Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Die weiße Schlange

Die drei Schlangenblätter Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I von Johannes Bolte, Jiří Polívka
17. Die weiße Schlange
Strohhalm, Kohle und Bohne
Für verschiedene Auflagen des Märchens der Brüder Grimm siehe Die weiße Schlange.

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17. Die weiße Schlange. 1856 S. 27.

1812 nr. 17: von Hassenpflugs in Kassel im Herbst 1812 vernommen; 1819 stilistisch hie und da geändert, mit der Bezeichnung: aus dem Hanauischen; denn von dort war die Familie Hassenpflug nach Kassel gekommen.

Durch den Genuß einer weißen Schlange[1] erlernt man die Tiersprache: Grimm, D. Sagen² nr. 132 ‘Seeburger See’. J. Grimm, Myth.³ S. 637. 934. 1166. 3, 197. Campbell² 2, 377 nr. 47. (R. Köhler, 2, 265). Chambers, Popular rhymes 1847 S. 228 = 1870 S. 78. Kemble, Dialogue of Salomon and Saturnus S. 114. Liebrecht, Gervasius von Tilbury S. 155. Kuhn-Schwartz, Sagen nr. 178. Peter 2, 32. Rußwurm, Eibofolke 2, 401. Sébillot, Folklore de France 3, 293. Erben, Slov. čít. S. 14 nr. 3 = Erben, Č. poh. S. 64 = Waldau S. 13 = Chodzko S. 77 (R. Köhler 1, 402. 2, 336). Lettisch bei Treuland S. 96 nr. 18. Estnisch bei Kallas S. 182 nr. 52. Gleichbedeutend damit ist der Genuß des Drachenherzens für Sigurd in der Edda (Fáfnismól), im Archiv f. slav. Phil. 4, 624 und für die Araber nach Philostratus Leben des Apollonius von Tyana 1, 20. 3, 9. In einem serbischen Märchen (Wuk nr. 3 = Krauß 1, 439 nr. 97. Mijatovics p. 37. R. Köhler 2, 610) lehrt eine dankbare Schlange den Jüngling die Tiersprache, indem sie ihm in den Mund spuckt, ähnlich in Sercambis Novelle nr. 86 ed. Renier; in einer Erzählung der deutschen Gesta [132] Romanorum (Zürcher Hs. C 113 nr. 55, Wiener Hs. 2937 nr. 84, Berliner Cod. germ. qu. 81 nr. 61; danach Graesse, Gesta Romanorum 2, 190. 1842) steckt eine Natter ihrem Retter eine Wurzel in den Mund;[2] ähnlich bei Pröhle, Märchen f. d. Jugend nr. 18 S. 74. Dem [133] griechischen Seher Melampus vergelten die Schlangen seine Wohltat, indem sie ihm die Ohren auslecken, worauf er die Stimmen der Vögel versteht; gleiches wird von Kassandra berichtet (Apollodor 1, 9, 11. Plinius 10, 137. 29, 72. Schoemann, Opuscula 2, 351. Eckermann, Melampus und sein Geschlecht, 1840. Marx, Griechische Märchen 1889 S. 109). Im griechischen Märchen bei Hahn 1, 236 nr. 37 verschluckt der Drache den Königssohn, um ihn die Tiersprache zu lehren, und speit ihn dann wieder aus. Nach irischem, mährischem und armenischem Volksglauben verleiht der Genuß von vierblätterigem Klee und andrem Kraut diese Kenntnis (Le Braz, La légende de la mort 1, 3. Kolář-Kochovský S. 48. Macler p. 108), nach estnischem (Kreutzwald S. 14. 242) ein Kuchen oder Zaubertrank. In der großrussischen Sage (Sadovnikov S. 331) leckt Stenka Rasin an dem Stein, den er im Leibe des von ihm erlegten Ungeheuers Volkodir gefunden, und erfährt alles, was in der Welt vorgeht. Die Fähigkeit, die Tiere zu verstehn, kann auch wieder verloren gehen; in bretonischen Sagen (Sébillot, Traditions 2, 224. Sébillot, Contes des Landes p. 180) bläst die Hexe dem Manne, der von ihrer Schlangenspeise gekostet hat, in den Mund; in kroatischen (Kres 5, 29 nr. 36) schabt sie ihm die Krötentunke von der Zunge; in kleinrussischen spuckt der Herr dem vorwitzigen Diener in den Mund (Etnograf. Zbirnyk 6, 150 nr. 345. 12, 215 nr. 208); in weißrussischen erschlägt er ihn sogar (Federowski 1, 101 nr. 306. Ähnlich Etnograf. Obozr. 29–30, 114). Oder er reicht ihm einen Vergessenheitstrunk aus Beifuß (Artemisia vulgaris. Nowosielski 1, 354. Russkaja Besěda 1856 3, 5, 83 = M. A. Maksimovič, Sobr. sočinenij 2, 497. Hrinčenko 2, 121 nr. 90), bekreuzt oder bestreicht ihn mit einem Zaubermittel (kroatisch in Zbornik juž. Slav. 7, 279. 10, 225). [134] Wer seinem Weibe von seiner Kunst etwas sagt, vergißt zufolge dem kleinrussischen Märchen (Etnogr. Obozr. 35, 125. Kijev. Starina 1889, 5–6) die Hälfte davon; im irischen (Larminie p. 17) wird der Held, der dasselbe tut, von der Frau in einen Raben, ein Pferd und andre Tiere verwandelt.

Daß die Vögel höhere Weisheit besitzen und an den Geschicken der Menschen mahnend, ratend, vorhersagend anteilnehmen, ist ein alter und verbreiteter Glaube (vgl. Uhland, Schriften 3, 89. 128. Wackernagel, Kleinere Schriften 3, 181. Friedlaender, Sittengeschichte Roms⁵ 1, 475). Versteht der Mensch ihr ‘Latein’ nicht, so liegt die Schuld an ihm (Wackernagel, Kl. Schriften 3, 3. 196 und[WS 1] Voces variae animantium 1869 S. 15. J. Grimm, Kl. Schriften 5, 165. E. du Méril, Etudes sur quelques points d’archéologie 1862 S. 447).

Der zweite Teil des Märchens hat gleichen Inhalt mit der Bienenkönigin (nr. 62) und dem Meerhäschen (nr. 191): drei Tiere, denen der gutherzige Jüngling Wohltaten erweist, helfen ihm drei Aufgaben lösen (in nr. 191 verstecken sie ihn dreimal), wodurch er eine Königstochter zur Gattin gewinnt. In dem Märchen von Ferenand getrü und Ferenand ungetrü (nr. 126) erringt der Held die Schöne mit Hilfe der dankbaren Tiere nicht für sich, sondern im Auftrage seines Königs, doch gewinnt die Jungfrau ihn selber lieb und reicht ihm nach Beseitigung des Königs ihre Hand. In andern Erzählungen helfen dankbare Tiere dem Helden die verborgene Seele eines Ungeheuers aufsuchen und vernichten, wodurch eine Prinzessin befreit wird (R. Köhler 1, 57. 110. 158. 176. 348. Wisser 2, 5) oder bringen ihm den geraubten Wunschring zurück (Köhler 1, 398. 437. 440) oder bieten sich ihm als Gefährten auf der Brautfahrt an (nr. 60. Köhler 1, 94). Auch das Pferd (nr. 126. Köhler 1, 330. 467), der Fuchs (Köhler 1, 539. 558), der Kater (nr. 33a. 106) erweisen sich als gute Ratgeber des Helden; vgl. Macculloch p. 225 ‘Friendly animals’.

Beide Teile des Märchens erscheinen auch in einer kroatischen Fassung bei Strohal 2, 212 nr. 16 verbunden. Der Diener eines Arztes kostet von einer Schlange, die er für jenen kochen soll, und weiß nun ebensoviel wie er; da er gegen Fliegen, Ameisen und Fische barmherzig ist, helfen ihm diese Tiere bei den Aufgaben, die sein Herr auf der Brautfahrt lösen soll, z. B. die Braut unter zehn Schwestern herauszufinden.


  1. Nach einer schottischen Sage (W. Grant Stewart, Superstitions of the Highlanders 1823 S. 82) gibt das Mittelstück von der weißen Schlange, am Feuer gebraten, dem, der den Finger in das herabträufelnde Fett steckt, Kenntnis überirdischer Dinge. Reichtum verleiht das Vogelherz in unsrer nr. 60 und 122.
  2. Daran schließt sich, ebenso wie in dem serbischen Märchen, der Versuch der Frau, ihrem Manne das Geheimnis der Tiersprache zu entlocken, und die Warnung des Hahnes, der er folgt. Indisch: Benfey, Kl. Schriften 3, 234 = Orient und Occident 2, 133 (Munipaticaritram, Harivamça, Râmâyana 2, c. 35, Vetâlapancavimçati tamulisch); F. v. d. Leyen, Archiv f. neuere Sprachen 116, 19; Grünwedel, Buddhistische Studien 1897 S. 23; Chavannes, Actes du 14. congrès international des orientalistes 1905 1, 5, 125 (Tripitaka). Zs. d. morgenl. Ges. 52, 287 (mongolisch). Campbell p. 22 nr. 5. Bompas p. 393 nr. 147 (der Mann verliert die Gabe, als er seiner Frau davon erzählt). Tijdschr. voor indische Taalkunde 41, 460 nr. 7 (malaiisch). Bezemer, Javaansche Fabelen S. 202. – Arabisch: Chauvin 5, 179 nr. 104 und 8, 49. Persisch: Rosen, Tuti Nameh 2, 236. Bricteux, Histoire de la Simourgh p. 35 (Muséon 1905). Türkisch aus dem 15. Jahrh. Katanov, Izvěstija der Ges. f. Archäologie, Gesch. und Ethnographie an der Univ. Kasan 14, 251. Georgisch um 1700: Zs. f. Volkskunde 19, 303. Grusinisch: Sbornik Kavkaz. 24, 2, 72. Armenisch: Macler p. 103 nr. 13. Sibirisch: Radloff 4, 492. 6, 250. – Afrika: Basset, Contes berbères 2, 119 nr. 108. Mitt. des Berliner oriental. Seminars 8, 2, 231. Koelle p. 143. Lademann nr. 5. Janod, Bas-Ronga p. 314. Reinisch, Saho-Sprache 1, 109. – Italien: Morlini, Novellae nr. 71. Straparola 12, 3. Pitrè, Fiabe 4, 208 nr. 282. De Nino 4, 51. – Französisch: Wallonia 4, 113. Gittée-Lemoine p. 15. – Deutsch: Kuhn, Märkische Sagen S. 268 ‘Die böse Frau’. Asmus-Knoop, Kolberg-Körlin S. 67 ‘Der Esel und der Ochse’. Schüler nr. 17 ‘Der Soldat und die Schlange’. – Dänisch: Grundtvig, Minder 2, 117 ‘Hunden og Hanen’. Skattegraveren 8, 157 ‘Husbonden og hanen’. Schwedisch: Åberg nr. 162. – Griechisch: Revue des trad. pop. 8, 320 = Georgeakis-Pineau, Lesbos p. 46. – Albanesisch: Pedersen S. 82 nr. 11. Rumänisch: Schullerus, Siebenbg. Archiv 33, 649. – Slowenisch: Šašelj 1, 230. Baudouin de Courtenay, Material zur südslav. Dialektologie 2, 68. Serbokroatisch: Kres 5, 27 nr. 35. Valjavec S. 256 nr. 53. M. Stojanović, Pučke pripov. S. 237 nr. 61. Strohal 2, 9 nr. 1. 2, 189 nr. 1. Zborník juž. slav. 12, 141 nr. 31. Hirt, Der ikavische Dialekt S. 55. Olaf Broch S. 212. Hadži-Vasiljević 1, 339 nr. 2. Bulgarisch: Erben S. 222 = Léger p. 111. Sbornik min. 4, 186. 13, 212. 15, 127. Sprostanov S. 127 nr. 24. Šapkarev S. 306 nr. 168; S. 377 nr. 229; S. 249 nr. 135; S. 321 nr. 182. Slowakisch: Dobšinský 3, 83 nr. 34 (Christus und Petrus). Polnisch: Kolberg, Lud 8, 216 nr. 89. Wisła 2, 474. 19, 415 nr. 20. 5, 630 = Polaczek S. 102. Wisła 6, 496. 2, 179. Zbiór wiadom. 16, 4 nr. 7. Ciszewski, Okol. Sławk. S. 193. Wisła 17, 449 nr. 5 (ohne die neugierige Frau). Mater. antrop. 4, 115 und 8, 169 (entstellt). Großrussisch: Afanasjev³ 2, 124 nr. 139. Chndjakov 1, 135 nr. 38. Zap. Krasnojarsk. 1, 92 nr. 47. Kleinrussisch: Etnogr. Zbirnyk 4, 99 nr. 18. 4, 96 nr. 17. Dragomanov S. 75 nr. 20. Šuchevyč S. 160 nr. 100. Manžura S. 72. Weißrussisch: Federowski 2, 38 nr. 39. Romanov 4, 140 nr. 81. 4, 217 nr. 63. Dobrovoljskij S. 354 nr. 7. – Finnisch: Aarnes Register nr. 670 und Zs. f. Volkskunde 19, 299. Ungarisch: Jones-Kropf p. 301 nr. 53. Katona, Keleti Szemle 2, 45. – Weitere Literatur geben Chauvin, Basset, Katona, Aarne, R. Köhler 2, 610 und W. Klinger, Lud 15 (1909). Über die auch bei Petrus Alfonsi, Disciplina clericalis p. 35 auftretende Weisung, sich an dem zehn Frauen meisternden Hahne ein Beispiel zu nehmen, vgl. W. Grimm zu Freidank 145, 11 und R. Köhler, Zs. f. dtsch. Altertum 21, 144.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: uud
Die drei Schlangenblätter Nach oben Strohhalm, Kohle und Bohne
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