An unsere Leser
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An unsere Leser!
Ein halber Mann, dess‘ Tage schwinden
In selbstischer Befangenheit . . .
Du sollst im Busen mitempfinden
Den hohen Wellenschlag der Zeit!
Durch das Geäder schleicht das Blut . . .
Du sollst voll tiefen Ingrimms hassen
Und lieben mit der Seele Glut!
Du sollst zur Linken oder Rechten
Du sollst mit blanker Waffe fechten,
Getreuen Muths, in Glück und Noth!
Der Fahne treu, die du erkoren,
Sollst du, gebeugt von keiner Pein,
In jedem Athemzuge sein!
Das drängt und treibt! Ein flüchtig Stocken
Hemmt selten nur den raschen Gang.
Wirf dich mit Jauchzen und Frohlocken
Du lebst in einer Zeit der Wunder:
Was heute gleißt in goldnem Schein,
Fliegt morgen zu verjährtem Plunder ─
Versuch׳ es, ihrer werth zu sein!
Was diese große Zeit begehrt!
Laß hell die Gluth, die heil’ge, lodern,
Und lächle, wenn sie dich verzehrt!
Und wenn im Kampf die Jahre schwanden,
Du hast in Reih und Glied gestanden
Mit den Soldaten der Idee! ─
Doch sieh, es kommen stille Stunden,
In denen du aufs Schwert dich lehnst
Nach Ruhe unaussprechlich sehnst;
In denen sich mit sanftem Mahnen
In deiner Brust ein Flüstern regt,
In denen dich ein Friedensahnen
Laß diese sanften Stimmen tönen!
Wie weit du auch von ihm getrennt ─
Es giebt ein heitres Reich des Schönen,
Das Wandel nicht und Schranke kennt;
Von ihrem Thron die Göttin steigt,
Das dem enttäuschten Sohn der Erde
Die lächelnde Vollendung zeigt.
Und eine stille Wunderblüthe
Sie duftet lieblich im Gemüthe,
So lang der Erde Vesten stehn.
Ein Klingen steigt empor und Rauschen
Aus diesen Welten des Gefühls,
Entrückt dem Lärmen des Gewühls.
Du sollst sie stets vor Augen haben,
Des Schönen leichtverwischte Spur ─
Du sollst an seinem Reiz dich laben
Es ist ein Trost, ein milder Segen,
Und wer sie jemals voll empfand,
Der fühlt‘ es auf die Stirn sich legen
Wie eine weiche Frauenhand.
Doch diesen einen halte werth!
Ein Tempel sind die engsten Räume
So oft er lächelnd wiederkehrt.
Hat er vom Staub des Kampfgefildes
Dann frisch zurück in rauhes, wildes,
Erbittertes Gefühl der Schlacht!
Rudolf Lavant
Anmerkungen (Wikisource)
Bearbeiten- Auszüge aus dem Gedicht befinden sich in: „Die Philosophie Spinoza’s“. Erstmals gründlich aufgehellt und populär dargestellt von J. Stern. Stuttgart J.H.W. Dietz Verlag, 1890, Seite 176.
- Das Gedicht erschien 1917 mit nur vier Strophen unter dem Titel „Aufforderung“ in der Zeitschrift „Der Wahre Jacob“.