, daß die Leute das Gesetz, das ihnen das Tragen von Waffen jeder Art verbot, sorgfältig beobachtet hätten. Aber Hassib Pascha ergrimmte: „Wie kannst du wagen, mir etwas zu berichten, wovon ich weiß, daß es nicht wahr ist? Geh’ sofort zurück und finde die Feuerwaffen. Wage es nicht, ohne dieselbigen zurückzukehren.“ Der Polizeihauptmann ritt hin und durchsuchte jeden Winkel und jede Ecke der Häuser und fand – nichts. Da ließ er den Aeltesten des Dorfes zu sich kommen und sagte: „Ich bin hierher geschickt, um die hier versteckten Feuerwaffen ausfindig zu machen. Sage mir, wo sie sind.“ „Aber es sind keine da.“ „Sie müssen da sein.“ „Ich versichere dich, du bist im Irrtum.“ Gut, so höre: Ich muß Waffen hier finden, ob welche da sind oder nicht, und darf nicht ohne sie zurückkommen. Also, wenn ihr mir nicht Waffen ausliefert, werde ich mich und meine Leute bei euch einquartieren.“ Da dies ungefähr soviel hieß als: „ich werde euch ausplündern lassen“, so war der Aelteste in Verlegenheit. „Was sollen wir thun?“ fragte er, „wir haben keine Waffen“. „Dann beschafft sie euch, stehlt sie, kauft sie, wie ihr wollt, aber herschaffen müßt ihr sie.“ Also wurden zwei oder drei Leute nach dem nächsten Kurdendorfe geschickt. Dort kauften sie 3 Karren voll alte Dolche, rostige Schwerter und Feuersteingewehre und lieferten alles pflichtschuldigst an Reschid aus. Damit kehrte dieser triumphierend zum Gouverneur von Musch zurück. Als Hassib Pascha die Waffen in Augenschein nahm, freute er sich gar sehr und sagte: „Du siehst jetzt, daß ich recht hatte. Ich sagte dir, daß Waffen dort versteckt seien. Du suchtest erst nur nicht genau genug. Sei ein anderesmal klüger!“

Verto Popakhian, ein Einwohner des Dorfes Khalil Tshaush, erzählte folgende Geschichte, die ein eigentümliches Streiflicht auf die türkische Justiz und das armenische Landleben wirft.

„Ein Kurde, Namens Djundee, versuchte meine Nichte, Nazo, zu entführen. Aber wir brachten sie nach Erzerum und verheirateten sie an einen Armenier. Wir müssen oft die Mädchen verheiraten, wenn sie noch Kinder von 11 und 12 Jahren sind, oder sie in Knabenkleider stecken, um sie vor den Nachstellungen zu schützen. Nazos Gatte war der Sohn des Gemeindepriesters von Herteo. Nun schwuren uns die Kurden Rache, weil wir ihnen das Mädchen entrissen hatten. Djundee schlug meinen Bruder so fürchterlich, daß er fast sechs Monate lang krank war, und er und seine Leute trieben mein Vieh fort, verbrannten unser Korn und Heu und ruinierten uns gänzlich. Als das Mädchen einmal zu Besuch bei uns war, überfielen die Kurden das Haus und entführten es. Wir klagten bei allen obrigkeitlichen Personen am Orte und in Erzerum. Als sie sich endlich entschlossen, das Mädchen zu verhören, hatte sie dem Kurden ein Kind geboren und schämte sich zurückzukehren. Sie blieb Muhammedanerin. Dann kauften wir ein Gewehr, um uns zu schützen, da das Gesetz, welches das Tragen von Feuerwaffen verbietet, noch nicht bestand. Im Jahre 1893 verkauften wir das Gewehr an einen Kurden, namens Hadji Daho, aber 1894 kam die Polizei und verlangte das Gewehr. Wir sagten, wir hätten es verkauft, und der Kurde bestätigte unsere Aussage. Er zeigte es sogar vor. Aber sie verhafteten meinen Bruder und mich und zwangen uns, unsere zwei Ochsen hinzugeben gegen zwei Gewehre, welche sie dann als belastende Beweise für unsere Schuld an sich nahmen. Wir wurden dann in das Gefängnis von Erzerum gebracht. Wir wurden da lange gefangen gehalten und erlitten viele Mißhandlungen. Nach 8 Monaten starb mein Bruder infolge schlechter Behandlung. Dann versprach man mir die Freiheit gegen ein hohes Lösegeld, welches mich an den Bettelstab brachte. Ich hatte keine Wahl, ich gab ihnen alles, was sie verlangten, bis ich und meine Familie, die aus 19 Köpfen bestand, absolut nichts mehr hatten. Und dann verurteilten sie mich zu 5 Jahren Gefängnis.

Gerechte Behandlung wird den Armeniern unter allen Umständen aufs entschiedenste verweigert. Wenn einer je wagt, als Ankläger gegen einen Kurden oder Türken aufzutreten, so wird er sofort als Angeklagter oder Verbrecher behandelt, gewöhnlich als beides und kommt unbedingt ins Gefängnis. In solchem Fall ist das Gefängnis gedacht als eine Zwischenstation zwischen verhältnismäßigem Wohlstand und völligem Elend, sofern die Insassen zu dem Lose bestimmt sind: ihres ganzen Besitzes beraubt und dann fortgejagt zu werden. Aber was das Gefängnis wirklich ist, davon kann man sich kaum einen Begriff machen. Wenn man sich die alte englische Sternkammer, die spanische Inquisition, eine chinesische Opiumhöhle, eine Ecke in einem Cholerahospital und einen Winkel in der tiefsten Tiefe von Dantes Hölle in eins zusammengeschmolzen denkt, dann kommt ungefähr das heraus, was ein schlechtes, türkisches Gefängnis ist. Schmutz, Gestank, Seuchen, Häßlichkeit, Schmerzen in allen Formen und Graden, wie man sie sich in Europa gar nicht vor-stellen kann, sind die in das Auge springenden äußerlichen Merkmale. Die psychologischen Merkmale sind: äußerste, trostloseste Verzweiflung – teuflische Bosheit – höllische Freude an menschlichen Leiden – völlige Hingabe an ekelhafteste Laster – kompletter moralischer Wahnsinn – und das ganze personificiert in Scheusalen, deren Menschengestalt eine lebendige Gotteslästerung ist. In diesen greulichen Kerkern mischt sich beständig der Angstschrei gepeinigter Menschen mit dem wiehernden Hohngelächter eines teuflischen Entzückens. Gassenhauer werden gesungen als Begleitung zu herzzerreißendem Jammergeschrei. Und während dessen hauchen Leiber, die schon längst die Seele verloren hatten, den letzten Atem aus, und niemand beweint sie, als die feuchten Kerkermauern, auf welchen der Dunst unglaublicher Qualen und scheußlicher Seuchen sich in dicken Tropfen niederschlägt und an den Wänden niederrieselt. Phantasien der Hölle, die lebendig geworden sind, das sind die türkischen Gefängnisse.

Im letzten März schickte ich einen meiner Freunde ab, um die politischen Gefangenen in Bitlis zu besuchen und sie zu bitten, mir einen kurzen Bericht über ihre Lage zu geben. Vier derselben antworteten in einem gemeinsamen Briefe, der sicherlich eines der beweglichsten Schriftstücke ist, das ich je gelesen habe. Nur die am wenigsten sensationellen Stellen können der schamhaften Verschleierung durch die fremde Sprache und dem Lichte des Tages ausgesetzt werden. Es ist datiert: Gefängnis von Bitlis, Hölle, 28. März (9. April) 1895, und beginnt folgendermaßen:

In dem Gefängnis zu Bitlis sind sieben Zellen, deren jede 10–12 Personen aufnehmen kann. Thatsächlich enthalten sie 20–30. Es sind keinerlei sanitären Maßregeln getroffen. Aller Unrat, das Ungeziefer und der Schmutz, der anderswo abgelagert werden sollte, sind in den Zellen aufgehäuft. Das Wasser ist ungenießbar. Oft müssen die armenischen Gefangenen das Klwlissch-Wasser trinken, d. h. das Wasser, in dem die Muhammedaner ihre Waschungen vorgenommen haben. – Dann folgt ein kurzer und anschaulicher Bericht über die Behandlung, denen die Kameraden der Schreiber ausgesetzt gewesen waren und an deren Folgen viele gestorben waren, z. B. Malhaß Adhadjanian und Serop Malkhassian von Aozut (Musch) wurden solange geschlagen, bis sie das Bewußtsein verloren. Der erstere wurde an acht Stellen, der letztere an zwölf Stellen mit glühenden Eisen gebrannt. Hagop Seropian aus dem Dorfe Aozut wurde entkleidet und geschlagen bis er ohnmächtig wurde, dann wurde ein Gürtel um seinen Hals geschlungen, daran wurde er in das Zimmer des Zaptiehs geschleift und an 16 Stellen des Körpers mit glühenden Ladestöcken gebrannt. Dann beschreiben sie weitere Torturen, die er zu erdulden hatte, Ausreißen der Haare, unbeweglich auf einer Stelle stehen ohne Essen und Trinken, bis er es nicht mehr aushalten konnte und andere Scheußlichkeiten, für die eine englische Zunge keine Worte und civilisierte Menschen keine Ohren haben. Dann fahren sie fort:

Sirko Minassian, Garabed Malkhassian und Jsro Ardvadzadaorian, aus demselben Dorfe, bekamen zuerst heftige Schläge, mußten lange unbeweglich auf einer Stelle stehen, und dann wurde ihnen der Inhalt gewisser Töpfe über den Köpfen ausgegossen. Korki Mardoyan erhielt heftige Schläge, sein Haar wurde mit den Wurzeln ausgerissen und er mußte 24 Stunden lang unbeweglich stehen. Dann zwangen ihn Mulazim-Hadji Ali und der Gefängniswärter Abdul-Kadir eine besondere Tortur, den Scheitantopy (Teufelsring) auszuführen, was seinen Tod herbeiführte. Er war 45 Jahre alt. Mekhitar Safonian und Khatsho Baloyna von Kokarloo wurden ebenso behandelt. Mekhitar war 15, Khatsho nur 13 Jahre alt. Sogho Sharoyan von Alvarindji wurde in Ketten von Musch nach dem Bitliser Gefängnis gebracht. Er erhielt grausame Schläge und mußte ohne Nahrung aufrecht stehen. So oft er ohnmächtig wurde, brachte man ihn mit kaltem Wasser oder Hieben wieder zu sich. Sie rissen auch seine Haare aus und brannten ihn mit heißem Eisen. Endlich wurde er ... (Was sie ihm anthaten, kann man nicht erzählen). Hambartzum Boyadjian wurde drei Tage lang der Sonnenglut ausgesetzt. Dann wurden er und seine Gefährten nach Semal gebracht, dort bekamen sie Schläge und wurden in eine Kirche gesperrt. Man erlaubte ihnen nicht nur nicht, die Kirche zu verlassen, um ihre natürlichen Bedürfnisse zu verrichten, sondern man zwang sie sogar, den Taufstein und den Altar zu verunreinigen: Wo seid ihr Christen von Europa und Amerika? Unter den vier Unterschriften ist die eines hochgeachteten und gottesfürchtigen Geistlichen.

Ich selbst kenne eine Menge Leute, die in diesem Gefängnisse gewesen sind. Die Geschichten, die sie von dem erzählen, was sie erlebt haben, sind herzzerreißend, und man würde sie kaum glauben können, wenn sie nicht zur Genüge bestätigt würden durch die Geschichten, welche ihr gefolterter Leib und die tiefen Narben und scheußlichen Entstellungen erzählen, die sie behalten müssen, bis das Grab sie aufnimmt oder die Geier sie verzehren. Die Foltern und Mißhandlungen, die sie erleiden, sind so toll, so unglaublich und haarsträubend scheußlich, daß ein einfacher wahrheitsgetreuer Bericht darüber sich anhört, wie das Irrereden eines kranken Teufels. Aber dies ist ein Gegenstand, den man unmöglich behandeln kann.

Man kann aus dem bisher Gesagten unschwer erkennen, was in Armenien einen Menschen ins Gefängnis bringen kann. Der Besitz von Geld, Vieh, Korn, Land, der Besitz seines Weibes oder einer Tochter genügt schon vollauf. Wir sind empört, wenn wir von der Grausamkeit brutaler Kurden lesen, die in ein Dorf reiten, die Häuser attackieren, die Schafe wegtreiben, die Weiber entehren und dann gemütlich heimreiten, als hätten sie die ehrlichste Arbeit verrichtet. Wir sagen, es sei dies eine Schande für die civilisierte Menschheit, und wir mögen auch ganz Recht haben. – Aber was die Kurden thun, ist noch reine Barmherzigkeit verglichen mit den türkischen Gepflogenheiten, die sich auf die gesetzmäßige Gewalt und auf den Schreck der Gefängnisse stützen. Wenn ein Mann aus Armut oder aus Hunger sich weigert, willkürliche Steuern, mit denen er im Rückstände zu sein beschuldigt wird, zu bezahlen oder seine Kuh oder seinen Ochsen den Zaptiehs nicht als Trinkgeld geben will; wenn einer sie bittet, die Ehre seiner Frau oder seiner Tochter zu schonen, dann wird er in eines dieser Gefängnisse geworfen, das er nicht verläßt, ehe er mit dem unauslöschlichen Brandmal des Platzes gezeichnet ist. Nehmen wir einen der gewöhnlichen Fälle dieser Art:

Ein junger Mann aus dem Dorfe Aozud (Distrikt Musch) ging nach Rußland und fand dort Arbeit. Er heiratete auch und lebte dort mehrere Jahre. Gegen Ende 1892 kam er in sein Heimatsdorf zurück, und die Polizei schickte nun auf die Nachricht hin, daß „ein Armenier, der in Rußland gelebt habe, zurückgekehrt sei“, 4 ihrer Leute unter dem Kommando von Isaag Tshausch nach Aozud. Sie kamen zwei Stunden nach Sonnenuntergang an, und während 3 von ihnen Wache hielten, ging der Führer in das Haus hinein, das der junge Mann bewohnte. Gleich darauf wurden Schüsse gehört, und der junge Armenier und Isaag tot aufgefunden. Nun sandte die Obrigkeit von Bitlis einen Obersten der Zaptiehs hin, um die strafende Gerechtigkeit walten zu lassen. Dies geschah denn auch schleunigst. Der Oberst rief die Männer des Dorfes, von denen keiner mit der Sache das Geringste zu thun hatte, zusammen und legte sie ins Gefängnis. Dann deflorierten die Beamten alle Jungfrauen und entehrten alle jungen Frauen des Ortes, worauf sie die Männer wieder in Freiheit setzten mit Ausnahme von 20, die sie ins Gefängnis von Bitlis brachten. Einige von diesen starben dort, und zehn andere wurden bald nachher entlassen. Endlich beschloß man, einen jungen Lehrer, Markar aus dem Dorfe Vartenis, des Mordes an Isaag zu beschuldigen und da nichts gegen ihn vorlag, sollten die andern Gefangenen gegen ihn zeugen. Man sagt ja den Armeniern nach, daß sie Lügner seien, aber sicher treiben sie das Lügen nicht soweit, daß sie einen unschuldigen Menschen an den Galgen schwören. Und so weigerten sie sich, das doppelte Verbrechen des Meineides und Mordes zu begehen. Energische Versuche wurden gemacht, ihren Entschluß zu beugen; sie wurden entkleidet und mit glühenden Eisen gebrannt, bis sie vor Schmerz brüllten. Sie wurden Nächte lang am Schlaf verhindert und dann wieder gefoltert, bis sie erschöpft und gebrochen heulend alles zu beschwören versprachen, wenn man nur ihren Qualen ein Ende mache. Ein Protokoll wurde aufgesetzt, worin sie erklärten, daß Markar im Dorfe war, als Isaag dort ankam, und daß er denselben vor ihren Augen erschossen habe. – Dies unterschrieben sie. Inzwischen wurde Markar in einem andern Teile des Gefängnisses gemartert.

Als die Gerichtsverhandlung eröffnet und das Protokoll vorgelesen wurde, streiften die Unterzeichneten vor Gericht ihre Kleider ab und zeigten die Spuren, welche die heißen Eisen hinterlassen, und riefen Gott zum Zeugen an, daß jene Aussage, die ihnen durch die wahnsinnigste Qual erpreßt worden war, eine Lüge sei. Markar seinerseits erklärte, daß er in jener Nacht gar nicht im Dorfe gewesen sei. Aber dies alles war belanglos; er wurde letztes Jahr gehängt, und die Zeugen zu verschiedenen Strafen verurteilt. Einige der Frauen starben infolge der Mißhandlungen durch die Zaptiehs. Die Gefängniswärter werden reich von dem Geld, das sie von den Insassen der Zellen erpressen. – Der Schließer im Bitlis-Gefängnis, Abdulkadis, ein Sichweinehund sondergleichen, verdient kolossale Summen auf diese Weise. Er gab neulich 500 türk. Pfd. für sein Haus aus, und von zwei oder drei türkischen Kaufleuten sagt man, daß sie ihre Geschäfte mit seinem Kapitale betreiben, obgleich sein Gehalt nur 50 Schilling im Monat betrügt. Diese Summen geben ihm die Gefangenen nicht für irgend einen Dienst, den er ihnen leistet, sondern nur um sich von den Foltern loszukaufen, die er ausschließlich zu diesem Zwecke anwendet. Folgender Fall mag einen Begriff von der Art der Dienste geben, für die so hoch bezahlt wird. Etwa vor fünf Monaten wurden drei Männer aus dem Dorfe Krtabaz verhaftet und eingekerkert. Die Thatsache, daß sie zehn Wochen später ohne Verhör entlassen wurden, beweist zur Genüge, wie unschuldig sie waren. Sie wurden in das Gefängnis von Haffankaleh gebracht. Die Zelle, in welche sie eingesperrt wurden, war überfüllt. Das Wort „Ueberfüllung“ bedeutet in Armenien nicht das Gleiche wie in Europa. Sie hatten überhaupt keinen Platz sich hinzulegen. Einige kurdische Gefangene, die in demselben Loche eingesperrt waren, und die besondere Vorrechte genossen, hatten nur 2½ Fuß Raum zum Schlaf. In der Ecke der Zelle stellte ein Loch in der Mauer die sanitäre Vorrichtung des Gefängnisses vor, und den Armeniern wurde gesagt, daß sie an diesem Loche stehen müßten und sich zum Schlaf gegen die Mauer lehnen könnten. – Dies thaten sie 15 Nächte hintereinander. Der Gestank, der Dreck, das Ungeziefer überstieg alle Begriffe. Nach 15 Tagen gaben sie einen Teil ihres Essens, das sie sich am Munde absparen mußten, den Kurden, und einer ließ sie abwechselnd den Tag über seinen Platz einnehmen. Es war nicht viel; denn die Kurden selbst hatten nur 2½ Fuß Raum zum Sitzen, aber es war doch etwas. Der Kurde jedoch wurde streng für die Wohlthätigkeit bezw. für das Geschäft bestraft. Seine Brotportionen wurden ihm entzogen, und er wurde mehrere Tage lang angekettet. Die Männer, denen er Gutes gethan hatte und ihm, wie sie sagen, das Leben verdanken, waren angesehene Leute in ihrem Dorfe und noch dazu unschuldige Leute, die einige Wochen später entlassen wurden, weil sie keinem „Unrecht gethan hatten.“

Die Armenier könnten sich selbst helfen, wenn sie es wirklich wollten“, hörte ich neulich jemanden im Brustton der Ueberzeugung sagen, „sie brauchen ja nur Muhammedaner zu werden. Sicherlich würde sie Gott nicht dafür bestrafen.“ Jawohl, ihre Leiden hören auf, sobald sie den Islam annehmen, und sie gelten ja, obgleich sie wahre Märtyrer sind, doch bloß für verächtliche Verbrecher.

Viele von denen, deren Fleisch schwach war, so willig auch ihr Geist sein mochte, haben ihren Glauben abgeschworen, und andere sind bereit, dasselbe zu thun. Manche, mit denen ich verkehrte, fragten mich, ob ich ihnen raten würde, ihre Familien von Schande und Tod zu erretten durch das Bekenntnis, daß es nur einen Gott gebe und Muhammed sein Prophet sei. Ich antwortete damit, daß ich der Hoffnung Ausdruck gab, die mir doch nicht recht gewiß war, es werde das christliche Europa ihnen rechtzeitig zu Hilfe kommen und sie davor bewahren, sich bei einer so peinlichen Alternative entscheiden zu müßen. Aber eines ist sicher: Wenn sie den Islam annehmen, dann müssen sie es gründlich thun und für immer. Nachträgliches Zurücknehmen giebt es nicht, da die fürchterlichsten Strafen diejenigen treffen würden, die es versuchen wollten. Die folgende Erzählung soll zeigen, wie stark für die Armenier die Versuchung sein kann, ihren Glauben zu verleugnen.

Melik Apha war ein angesehener, vornehmer Armenier im Dorfe Abri, gesegnet mit Söhnen und Enkeln, mit Vieh, Land, Korn und Heu im Ueberfluß – eine Art armenischer Hiob. Ein vornehmer Muhammedaner desselben Dorfes, namens Kiamil Sheikh, beneidete ihn um seine Reichtümer und begehrte dieselben an sich zu bringen, und da ihm dies nicht gelang, ging er darauf aus, den Besitzer zu vernichten. – Zu diesem Zweck ließ er im vergangenen Herbste Meliks Heu, Korn etc. verbrennen. Dann kamen die Leute des Sheikh, nahmen 5 seiner Pferde weg und töteten 150 Schafe; die toten Körper ließen sie da, wo sie lagen, verfaulen. Das war unsinnige Vergeudung in einem Lande, wo die Leute meistens arm und oft hungrig sind. Melik ging daher nach Kop, wo der Kaimakam residierte und rief die Gesetze um Hilfe an. – Während er in Kop verweilte und seine Söhne in Geschäften abwesend waren, drangen die Leute des Sheikh in sein Haus ein, ermordeten die zwei Kinder von Meliks ältestem Sohn und entführten dessen hochschwangere Frau. Als Melik von dieser Unthat hörte, machte er sich nach Erzerum auf um die Sache der Provinzialregierung vorzulegen. Die Folge dieser Klage war, daß Selim Pascha beauftragt wurde, die Sache zu untersuchen und die Herausgabe der Frau zu betreiben. Die Kinder konnten natürlich nicht auferweckt, und der Mörder nicht bestraft werden. – Der Räuber der Frau erklärte, er werde sie nicht herausgeben, da sie bereit sei, den Islam anzunehmen. Nun wandte sich Selim Pascha zu Melik und fragte: „Was wirst du sagen, wenn deine Schwiegertochter öffentlich erklärt, daß sie Muhammedanerin werden wolle.“ – „Ich werde sagen, daß wir lieber auch Muhammedaner werden wollen, ehe wir zugeben, daß unsere Weiber und Töchter in die Hände anderer fallen.“ Nun wurde die Frau geholt. Als aber Melik sah, daß sie von Sheikhs umgeben war und sich fürchtete, die Wahrheit zu sagen, sagte Melik zum Pascha: „Sie ist krank. In wenigen Tagen wird sie Mutter sein. Laß sie bis dahin in Ruhe und bringe sie in der Zwischenzeit in irgend einem türkischen Hause in Erzerum unter. In 14 Tagen wollen wir hören, was sie zu sagen hat.“ Dem stimmte alles zu, und der Pascha ging weg. Drei Tage nachher wurde der Gatte der Frau (Meliks ältester Sohn) am hellen Tage von Kiamils Leuten getötet. Sogar die türkische Familie, wo sie untergebracht war, wurde so geängstigt, daß sie die Sheikhs bat, die Frau wieder abzuholen; sie wollten nichts mehr mit der ganzen Sache zu thun haben.

Bald darauf erschoß Meliks zweiter Sohn, Mgirdutch, zwei der Sheikhs auf dem Felde. Es war dies gewiß sehr unrecht und unchristlich, und derartige Fälle geben dann den korrekten Leuten in Europa einen Vorwand, über die Rachsucht der Armenier zu klagen. Natürlich, er hätte die Sheikhs zum Mittagessen einladen und liebenswürdig unterhalten oder sie wenigstens ganz in Ruhe lassen sollen.

Sei dem aber wie ihm wolle, Mgirdutch und sein jüngerer Bruder, welche wußten, daß das Verhängnis hereinbrechen werde, rannten in das Haus des Mussa Bey und erklärten sich für Muhammedaner. Dann schickten sie Boten zu ihrem Vater, teilten ihm mit, was sie gethan hatten und baten ihn, dasselbe zu thun. Und er that es. Ein Mullah wurde beordert, die neubekehrte Familie in den Glaubenslehren des Islam zu unterrichten. Zufällig war der Mullah ein Mann, welcher lange Jahre Meliks treuer Diener gewesen war und viel mehr Lust hatte, Christ zu werden, als sein früherer Herr Muhammedaner. Mit diesem befreundeten Mullah besprach Melik seine Fluchtpläne und schickte seine verwitwete Tochter mit einem erwachsenen Mädchen und drei Knaben nach Rußland. Als sie nahe an die Grenze kamen, wurden sie von Kurden überfallen, die das Mädchen in ihre Gewalt zu bekommen suchten. Aber sie klammerte sich an die Hand ihrer Mutter und setzte den Bemühungen der Kurden, sie wegzuführen, den verzweifeltsten Widerstand entgegen. Da ihnen ihre Absicht nicht gelang, schossen die Kurden das Mädchen tot. – Ihre Mutter nahm die Leiche auf den Rücken und trug sie nach dem Dorfe Ghairavank, wo sie von Vater Raphael beerdigt wurde. –

Nach einiger Zeit flohen Melik und die übrigen Glieder seiner Familie nach Rußland. Er ließ alles zurück – sein Haus, seine Aecker, sein Heu, Korn, Vieh und nahm nur ein wenig Geld mit – und dies nahmen ihm die Kurden auf dem Wege ab.

Er war dankbar, daß Gott ihn lebendig über die Grenze hatte gelangen lassen.

Und die Ueberzeugung ist sehr stark unter den Armeniern verbreitet, daß dies die einzige Gunst ist, für die sie je zu danken haben werden.

Es ist nicht leicht für einen Armenier, die Grenze zu überschreiten und nach Rußland zu gelangen, wenn er nur irgend Gold oder Silber oder Kleidungsartikel besitzt; und wenn ein Weib das Land verlassen will, so muß sie in der Regel vorher eine Behandlung über sich ergehen lassen, deren bloße Erwähnung unser Blut in Wallung bringen müßte. „O, diese Dinge werden von den Armeniern nicht so lebhaft empfunden, als sie von Europäern empfunden werden würden,“ sagte kürzlich eine Dame zu mir, „wissen Sie, das geschorene Lamm wird ja vor dem Winde behütet.“ „Mag sein,“ sagte ich, „aber ich habe in letzter Zeit mit Hunderten von armenischen Frauen geredet, und habe kein Zeichen davon gefunden, daß sie ein weniger feines Gefühl für weibliche Ehre hätten, als andere Frauen. Welche Laster oder Tugenden armenische Frauen sonst haben mögen, soviel ist sicher, daß Keuschheit eine ihrer hervorragendsten Eigenschaften ist. An vielen Orten spricht eine armenische Frau mit keinem andern Manne als mit ihrem Gatten, außer in Gegenwart desselben; selbst ihren nächsten Verwandten und Angehörigen hat sie nichts zu sagen; und ihre sittliche Reinheit ist über jeden Verdacht erhaben, in den volkreichen Vorstädten von Erzerum so gut wie in den Thälern von Sassun. Und gerade sie sind es, welche beständig von brutalen Kurden und vertierten Türken mißhandelt werden, oft so lange, bis der Tod sie von ihren Leiden befreit.

Die Schwierigkeit, mit Geld, Kleidern oder Frauen auszuwandern, wird am besten durch einige Beispiele veranschaulicht. Nicht als ob die Türken etwas dagegen hätten, daß sie ausziehen, im Gegenteil – dies ist der sicherste Beweis dafür, daß vonseiten der Türken ein Vernichtungsplan besteht und ausgeführt wird – sie treiben sie tatsächlich über die Grenze und verweigern ihnen dann hartnäckig die Erlaubnis zur Rückkehr.

Als Sahag Garoyan nach den Gründen gefragt wurde, weshalb er mit seiner Familie aus seinem Heimatdorfe Kheter (Sandjak von Bayazid) ausgewandert sei, sagte er folgendes aus: „Wir konnten nicht länger bleiben, weil wir wie das Vieh behandelt wurden, und zwar von Rezekam Bey, dem Sohne des Djaffar Agha, und seinen Leuten, welche zu Sr. Majestät Hamidieh-Reiterei gehören, und welche daher weder vor Gericht gezogen noch bestraft werden können. Ich wanderte gegen Ende des vorigen Jahres aus. Rezekam war mit seinem Gefolge über uns hergefallen, hatte von den Häusern der Armenier Besitz ergriffen und die Insassen ausgetrieben. Nur sieben Familien durften in ihren Wohnungen bleiben, die anderen mußten ihre Zuflucht in der Kirche suchen. Wir hatten nun die Kurden drei Monate lang zu ernähren, mußten ihnen unser Korn, unsere Schafe u. s. w. geben und ihr Vieh füttern, ja einigen von ihnen mußten wir als Lasttiere dienen (nicht ungebräuchlich in Armenien). Rezekam selbst stattete jede Woche dem Dorfe Karakillisse einen Besuch ab und erhob dort eine Kontribution von 10 Pfund außer Heu, Gerste und dergleichen. Als wir diese Last nicht länger tragen konnten, klagten wir bei der Obrigkeit. Man sagte uns, wir sollten machen, daß wir fortkämen, dann verlangte ein Kurde, Namens Ghazaz Teamer, von uns, daß wir ein Schriftstück unterzeichnen sollten, in welchem es hieß, daß wir uns glücklich unwohl fühlten. Dieses sollte nach Konstantinopel geschickt werden, da er Yuzbaschi bei den Hamidiehs werden wollte. Niemand Unterzeichnete das Schreiben; das ärgerte den Teamer, und er tötete den Avaki und dessen Bruder. Fünf Monate später schlug er den Minaß, den Sohn des Kre aus dem Dorfe Mankassar, tot. Am Anfang des Winters im vorigen Jahre ließ Rezekam Bey unsern Nachbar Sarkiß ins Gefängnis werfen und seinen Kopf in kaltes Wasser tauchen. Nachdem er getrocknet war, wurde er mit Steinöl getränkt, und das Haar angebrannt. Dann versuchte er Sara, die Tochter des Sarkiß, zu verführen, aber sie konnte noch rechtzeitig fortgebracht werden. Kheto, ein Diener des Rezekam, entehrte die Frau eines Armeniers, Namens Murad. Einige Tage später versetzte derselbe Kheto der schwangeren Frau eines anderen Armeniers einen solchen Tritt, daß sie ungefähr eine Stunde später mit einem toten Kinde niederkam. „O, wir konnten nicht dort bleiben, nicht einmal wenn wir Tiere wären.“

Mgirdeetch Mekhoyan, 85 Jahre alt, aus dem Dorfe Koopegheran (Sandjak Bayazid), sagte aus: „Ich wanderte 1894 aus, weil Aipa Pascha mit 40 kurdischen Familien kam, unsere Kirche zerstörte, und uns alles, was wir hatten, wegnahm.“ Derselbe Bericht mit Variationen kommt von jedem Bezirke, ja fast von jedem Dorfe der fünf armenischen Provinzen. Z. B. Bedroß Kozdyan, 55 Jahre alt, aus dem Dorfe Arog (Sandjak Wan) bekundete: „Ich verließ mein Dorf und mein Land mit meiner Familie im August vorigen Jahres, weil wir von den Kurden unter Anführung von Tri, dem Sohne des Tshalo, die von den türkischen Behörden dazu aufgestachelt worden waren, vertrieben wurden. Zuerst kam er und entführte drei Mädchen und zwei junge Frauen, die er wegführte, trotz ihrer Thränen und ihrer inständigsten Bitten. Drei Armenier suchten die unglücklichen Frauen, die sie um Schutz anflehten, zu verteidigen, aber die Kurden töteten sie alle Drei. Sie hießen Sarkiß, Khatscho und Keweark. Am nächsten Tage trieben seine Leute alle Schafe aus dem Dorfe weg. Wir klagten bei dem Gouverneur von Wan, aber er sagte, er könne in der Sache nichts thun. Zehn Tage später kamen die Kurden wieder, sie nahmen uns unsern Weizen, unsere Gerste, unser Vieh und verbrannten das Heu, das sie nicht mitnehmen konnten. Dann stürzten sie den Altar unserer Kirche um, weil sie Gold und Silber dort zu finden hofften. Wieder flehten wir die Behörden an, uns zu beschützen, aber der Bescheid war: Wir werden euch abschlachten wie die Schafe, wenn ihr noch einmal wagt herzukommen und gute Muhammedaner zu verklagen.“ So rafften wir denn von unserer Habe so viel zusammen, als wir konnten, und machten uns auf den Weg nach Rußland. Als wir in die Nähe von Sinok gekommen waren, überfielen uns sechs bewaffnete Kurden, raubten uns alles, was wir hatten, ließen uns nichts als die Kleider, die wir auf dem Leibe hatten, und trieben uns über die Grenze.“

Sarkiß Mardirossian aus dem Dorfe Utchkilisse[WS 1] (Sandjak Alashkerd) sagte aus: „Ich wanderte mit meiner Familie, die aus 5 Seelen bestand, aus, weil ich zu Hause nicht mehr leben konnte. Die Kurden kamen und verbrannten all’ mein Heu u. s. w., dann trieben sie die 100 Kühe, 50 Ochsen und 300 Schafe, die dem Dorfe gehörten, weg. Wir konnten die Steuern nicht mehr bezahlen, und da wir von den Zaptiehs gefoltert zu werden befürchteten und auch thatsächlich schon Hunger litten, mußten wir gehen. In Kiatoog nahmen uns die Kurden alles, was wir hatten, und jagten uns über die Grenze.“

Khatsho Garabedian aus dem Dorfe Kiavurmi (Sandjak Khnooß) bekundet: „Ich bin 45 Jahre alt. Der Grund, warum ich mit meiner Familie auswanderte, war der, daß die türkischen Behörden den Kurden erlaubten, mich beinahe meiner ganzen Habe zu berauben, und dann kamen die türkischen Zaptiehs und verlangten die Steuern, die ich nicht bezahlen konnte. Darauf sagte der Oberste der Zaptiehs zu mir: Du hast kein Geld, aber du hast eine hübsche Frau. Leihe sie mir, und ich werde dir dafür den Empfang der Steuern quittieren.“ Es gelang mir, meine Frau in ein anderes Haus zu bringen, und als der türkische Beamte sah, daß er sie nicht entehren konnte, strafte er mich. Zuerst wurde kaltes Wasser über mich geschüttet, dann wurde mir Mist und anderer Unrat ins Gesicht gerieben, dann wurde ich an einem Riemen, den sie mir um den Hals gelegt hatten, durch das Dorf geschleift, zuletzt nahmen sie mir meinen Ochsen, das einzige Stück, das mir von meiner Habe geblieben war, weg. Nun floh ich mit meiner Familie, wir hatten nur noch zwei türkische Pfund an Geld bei uns. Die Soldaten jedoch hielten uns an und nahmen uns die ganze Barschaft ab. So kamen wir nach Rußland so arm wie an dem Tage, an dem wir geboren waren.“

Mit der Ausrottungspolitik geht es also flott und glatt voran. Die christliche Bevölkerung wird dezimiert, die Dörfer wechseln ihre Besitzer mit derselben Geschwindigkeit, mit welcher im Lustspiel die Kulissen wechseln. Die Auswanderung nach Rußland und die Prozessionen nach den Friedhöfen nehmen immer größere Ausdehnungen an. Es ist hier nicht der Ort, eine Liste der Dörfer zu geben, die muhammedanisch geworden sind, aber ein typischer Fall kann uns einen Begriff davon geben, wie das gemacht wird. „In dem Vilajet von Bitlis giebt es ein Dorf, welches Kadjloo, d. i. Dorf des Kreuzes, heißt. Jetzt ist es ein Dorf des Halbmondes. Die Mittel, durch welche der plötzliche Wechsel bewirkt wurde, sind dieselben, die wir schon beschrieben haben. Mohammed Emin führte eine Bande von Kurden gegen das Dorf, nahm es sozusagen mit Sturm und, wie die Türken sich anschaulich ausdrücken, „setzte sich darin nieder“. Glücklicherweise ist das Dorf nur fünf Meilen entfernt von dem Sitze des türkischen Bezirks-Gouverneurs, aber unglücklicherweise, für die Armenier wenigstens, weigerte sich derselbe, irgend etwas für sie zu thun. Sie wurden so weggetrieben wie die Schafe. Vielleicht ist es einer von den Fällen, in welchen das geschorene Lamm vor dem Winde beschützt wird. Dann machten sich die Eroberer daran, die Nachbardörfer auszuplündern und besonders Piran, welches ungefähr eine Meile entfernt liegt. Auch dieses Dorf würde die Besitzer gewechselt haben, wenn nicht einer der Bewohner auf einen erleuchteten Gedanken gekommen wäre. Dieser bestand darin, daß ein Kurde mit Namen Assad Agha eingeladen wurde zu kommen und sich mit seinen Leuten in Piran einzuquartieren. Derselbe geruhte für sich selbst 20 Kornfelder, zehn Wiesen und ein geräumiges zweistöckiges Haus anzunehmen und als Gegenleistung übernahm er es. die Armenier vor Mohammed Emin und seinen Spießgesellen zu beschützen. 300 hervorragende Einwohner des Distriktes Khnuß übergaben mir, als ich Armenien verließ, eine von ihnen unterzeichnete Petition und baten mich, dieselbe dem „menschenfreundlichen und edlen Volke von England“ vorzulegen. In diesem Schriftstück erklären sie mit Recht: „Wir versichern und erklären hiermit feierlich, daß das Blutbad von Sassun nur ein Tropfen in dem Ocean armenischen Blutes ist, welches allmählich und in aller Stille seit dem letzten türkisch-russischen Kriege überall im türkischen Reiche vergossen wird. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag sind unschuldige Männer, Weiber und Kinder in ihren eigenen Häusern, auf ihren eigenen Feldern erschossen, erdolcht und erschlagen worden. Man hat sie in scheußlichen Kerkern unbarmherzig gefoltert oder hat sie in der Verbannung unter der sengenden Sonne Arabiens langsam hinsterben lassen. Während der ganzen Dauer dieses langen und gräßlichen Trauerspiels hat sich keine Stimme, die um Erbarmen für uns geschrieen hätte, erhoben; keine Hand wurde ausgestreckt um uns zu helfen. Das Trauerspiel nimmt immer noch seinen blutigen Fortgang und ist schon beim letzten Stadium angelangt. Das armenische Volk liegt in den letzten Zuckungen. Soll das europäische Mitleid keine andere Form annehmen können, als die eines Kreuzes auf unseren Gräbern? Ich habe auch zwei rührende Schreiben von Frauen Armeniens erhalten. Sie sind mit den eigenen Siegeln gesiegelt und an deren Schwestern in England adressiert. Wenig genug ist es wahrlich, um was sie bitten, nur daß sie beschützt werden möchten – vor schimpflicher Entehrung – und doch hat es bis jetzt den Anschein, als ob sie das Unmöglichste verlangten. Wir in Europa haben nicht eine blasse Ahnung davon, in welchem Maße junge Frauen und Mädchen überall in Armenien von türkischen Soldaten, kaiserlichen Zaptiehs und kurdischen Offizieren und Räubern mißhandelt werden, – so abscheulich und tierisch mißhandelt, daß ihre Qualen mit dem Tode endigen. Mädchen von elf und zwölf, ja von neun Jahren werden aus dem Schoße ihrer Familien entrissen und in dieser Weise von Leuten mißbraucht, deren Namen man kennt und deren Thaten von den offiziellen Vertretern der Regierung gebilligt werden. Ja, diese Vertreter der Regierung sind selbst die Bestien, die mit dem Gifte ihrer abscheulichen Leidenschaft alle Reinheit und alle Unschuld vernichten. Raub, Entführung und Notzucht sind ganz gewöhnliche Vorkommnisse in Armenien geworden. Und dem allen sieht der „edle Türke“ mit wohlgefälligem Lächeln zu. Ich habe selbst mehr als 300 solcher Fälle gesammelt und von unzähligen anderen erzählen hören. An dem folgenden Fall habe ich ein besonders lebhaftes Interesse genommen, weil ich persönlich mit dem Opfer und ihrer Familie gut bekannt bin. Ihr Name ist Luzine Mussegh, gebürtig aus dem Dorfe Khnussaberd. Sie wurde im Jahre 1878 geboren und schon im zarten Alter in die armenische Missionsschule zu Erzerum geschickt, wo sie im evangelischen Glauben unterwiesen wurde. Die armenischen Mädchen leben in beständiger Gefahr, von Türken und Kurden geraubt zu werden, und armenische Eltern müssen fort und fort auf Mittel sinnen, sie vor diesem Unglück zu behüten. Die Mittel welche gewöhnlich angewendet werden, sind sehr frühe Heiraten oder Versuche, die Mädchen als Knaben zu verkleiden. Ich weiß von Kindern, die aus der Schule genommen und verheiratet werden, die dann einige Monate lang mit ihren Männern oder Frauen leben und dann wieder zur Schule gehen. So wurde Luzine im Alter von 14 Jahren aus der Schule genommen, mit einem Knaben in ihrem Alter, Namens Milikean, verheiratet; sie lebte einige Zeit mit ihm unter ihres Vaters Dach und ging dann wieder zur Schule. In einer Nacht, als ihr Mann zufällig nicht zu Hause war, wurde sie von einigen Männern überfallen, an den Haaren geschleift, geknebelt und nach dem Hause des Hussni Bey geschleppt. Dieser Mann war der Sohn des Gouverneurs. Er entehrte die junge Frau und schickte sie am nächsten Tage heim, aber ihr Mann weigerte sich, sie wieder aufzunehmen, und jetzt steht sie einsam und verlassen in der Welt da. Luzinens Vater reichte eine Klage bei dem Obersten der Hamidijeh ein und eine Petition bei dem Ortspriester. Der Erzbischof von Erzerum nahm die Sache in die Hand und wandte sich an den General-Gouverneur der Provinz und an den Gerichtshof von Khnuß. Alles umsonst. Luzine ist und bleibt eine Pariah. Ich habe auch von einigen 100 armenischen Frauen aus dem Distrikte von Khnuß einen rührenden Apell, der an die Frauen von England gerichtet ist, erhalten, in welchem die Armenierinnen darum bitten, daß man sie um Gotteswillen vor der brutalen Behandlung beschützen möge, der sie alle ausgesetzt seien. Es ist nicht nötig, denselben hier zu veröffentlichen, gedruckte Aufrufe machen selten großen Eindruck. Wenn aber die Leser die unglücklichen Frauen selbst gesehen hätten, wie ich sie sah, wenn sie gehört hätten, wie sie ihre ergreifende Geschichte erzählten, in den einfachsten Worten, mit Seufzen und Stöhnen untermischt, durch ihr herzzerreißendes Elend veranschaulicht, dann würden sie sich einen Begriff von der Lage der Dinge in Armenien bilden können, die in früherer Zeit verzehrendes Feuer vom Himmel herabgerufen hätten. Im Dorfe Begli-Akhmed traf ich eine Frau von ungefähr 28 Jahren, in elende Fetzen eines schmutzigen Teppichs gehüllt, begleitet von einem abgemagerten blassen zwölfjährigen Knaben, der einen furchtbaren Husten hatte, und wie ein typhuskrankes Kind von sechs Jahren aussah. Ich bat sie, mir ihre Geschichte zu erzählen, und sie berichtete mir folgendes: Ich heiße Atlaß Mannkiem, ich komme aus dem Dorfe Khet, es ging uns früher sehr gut, aber die Kurden nahmen uns alles was wir hatten, alles, Effendi; trotzdem arbeitete mein armer Mann immer weiter, für mich und dieses Kind hier, obgleich sie uns sagten, wir sollen machen, daß wir fortkommen. Eines Tages, als ich meinem Manne Brot auf das Feld hinausbrachte, schlugen sie mich auf den Kopf und entehrten mich. Dies geschah am Tage ... „Es war Mittag, wenn Vater sein Brot zu essen pflegte. – Da haben sie dir das angethan“, fiel das elende Kind ein. Ich habe nie in meinem Leben etwas gräßlicheres gesehen, als den Anblick der beiden Jammergestalten, wie sie zitternd in der Kälte standen und das sterbende Kind sein Zeugnis vorbrachte, daß seine Mutter auf dem Felde von Kurden geschändet worden war. –

Dann fuhr sie fort: Ich klagte bei dem Obersten Sheik Murad, aber der Bimbasche gab mir entsetzliche Schläge auf den Kopf und dann auf den Rücken und warf mich zu Boden. Dann im letzten Frühjahr, als mein Mann gerade beschäftigt war, Korn zu säen, kam Ali Mechmed auf ihn los und tötete ihn. „Mit einer Axt, Mutter“, sagte der Knabe; das Weib fuhr fort: wir sind jetzt allein in der Welt, wandern umher und betteln und niemand kennt uns. Ich gab ihr etwas Geld und eilte weg, aber vergeblich suchte ich, den furchtbaren Eindruck los zu werden, welcher mich noch wochenlang wie ein häßliches Gespenst verfolgte.

Das Blutbad von Sassun erschüttert die Herzen, auch der Gleichgiltigsten, aber jene Schlächterei war Barmherzigkeit verglichen mit den teuflischen Thaten, welche dort jede Woche und jeden Tag geschehen. Das Stöhnen hungriger Kinder, die Seufzer alter Männer, welche Dinge erleben mußten, die man nicht sagen kann, der Schrei mißhandelter Mädchen und zarter Kinder, das Jammern der Mütter, die kinderlos geworden sind durch Verbrechen, im Vergleich mit denen einfacher Mord eine Wohlthat wäre, das Wehgeheul von Frauen, die unter Peitschenschlägen sich winden, und alle die vergeblichen Jammerlaute, die in jener traurigen Wüste verklingen ohne auf Erden oder im Himmel einen Widerhall geweckt zu haben – alles vereinigt sich um Sassun mit allen seinen Schrecken in den Schatten zu stellen.

Dies sind die Dinge, für die wir moralisch verantwortlich sind und Gott gebe, daß die europäischen Mächte bald Mittel und Wege finden werden, um trotz aller Schwierigkeiten dem armenischen Pandämonium ein schleuniges Ende zu bereiten.


Anmerkungen

  1. Aus „The Condition of Armenia.“ Contemporary Review, August 1895, mit Erlaubnis der Herausgeber Jsbister Co., London.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Utchkillsse