Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Die drei Schlangenblätter
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16. Die drei Schlangenblätter. | 1856 S. 26. |
1819 nr. 16 (eingesetzt für 1812 nr. 16 ‘Herr Fix und Fertig’, worüber unten nr. 62 zu vergleichen ist) nach zwei Erzählungen, die nur in unbedeutenden Dingen abweichen, die eine aus dem niederhessischen Dorfe Hof am Habichtswald, die andere aus einem Dorfe im Paderbörnischen.
Da Gaston Paris über das Märchen von der undankbaren Gattin eine ausführliche Untersuchung angestellt hat (Zs. f. Volkskunde 13, 1–24. 129–150. Nachträge von Polívka ebd. 13, 399), wiederholen wir hier kurz deren Ergebnis. Unser Märchen besteht aus folgenden Teilen: A. Der Held muß seiner Braut geloben, sich mit ihr, falls sie vor ihm stirbt, begraben zu lassen. – B. Dies geschieht bald nach der Hochzeit. – C. Im Grabgewölbe gewahrt er, wie eine Schlange eine tote Genossin durch ein Kraut belebt, und erweckt mit diesem seine Gattin. – D. Die Wiederbelebte aber verliebt sich in einen Schiffsherren und (E) wirft mit ihm ihren Mann ins Meer. – F. Von einem treuen Diener mit Hilfe des [127] Schlangenkrautes ins Leben zurückgerufen, (G) entlarvt er das schuldige Paar, das zum Tode verurteilt wird.[1]
Französisch bei Cosquin 2, 342 nr. 82 ‘Victor la Fleur’ aus Lothringen, Roche p. 134 ‘Grosse-botte et La ramée’ aus dem Limousin, bei Sébillot, Contes 3, 32 nr. 3 ‘La Rose’ und bei Luzel, Légendes 2, 309 ‘Le soldat qui délivra une princesse de l’enfer’ aus der Bretagne. – Italienisch aus den Abruzzen bei Finamoer 1, 207 nr. 42 ‘L’amore nen dure’ und 2, 63 nr. 70 ‘La Rusètte’. – Katalanisch bei Maspons, Cuentos S. 24 ‘Maria Rosa’. – Rumänisch bei P. Schullerus nr. 3 ‘Die Tochter des Schweinehirten’ (Archiv f. siebenbg. Landesk. 33, 396). – Kroatisch bei Strohal 2, 152. – Slovakisch aus dem Komitat Naghvár bei Czambel 1, 391 § 207; aus dem Komitat Zemplén ebd. 1, 357 § 185 (wie Kulda 3, nr. 32. 4, nr. 11). – Polnisch bei Kolberg, Lud 19, 222 nr. 11; Mitt. f. schles. Volkskunde 3, 6, 46; Kolberg, Lud 8, 210 nr. 86; Materialy antropologiczne 1, 56; ebd. 10, 241 nr. 16; Zbiór 16, 2, 20 nr. 16. – Čechisch bei Němcová 4, 16 nr. 50; aus Mähren bei Bayer 2, 45; Kulda 3, 229 nr. 31; Tille nr. 29; Elpl S. 24 nr. 3. – Großrussisch aus dem Gouv. Wologda in Živaja Starina 5, 419 und aus dem Kaukasus im Sbornik Kavkaz. 16, 1, 309. – Kleinrussisch aus dem Gouv. Kiew bei Čubinskij 2, 420 nr. 127. – Weißrussisch aus dem Gouv. Mogilew bei Romanov, Bělorusskij Sbornik 3, 358 nr. 88.
Diese Fassungen weichen von unserm Märchen vielfach ab: Das Gelübde der gemeinsamen Bestattung der Ehegatten fehlt, abgesehen von der zweiten italienischen (Finamore nr. 70) und der weißrussischen Erzählung; in der ersten polnischen (Lud 19, 222) soll der überlebende Teil drei Tage am Grabe wachen. Der Tod und die Wiederbelebung der Frau fehlen im 2. bretonischen, im 4. polnischen und im kleinrussischen Märchen. Statt der Schlange reicht ein Greis (Sébillot, großrussisch, kaukasisch), eine geisterhafte Frau (Cosquin, Němcová, Kolberg 19) oder eine Schwalbe (4. poln. Version, rumänisch) das totenerweckende Blatt, die Rose oder Salbe. Überall ferner tötet die untreue Gattin ihren Mann nicht selbst, [128] sondern bewirkt durch eine List,[2] daß er als Dieb zum Tode verurteilt wird. Der Wiederbelebte heilt nun eine kranke Prinzessin oder einen Fürsten und erlangt dadurch die Macht, die beiden Schuldigen zu bestrafen. Bei Finamore nr. 42 sinkt die Frau augenblicklich tot nieder, als ihr Gatte vor sie tritt, bei Němcová aber und im rumänischen Märchen versöhnt sich der allzu weichmütige Mann wieder mit ihr. Da diese Abweichungen durchweg als Entstellungen zu betrachten sind, fragen wir weiter nach dem Ursprunge der soviel altertümliche Züge enthaltenden deutschen Erzählung.
Daß die Frau verlangt, der überlebende Gatte solle sich mit ihr begraben lassen, wird in Sindbads vierter Reise (Chauvin, Bibl. arabe 7, 19. 74. Auch Serucci nr. 48 S. 399) als eine Sitte auf einer der Sunda-Inseln bezeichnet und ist auch anderwärts nachgewiesen (Liebrecht, Zur Volkskunde S. 380. 508. Germania 29, 357. Gering, Isl. æventyri nr. 82. Über die russische Sage von Michael Potok s. Liebrecht S. 41 und Polívka, Zs. f. Vk. 13, 405). In der nordischen Sage (Saxo Grammaticus B. 5, S. 162 Holder. Egils Saga og Asmundar) geben sich Asmund und Aswit, als sie Blutbrüderschaft machen, ein ähnliches Versprechen; Asmund läßt sich hernach mit dem toten Aswit in den Grabhügel bringen, nimmt aber einen Vorrat von Lebensmitteln mit, die ihn eine Zeitlang erhalten; darauf wird er durch einen glücklichen Zufall heraufgezogen.
Das den Schlangen bekannte Lebenskraut erscheint schon in der altgriechischen Sage (Apollodor 3, 3, 1. Hygin, Fab. 136. Rohde, Der griechische Roman S. 125. 529²): Polyidos sollte dem Glaukos das Leben wiedergeben, konnte es aber nicht; darum ließ ihn der erzürnte Vater zu der Leiche in das Grabmal verschließen. Polyidos sah, wie eine Schlange auf den toten Glaukos schlüpfte, und erschlug sie; bald kam eine zweite Schlange und trug ein Kraut im Munde, das sie auf die getötete legte, wovon diese alsbald wieder lebendig wurde. Schnell ergriff Polyidos das Kraut, legte es auf den Glaukos, und er erhielt das Leben wieder. Ähnlich in den Novelle antiche 12 (Papanti, Catalogo dei novellieri italiani 1, Aggiunte S. XXIV. Romania 3, 190), im Brüdermärchen bei Basile 1, 7, Schott S. 142, Sklarek nr. 10, Schleicher S. 57, bei Hošek S. 73 nr. 26. Im Lai von Eliduc der Marie de France (Lais hsg. [129] von Warnke¹ S. CIV. Hertz, Spielmannsbuch 1900 S. 408) sind zwei Wiesel, in der Völsungasaga c. 8 zwei Buschkatzen, im irischen Märchen bei Larminie p. 83 zwei Vögel an die Stelle der Schlangen getreten. Vgl. noch Hahn, Griech. M. 2, 274. Sébillot, Folklore de France 3, 529. Polívka, Zs. f. Volkskunde 13, 408–410. Dem von Polívka angeführten polnischen Märchen bei Kolberg, Lud 8, 117 nr. 45 entspricht ein bolognesisches ‘La fola dla bissuleina’ bei Coronedi-Berti nr. 14 (Propugnatore 8, 1, 352), wo ein Mädchen, das einen zudringlichen Verehrer erschlagen hat, mit der Leiche in der Gruft eingeschlossen wird. In einer sibirischen Erzählung (Radloff 4, 77) sieht der gelähmte Held, wie eine Maus, der er das Bein geknickt hat, von ihren Genossen durch eine Wurzel geheilt wird, und gesundet selber durch diese. Im slovakischen Märchen bei Czambel 1, 286 § 150 kriecht ein Frosch mit dem Lebenskraut dem von seinen Brüdern erschlagenen Helden übers Gesicht. Im kroatischen bei Mikuličić S. 109 nr. 20 belebt die Schwester, bei Valjavec S. 68 die von Marko Kraljević bezwungene Vila den Toten mit einem Kraut.
Die Untreue der wiederbelebten Frau und ihre Bestrafung (D E G) begegnen mit andrem Eingange in einer Reihe von orientalischen Erzählungen, deren Verwandtschaft mit unserm Märchen G. Paris sehr wahrscheinlich gemacht hat. In Pūrnabhadras Bearbeitung des Pañcatantra 4, 5 und einigen andern indischen Werken,[3] sowie in dem chinesischen, aus indischen Quellen geflossenen Tripitaka (Chavannes, 500 contes et apologues extraits du Tripitaka 3, 22) rettet ein Brahmane, der mit seiner geliebten Gattin durch eine Wüste wanderte, die Verschmachtete vom Tode, indem er durch dreimalige laute Versicherung die Hälfte seines Lebens für sie hingibt [130] (oder sie von seinem Blute trinken läßt). Sie aber verliebt sich in einen Krüppel und stößt ihren Mann in einen Brunnen. Den Buhlen im Korbe auf dem Kopfe tragend und für ihn bettelnd, wird sie vom Könige als ein Muster ehelicher Treue bewundert, und als ihr glücklich geretteter Gatte eintrifft, verklagt sie diesen als den Verstümmler ihres Buhlen; da fordert er das einst geschenkte Leben zurück, und sie stirbt auf der Stelle (oder wird verstoßen). Eine jüngere, gleichfalls in Indien entsprungene Erzählung,[4] die im 14. bis 15. Jahrhundert nach Deutschland gedrungen und dort zu dem Gedichte ‘von der toten Frau’[5] verarbeitet ist, läßt die Frau nicht auf einer Reise, sondern daheim sterben; ihr Mann trägt die Leiche fort, und ein Gott, dessen Namen nach dem Religionsbekenntnis des Erzählers wechselt, (Siva, Messias, Buddha, Allah) oder ein[WS 1] Engel erweckt sie. In einer weiteren mohammedanischen Umgestaltung[6] tritt der Prophet Aïssa (Jesus) zweimal auf, als Erwecker der Frau und als Befreier des zum Tode verurteilten Mannes.
Aus dieser arabischen Legende, die auch das Gelübde der Ehegatten enthält, daß nach dem Tode des einen der andre das Grab bewachen soll, scheint das europäische Märchen, das sich in der italienischen und deutschen Überlieferung am besten erhalten hat, hervorgegangen zu sein. Hier wird indes die tote Frau nicht durch einen Gott oder Propheten ins Leben zurückgerufen, sondern [131] durch das Lebenskraut der Schlangen (C), und dies dient auch nachher zur Erweckung des Gatten (F), der nicht bloß in einen Abgrund gestürzt oder zum Tode verurteilt, sondern wirklich umgebracht wird.[7] Erst von Italien und Deutschland aus verbreitete sich das Märchen nach Westen und Osten, zu den Spaniern, Franzosen und Slawen.
- ↑ Die Aussetzung in einem steuerlosen, lecken Boot ist die altgermanische Strafe eines Verwandtenmörders (J. Grimm, Rechtsaltertümer⁴ 2, 285. 344. Erich Schmidt in der Festgabe für R. Heinzel 1898 S. 42).
- ↑ Sie läßt ihm ein kostbares Besteck in die Tasche stecken, wie Joseph dem Benjamin einen silbernen Becher; vgl. Zs. f. Volkskunde 13, 142. 407. R. Köhler 3, 228.
- ↑ Pañcatantram, textus ornatior, übersetzt von R. Schmidt 1901 S. 268 (Benfey, Pantschatantra 2, 303. The Orientalist 1, 277). Vgl. Jātaka transl. by Cowell 2, 81 nr. 193. Kandjur (Schiefner, Mélanges asiatiques 8, 129. Ralston, Tibetan tales S. 291). Tawney, Kathásaritságara 2, 101. Dandin, Daçakumāracarita übers. von Meyer 1902 S. 87. 297 (Benfey 1, 436). – Merkwürdig ist, daß auch in der um 1200 von einem Cisterzienser verfaßten ‘Historia infidelis mulieris’, die Schönbach (Die Geschichte Rudolfs von Schlüsselberg. Wiener SB. 145, nr. 6. 1902) herausgegeben hat, ein fränkischer Ritter mit seiner aussätzigen Gattin nach Portugal zieht und sie in dem von giftigen Schlangen umlagerten Wunderquell badet, von der Geheilten aber treulos verlassen und verraten wird.
- ↑ North Indian Notes and Queries 5, 85 nr. 201 (1895). Wahb ibn-Munabbih, ein arabischer Jude des 7.–8. Jahrh., in dem im 16. Jahrh. geschriebenen Tazyîn (Zs. f. Volkskunde 13, 16). Aus Annam bei Landes, Contes nr. 83 ‘La femme métamorphosée en moustique’ (Gelübde, daß der überlebende Gatte bei der Leiche bleiben soll). Aus Java bei Seidel, Asiatische Volksliteratur S. 283.
- ↑ Keller, Erzählungen aus altdeutschen Hss. 1855 S. 372; vgl. Zs. f. Volksk. 13, 18. 149. Als die Frau wieder erwacht, ist der Mann, der dem Engel zwanzig Jahre seines Lebens abgetreten hat, plötzlich 60 Jahre alt statt 40, wodurch ihr Widerwille gegen ihn teilweise erklärt wird.
- ↑ The Orientalist 1, 64 (Ceylon 1884. Aus dem Arabischen). Ahmed el Qalyubi, ein Araber des 17. Jahrh. (Revue des trad. pop. 15, 31). Rivière, Contes pop. de la Kabylie S. 119 ‘Jesus Christ et la femme infidèle’. ‘Histoire d’Adileh’ in Gauttiers Mille et une nuits 7, 285 (1823. Chauvin 8, 119). ‘Gulhendam’ in den Vierzig Vezieren, übersetzt von Pétis de la Croix 1707 (bearbeitet von Wieland, Hann und Gulpenheh und von M. G. Lewis. R. Köhler 3, 95), von Behrnauer 1851 S. 80 und Gibb 1886 S. 82.
- ↑ Die Seereise, auf der die Frau ihren Gatten ins Meer stürzt, möchte G. Paris nicht aus der ältesten indischen Fassung ableiten, sondern durch den Einfluß der Erzählung von Jean de Calais (R. Köhler 1, 12. 131) erklären.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: odere in
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