Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Der Hund und der Sperling

Der goldene Vogel Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I von Johannes Bolte, Jiří Polívka
58. Der Hund und der Sperling
Der Frieder und das Catherlieschen
Für verschiedene Auflagen des Märchens der Brüder Grimm siehe Der Hund und der Sperling.

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58. Der Hund und der Sperling. 1856 S. 100.

1819 nr. 58 nach drei wenig abweichenden Erzählungen. Die vollständigste ist aus Zwehrn und liegt zugrunde; die zweite die 1812 als nr. 58 u. d. T. ‘Vom treuen Gevatter Sperling’ (von Gretchen Wild in Kassel 1808) gedruckt war, hat einen andern Eingang:

Es war einmal eine Hirschkuh, die war mit einem jungen Hirsch ins Kindbett gekommen und bat den Fuchs, Gevatter zu stehen. Der Fuchs aber lud noch den Sperling dazu, und der Sperling wollte noch den Haushund, seinen besondern lieben Freund, einladen. Der Hund aber war von seinem Herrn ans Seil gelegt worden, weil er einmal von einer Hochzeit ganz betrunken nach Haus gekommen war. Der Sperling meinte: ‘Das hat nicht viel auf sich’, pickte und pickte am Seil einen Faden nach dem andern los, so lang bis der Hund frei war. Nun gingen sie zusammen zum Gevatterschmaus, machten sich auch recht lustig, denn da war alles vollauf. Der Hund aber versahs und übernahm sich wieder im Wein; als sie aufstanden, war ihm der Kopf so schwer, daß er sich kaum auf den Beinen erhalten konnte; doch taumelte er noch ein Stück Wegs nach Haus fort, endlich aber fiel er hin und blieb [516] mitten auf der Straße liegen. – Eben kam ein Fuhrmann daher und wollt geradezu über ihn wegfahren. ‘Fuhrmann, tus nicht!’ rief der Sperling, ‘es kostet dein Leben.’ Der Fuhrmann aber hörte nicht darauf, knallte mit der Peitsche und trieb die Pferde gerade auf den Hund, daß die Wagenräder ihm die Beine zerbrachen. Fuchs und Sperling schleppten den Gevatter heim. Der Herr sah ihn an und sprach: ‘Der ist ja tot’ und gab ihn dem Fuhrmann, der sollt ihn begraben. Der Fuhrmann dachte: ‘Die Haut ist zu brauchen,’ lud ihn auf und fuhr fort. Der Sperling aber flog nebenher und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dir dein Leben. Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.’ Dann setzte er sich dem einen Pferde auf den Kopf und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dein Leben.’ Der Fuhrmann ward bös über den kleinen Vogel, der ihn zum Narren hatte, griff nach seiner Hacke und holte aus; der Sperling aber flog in die Höhe, und der Fuhrmann traf sein Pferd auf den Kopf, daß es tot hinfiel. Er mußte es liegen lassen und mit den zwei andern weiter fahren; da kam der Sperling zurück, setzte sich einem Pferd auf den Kopf und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dir dein Leben’. Der Fuhrmann lief herbei: ‘Jetzt krieg ich dich!’ schlug und traf wieder bloß das Pferd, daß es tot liegen blieb. Nun war ihm doch eins übrig. Der Sperling wartete nicht lange, setzte sich auf den Kopf desselben und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.’ Der Fuhrmann aber war schon so zornig, daß er sich gar nicht besann, sondern gleich zuschlug. Da waren nun alle seine drei Pferde totgeschlagen, und er mußte den Wagen stehen lassen. – Bös und giftig ging er nach Haus und setzte sich hinter den Ofen; aber der Sperling war hinter ihm drein geflogen, saß vor dem Fenster und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.’ Der Fuhrmann griff nach der Hacke, schmiß das Fenster ein; aber den Sperling traf er nicht. Der Vogel hüpfte nun durch die Öffnung herein, setzte sich auf den Ofen und rief: ‘Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.’ Dieser, toll und blind vor Wut, schlägt den ganzen Ofen ein, und wie der Sperling von einem Ort zum andern fliegt, sein ganzes Hausgerät, Spieglein, Stühle, Bänke, Tisch und zuletzt die Wände seines Hauses. Da packt er endlich den Vogel: ‘Jetzt hab ich dich,’ nimmt ihn in den Mund und schluckt ihn hinunter. Der Sperling aber im Leibe des Fuhrmanns fängt an zu flattern, flattert wieder herauf dem Fuhrmann in den Mund, streckt den Kopf heraus und ruft: ‘Fuhrmann, es kostet dir doch dein Leben’. Da gibt der Fuhrmann seiner Frau die Hacke: ‘Frau, schlag mir den Vogel im Munde tot!’ Die Frau schlägt fehl, dem Mann auf den Kopf, daß er gleich tot hinfällt. Der Sperling aber fliegt auf und davon.

In der dritten Erzählung aus Göttingen (vor 1822) ist weiter gar kein Eingang; es heißt bloß: Ein Vöglein und ein [517] Hündlein gehen zusammen und kommen auf der Landstraße an eine Fahrgleise; da kann das Hündlein nicht wie das Vöglein darüber. Und weil gerade ein Fuhrmann mit Weinfässern daherhommt, so bittet ihn das Vöglein, dem Hündlein darüber zu helfen; aber der bekümmert sich nicht darum und fährt das arme Tier tot. Nun rächt sich das Vöglein. – Der Schluß hier ist aus der zweiten hessischen Aufzeichnung genommen.

Aus Böhmen bei Vernaleken nr. 6 ‘Der Hund und die Ammer’; aus Hannover in der Zeitschrift Niedersachsen 1, 87 (1896) ‘Der Specht und der Windhund’ (der Hund tötet den Fuchs und verlangt dafür vom Specht Essen, Trinken und Lachen). Entstellt scheint ein posensches Märchen bei Knoop, Volkstümliches aus der Tierwelt 1905 S. 30 nr. 265 ‘Die Lerche und der Wolf’ und ein siebenbürgisches bei Haltrich ⁴ nr. 81 = Haltrich, Zur Volkskunde 1885 S. 57 nr. 21 ‘Der Fuchs und die Meise’, wo der Vogel nicht dem befreundeten Hunde, sondern aus Angst um seine Jungen dem unverschämten Wolf oder Fuchs Essen, Trinken und Lachen verschafft[1], der Fuchs aber vor Lachen über die geneckten Drescher vom Dachbalken unter diese fällt und Schläge bekommt. Denn in dem mhd. Gedichte ‘Des hundes nôt’ (Grimm, Reinhart Fuchs 1834 S. 291) ist es wiederum der hungrige Hund, der von der Lerche Essen und Lachen erbittet und erhält, aber von den Dreschern übel zugerichtet wird; als er nun einen Arzt begehrt und die Lerche den Wolf herbeiruft, ist er rasch genesen und entläuft[2]. Noch deutlicher zeigt die ausführliche Fassung im französischen Roman de Renart, branche 11, v. 761 (1, 411 ed. Martin. Sudre, Les sources du roman de R. 1892 p. 301), wie das siebenbürgische Märchen früher gelautet hat. Der Sperling Droïn schwört dem Fuchse Rache, der seine Jungen verzehrt hat, statt sie versprochenermaßen zu taufen, und findet einen Helfer in dem halbverhungerten [518] Hunde Morhout; er lockt einen Fuhrmann, indem er sich flügellahm stellt, von dem Wagen weg, so daß der Hund inzwischen einen Schinken rauben kann, und verschafft ihm von einem andern Wagen Wein, während er dem Pferde ein Auge auspickt und der Fuhrmann voll Wut das Pferd schlägt, statt den Sperling zu treffen. Als der Hund satt und kräftig ist, fällt er über den Fuchs her, den Droïn bis zu seinem Versteck gelockt hatte.

Niederländisch aus den Jahren 1800–1804 in der Zs. Volkskunde 14, 80 ‘Van een hond en een musch’. – Französisch bei Deulin, Contes d’un buveur p. 125 ‘Le blanc misseron’. Sébillot, Contes de la Haute-Bretagne 1, 333 nr. 59 ‘Le merle et le renard’. Bladé 3, 204 ‘La merlesse et le renard’. 3, 229 ‘Le lévrier et la merlesse’. – Italienisch bei Pitrè, Nov. tosc. nr. 53 ‘La lodola’ (Lerche und Hund, kein Fuchs). – Serbokroatisch bei Krauß 1, 20 nr. 6 ‘Fuchs, Star und Hund’[3]. – Bulgarisch: Sbornik min. 6, 142 nr. 1. – Großrussisch bei Afanasjev ³ 1, 22 nr. 10b = Gerber p. 18 nr. 12 ‘The animals in the pit’; 1, 23 nr. 12 = Gerber nr. 13 ‘The fox and the woodpecker’; 1, 419 nr. 32a = Gerber nr. 14 ‘The dog and the woodpecker’ = Gubernatis, Die Tiere S. 545 = Hins p. 128 = Brandt 1, 138; 1, 50 nr. 32b = Gerber nr. 15 ‘The dog and the woodpecker’. Sadovnikov 1884 p. 177 nr. 53. – Kleinrussisch: Hrinčenko 1, 145 nr. 155. 2, 4 nr. 5. Manžura S. 4. Jastrebov S. 222 nr. 24. Malinka S. 326 nr. 44. Suchevyč S. 164 nr. 102. – Weißrussisch: Šejn 2, 27 nr. 17. Karłowicz S. 49 nr. 35. Romanov 3, 24 nr. 17. – Lettisch: Weryho 1892 S. 222. Zbiór wiad. 18, 249 nr. 5. – Estnisch: Grimm, Reinhart Fuchs S. CCLXXXIV ‘Fuchs und Sperling’. Kallas nr. 77 (Verh. 20, 198). – Finnisch: Aarnes Register nr. 248. – Mordwinisch: Paasonen 1, 2, 146 nr. 15 = Anikin S. 52 nr. 7. – Gagausisch: Radloff 10, 213 nr. 144. – Armenisch: Wlislocki S. 17 nr. 8. – [519] Afghanisch: Thorburn p. 220. – Indisch bei Steel-Temple p. 184 ‘The jackal and the partridge’ (der Schakal verlangt, daß das Rebhuhn ihm Lachen, Weinen und ein gutes Mahl verschaffe und ihn aus Lebensgefahr rette). Minajev nr. 25. – Batakisch bei v. d. Tuuk 4, 73 = Pleyte p. 263 nr. 27 ‘Girsang’ (ein Vogel setzt sich auf die Trinkschale des habgierigen Häuptlings, auf die Pforte und das Dach; indem der Geizhals Steine und einen Feuerbrand nach ihm wirft, vernichtet er Haus und Habe).

Einzelne Züge des Märchens, das man mit dem Bunde der schwachen Vögel gegen die großen Tiere in nr. 102 vergleichen mag, begegnen auch anderwärts: die Torheit des Vogels, der dem drohenden Fuchse seine Jungen vom Neste aus zuwirft, bei Johannes von Capua, Directorium humanae vitae c. 17 (Hervieux, Fabulistes 5, 336. Benfey 1, 609), Schreck, Finnische Märchen S. 189, Marno S. 284 nr. 8 ‘Abu’l-Hossein, der Storch und der Rabe’ und Bleek S. 16 ‘Die Buschtaube und der Reiher’; die Rache der Krähe, welche einen Goldschmuck raubt und vor das Versteck der Schlange legt, die ihre Jungen getötet hat, im Tantrākhyāyika 1, c. 4 (Hertel 1, 130. Benfey 1, 170. Kirchhof, Wendunmut 7, 98); der unbedachte Schlag nach einer Fliege, die sich auf den Kopf des Vaters oder Richters gesetzt hat, schon im Makasa-Jātaka (Cowell 1, nr. 44. Weber, Mtsber. der Berliner Akademie 1858, 265. Benfey 1, 282. 292. 2, 538. Max Müller, Essays 2, 206. Morlini, Novellen übersetzt von Wesselski S. 278 nr. 21. Chavannes, Fables extraits du Tripitaka 1906 p. 91 nr. 4–5. Chauvin 2, 118. Glouston, Pop. tales 1, 55. Hervieux, Fabulistes latins 2, 195. Boner, Edelstein nr. 36. Waldis, Esopus 2, nr. 99. Oben S. 12) und in neueren Märchen: Bünker S. 19; isländisch Rittershaus S. 350; italienisch Pitrè 3, 355 nr. 190, 3 = Crane p. 293 nr. 100 = Wesselski, Nasreddin 2, 105 nr. 428; Archivio 10, 54; serbokroatisch Zbornik jugoslav. 10, 216. 11, 283 nr. 8; bulgarisch Šapkarev 8–9, 26 nr. 17. Sbornik min. 16–17, Mater. S. 327. 343 nr. 3; polnisch Mater. antropol. 10, 298 nr. 71; großrussisch Chudjakov 2, 127 nr. 74; kleinrussisch Etnograf. Zbirnyk 6, 264 nr. 577; weißrussisch Federowski 3, 61 nr. 121. 3, 69 nr. 138; türkisch Živ. Starina 20, 137 nr. 10. Wesselski, Nasreddin 1, 160 nr. 280 mit Anm.; indisch Swynnerton p. 306. Parker p. 319 nr. 58 (Orientalist 1, 284). Revue des trad. pop. 8, 28.


  1. Im oldenburgischen (Strackerjan ¹ 2, 94 = ² 2, 152) und oberpfälzischen Märchen (Birlinger, Nimm mich mit S. 218. Bechstein, Märchenbuch 1874 S. 120) verschafft der Hase auf gleiche Weise, indem er sich nämlich vor dem des Weges kommenden Bäckermädchen lahm stellt, dem Fuchse Brot. Ebenso der Fuchs dem Wolfe im Ysengrimus 1, v. 179 und im Reinhart Fuchs v. 449 ed. Reissenberger.
  2. Vgl. dazu K. v. Bahder, Germania 31, 103 und Reissenberger, Xenia Austriaca zur 42. Philologenversamlung 1893 2, 1–39. Kolmačevskij, Životnyj epos na zapadě 1882 p. 152. Gerber, Great russian animal tales p. 61 nr. XVIII.
  3. Daß hier der in eine Höhle geflüchtete Fuchs mit seinen Füßen, Augen, Ohren und dem Schweife Zwiesprache hält und am Schweife, den er hinaussteckt, vom Hunde gepackt wird, kehrt wieder bei Krauß 1, 35 = Valjavec S. 273 nr. 63, Stankov-Kukić S. 97, Sbornik min. 9, 178, Šapkarev 8–9, 313 nr. 176, Afanasjev 4, nr. 9 = 3. Aufl. 1, 13 nr. 6a = Gubernatis, Die Tiere S. 440, Afanasjev ³ 1, 14 nr. 7a–d, Sadovnikov S. 84 nr. 15, Erlenwein S. 15 nr. 5, Dmitrijev S. 175, Mater. bělorus. govorov. 2, 10, Manžura S. 4, Rudčenko 1, 16, Dowojna-Sylwestrowicz 1, 128, Leskien-Brugman S. 516, Jurkschat 1, 49 nr. 14, lettisch Zbiór 18, 251, griechisch Sbornik Kavkaz. 32, 2, 109.
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