Armenien und Europa. Eine Anklageschrift/Sechster Teil/Zweites Kapitel

<<< Sechster Teil >>>
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Nachwort.

Während sich die vorliegende Schrift im Druck befand, hat inzwischen das Blutbad in Konstantinopel stattgefunden, welches die Augen der ganzen Welt wieder auf die „armenische Frage“ gelenkt hat. Die Blutbäder von Wan, Niksar und Eghin im Juni und September dieses Jahres, (s. Berichte S. 13 und S. 145) obwohl bei denselben wiederum 20000 Armenier abgeschlachtet wurden, haben auf die europäische Presse, nicht den geringsten Eindruck gemacht. Das liegt für den gebildeten Mittel-Europäer zu weit „hinten in der Türkei.“ Erst das Schauerdrama von Konstantinopel hat Diplomatie und Presse wieder an die Existenz von Armenien erinnert.

Am 26. August schrieb ich in dem letzten Kapitel von „Die Wahrheit über Armenien“: „Es scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit dem Gedanken an einen baldigen Wiederausbruch der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt, denn diesmal wird es wahrscheinlich so sein, wie es die Türkei das erste Mal hat glauben machen wollen, daß es sich um eine armenische Revolution handelt.“

Schneller, als ich befürchtete, erfüllten sich diese Worte; denn am gleichen Tage fand die Erstürmung der ottomanischen Bank durch eine Handvoll aus Rußland zugereister Armenier statt. Die türkische Regierung wußte vorher um den beabsichtigten Putsch und hatte deshalb die nötigen Maßregeln getroffen, nicht um die revolutionären Handlungen einiger auswärtiger Armenier zu verhindern, sondern um bei der willkommenen Gelegenheit ein allgemeines Christen-Massacre an der friedlichen armenischen Bevölkerung von Konstantinopel zu veranstalten. Der Pöbel erklärte darum auch ganz ungeniert, daß der Sultan „50 Stunden zum Morden und Plündern freigegeben habe.“

In der „Contemporary Review“ berichtet ein Konsulatsbeamter, als Augenzeuge, darüber folgendes (Reichsbote v. 4. November 1896):

Der Verfasser giebt zu, daß die armenischen Revolutionäre in blinder Verzweiflung die Unruhen hervorriefen, die aber der türkischen Regierung nur zu gelegen kamen. Da sie nach der öffentlichen Erklärung des Sultans schon längst von dem geplanten Angriff auf die ottomanische Bank wußte, that sie nicht nur nichts, um ihn zu verhindern, sondern bereitete vielmehr alles für das beabsichtigte Massacre vor.

„In Stambul, Galata und Pera bildete man Räuberbanden aus Kurden und Türken, die mit Knütteln, Messern oder Feuerwaffen ausgerüstet wurden; man traf Vorkehrungen, daß keiner in dem Viertel, in dem er wohnte, morden oder plündern sollte, um nicht erkannt und dann bei den Gesandten verklagt werden zu können. Eine Menge Karren stand bereit, um die Toten fortzuschaffen. Militär und Polizei war zahlreich aufgeboten, um jeden Widerstand zu verhindern und den Pöbel, wenn notwendig, zu unterstützen. Es war ein schöner Tag, die Straßen voller Menschen, kaum einer mit dem, was in der Bank geschehen war, bekannt. Da begann plötzlich, ohne ein Warnungssignal, das Schlachten und Plündern überall zugleich. Europäische Damen, die nach den Dampfern am Bosporus gehen wollten, sahen sich plötzlich von Mördern umringt und Verwundete zu ihren Füßen sich wälzen. Fremde Kaufleute fanden vor ihrer Thür ihre Angestellten in Stücke gehauen. An einigen Stellen strömten die Straßen buchstäblich von Blut; jeder, der als Armenier erkannt wurde, ward erbarmungslos niedergemacht.

„Die Zahl der Ermordeten wird nie bekannt werden. Die Gesandten schätzen sie auf 5–6000, der offizielle Bericht für den Palast auf 8750, ungerechnet die ins Meer geworfenen. Tausende von Häusern, Läden und Geschäften wurden geplündert, darunter mehrere, die Griechen und Ausländern gehörten. Alles geschah nach einem bestimmten System, keinen Augenblick herrschte Anarchie, keinen Augenblick verlor das Militär und die Polizei die vollständige Gewalt über die Stadt.

„Mehrfach wandten sich europäische Beamte an die die Truppen befehligenden Offiziere, die ruhig zusahen, wie die hilflosen, unbewaffneten Menschen ermordet wurden, mit der Bitte, einzuschreiten und Einhalt zu gebieten. Die Antwort war: wir haben unsere Ordre. Ein Offizier tötete den Sekretär der britischen Postanstalt vor deren Thüren. Noch mehrere der entsetzlichen Blutthaten geschahen angesichts der Wache am asiatischen Ende der Brücke, vor den Augen mehrerer hochgestellter Kaiserlicher Hofbeamter. Sie hatten auch ihre Ordre.

„Nicht das Volk, auch nicht der Pöbel ist für dieses furchtbare Verbrechen verantwortlich; die Regierung hat es geplant und begangen. Das haben die Gesandten der sechs Mächte in ihrer gemeinsamen Note an die Pforte als eine unzweifelhafte Thatsache bezeichnet.

„Dieselbe Regierung unternimmt seit dem Massacre einen Feldzug gegen die Armenier, der kaum weniger unmenschlich ist, als das Totschlagen mit Knütteln. Früher lebten 150–200  000 Armenier in Konstantinopel, als Kaufleute, Ladenbesitzer, Sekretäre, Beamte in Banken und Komtors aller Art – kurz als die Hauptgeschäftsleute der Stadt. Sie waren die Bäcker; sie waren die Portiers, Diener und Handarbeiter. Tausende von ihnen stammten aus dem Innern, aus den Provinzen, die während der beiden letzten Jahre verwüstet worden waren, und suchten in Konstantinopel Geld zu verdienen, um ihre Steuern zu bezahlen und ihre Familien zu erhalten. Mit diesem Gelde haben sich Zehntausende von Familien am Leben erhalten; jetzt hat die Regierung diese ganze Bevölkerungsschicht zu ruinieren beschlossen. Man hetzt sie in der Stadt und in den Bergen wie wilde Tiere. Jeden Tag werden ganze Haufen eingeliefert, zerrissen, hungrig, die äußerste Verzweiflung auf dem Angesicht. Die Banken, die Kommission zur Tilgung der Staatsschulden, die Regie und alle öffentlichen Gesellschaften sind ersucht worden, ihre armenischen Angestellten zu entlassen.

„Aber nicht nur die Armenier, die ganze Stadt wird ruiniert. Es giebt niemand, der an ihre Stelle treten könnte. Aber nicht nur dies. Die Grundfesten der Gesellschaft sind erschüttert. Der Sultan schien keine Ahnung davon zu haben, daß er selbst sein Reich ruiniert. Im Gegenteil, er glaubt und sagte seinen Ministern noch vor zwei Jahren, er sei der weiseste und mächtigste Herrscher der Welt. Jede Wendung zum Bessern ist unmöglich, so lange die Großmächte bei ihrer gegenwärtigen Stellung verharren und sich des bewaffneten Einschreitens enthalten. Unterdeß wird das Zerstörungswerk fortdauern, die Anarchie zunehmen und die Armee ergreifen. Neue Massacres werden stattfinden, auch an anderen Nationalitäten, bis der Ruin der Stadt vollkommen ist. Ich glaube, es giebt keinen Gesandten in Konstantinopel, der nicht dieser Meinung wäre. Keiner, der irgend etwas von Politik versteht, kann es bezweifeln: Konstantinopel ist dem Untergang geweiht.“

Was thaten die Vertreter der Großmächte? An ihre Adresse richtete sich der Putsch der revolutionären Armenier, die bei der Verhandlung aus den Fenstern der Ottoman-Bank erklärten, daß sie weder gegen die Bank noch gegen die Pforte zu demonstrieren wünschten, sondern gegen die christlichen Mächte, welche Armenien in Stich gelassen hätten. Was thaten die Vertreter der Großmächte? Diesmal schrieben sie nicht nur Noten, sondern sie telegraphierten sogar an den Sultan. Im übrigen machten sie es ebenso wie in Armenien. Dort ließen sie 100 000 wehrlose und friedfertige Armenier abschlachten, ohne einen Finger zu rühren; aber den Aufständischen von Zeitun sprangen sie bei und erwirkten ihnen Amnestie. Hier in Konstantinopel ließen sie ebenfalls drei Tage lang einige Tausend unschuldige Armenier abschlachten; aber die Revolutionäre erhielten durch ihre Vermittelung freien Abzug und wurden ins Ausland transportiert. Was für eine Lehre werden die Armenier aus diesem Verhalten ziehen?


Vielleicht werden nach den jüngsten Erfahrungen in Konstantinopel, wo das Blutbad unter den Augen der europäischen Bevölkerung der Hauptstadt veranstaltet und im wesentlichen nach derselben Methode, wie die Blutbäder in Armenien zur Ausführung gebracht wurde, die Darstellungen dieser Schrift auch wenigstens in solchen Kreisen Beachtung finden, die bisher im Glauben an den guten Willen der Hohen Pforte von jeder energischen Maßregel gegen dieselbe abreden zu müssen, glaubten.

J. L.