An des Jahrhunderts Neige

Textdaten
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Autor: Max Haushofer
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Titel: An des Jahrhunderts Neige
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 869-870
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[869]

An des Jahrhunderts Neige.

Wenn mit dem zwölften mitternächt’gen Schlag
Sich zum Vergehen das Jahrhundert wendet
Und müde seinen allerletzten Tag
Im Dunkel eines Wintertraumes endet:

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Dann schwingt sich, wo ihn keiner sehen mag,

Ein Riesendämon, dessen Glutblick blendet,
Und dessen Stimme laut wie Donner gellt,
Herüber zur verschlaf’nen Menschenwelt.

Tiefschattend über beide Pole breiten

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Sich seine Flügel, schwarz, verhängnisschwer;

Gebietend ruft er, und aus Grüften gleiten
Gehorsam des Jahrhunderts Kinder her;
Als menschenähnliche Gebilde schreiten
Sie vor sein Äuge, mehr und immer mehr;

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Dann spricht er – und es tönt bald wie Posaunen,

Bald so, wie Tote aus den Gräbern raunen:

„Verderben hab’ ich reichlich ausgesandt
In jeden Teil der Welt seit hundert Jahren;
Aus jedem Abgrund hab’ ich losgebannt,

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Was drunten schlief an Schrecknis und Gefahren;

Nun will ich, zur Vergangenheit gewandt,
Hier Heerschau halten über meine Scharen!
Was ich der Welt an Not und Grausen schuf,
Das steig’ empor, gehorsam meinem Ruf!

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Und sieh – ein Zug undeutlicher Gestalten

Zieht langsam her, der wie von Eisen klirrt;
Es träuft wie Blut von ihrer Mäntel Falten,
Ihr Hauch ist Mord, ein Schwarm von Raben schwirrt
Um sie; das Schwert, das ihre Fäuste halten,

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Ist schartig; ein unheimlich Blitzen irrt

Aus ihrem Blick; der Dämon aber spricht:
„So grüß’ ich euch vor meinem Angesicht!“

„Ich schuf den Völkerhaß; der mag nicht weichen;
Höchst glorreich fing er das Jahrhundert an;

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Das stand schmerzstöhnend unter seinem Zeichen;

Auf hundert hartumkämpften Feldern rann
Das Blut von Tapfren unter seinen Streichen,
Und in die fernste Zukunft reicht mein Bann,
Denn aus dem Jammer meiner alten Thaten

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Erwachsen immer neue Unheilsaaten!


So ließ ich Millionen Thränen rinnen;
Es ist kein Volk, dem ich nicht Wunden schlug!
Wer Sieger war – ich konnte nur gewinnen!
Selbst über Meere flog ich grausen Flug!

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Und neues Mordzeug denk’ ich zu ersinnen,

Es schlägt mein Schwert mir noch nicht scharf genug,
Mit breit’ren Waffen will ich mähen, mähen,
Und als Zermalmer durch die Zukunft gehen!

Verschwindet, Schatten! Laßt uns weiter schauen!

50
Trotz alles Schweißes seh’ ich blasse Not,

Gebeugte Männer, arbeitsmüde Frauen;
Zerlumpte Kinder balgen sich um Brot!
Auf Stroh in Winkeln kauern Schmutz und Grauen,
Und Scharen treibt der Hunger in den Tod,

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Indessen haßerfüllt nach ihren Zielen

Der Anarchisten blanke Dolche spielen!

Dann seh’ ich, wie trotz aller Wissenschaft
Die Seuchen sich in Riesenstädten fristen;
Ich sehe, von den Gassen aufgerafft,

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Giftstoffe sich in alle Häuser nisten;

Mit hohlen Augen und gelähmter Kraft
Seh’ ich die Säufer und die Morphinisten;
Ein ganz Geschlecht von Krüppeln, Irren, Siechen
Seh’ ich zermürbt in frühe Gräber kriechen!

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Und was die Krankheit nicht zu Ende brachte,

Das ist dem seelischen Verfall geweiht,
Der dies Jahrhundert schier zur Dirne machte
Mit seinem Sumpf von hohler Eitelkeit,
Von Spottsucht, die das Heiligste verlachte,

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Von Strebertum, Genußsucht, Schimpf und Streit,

Von Volksverderbern und von Lasterzüchtern!
Von feilen Blättern und bestoch’nen Richtern!

Doch daß der armen Menschheit nicht allein
Die Schuld an ihrem Niedergang verbleibe,

75
Rief ich den Zufall, daß er helfend sein

Wahnwitzig Spiel mit ihrem Unheil treibe,

[870]

Daß er bei seiner Werke Feuerschein
Ein Buch voll Grausen und voll Schrecken schreibe,
Daß er die blinde, angstverstörte Masse

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Zermarternd mit den Teufelsfäusten fasse!


Ihn hieß ich tief im heißen Kohlenschacht
Erstickend seine gift’gen Dämpfe schlagen,
Ich hieß ihn mitten in der Städte Pracht
Die Häuser brechen und den Brand hintragen,

85
Ich hieß ihn – und er that’s – in Sturmesnacht

Die Riesendampfer auf die Klippen jagen,
Ich hieß ihn Berge stürzen, hieß ihn Brücken
Und Wagenzüge mitleidslos zerstücken!“

So spricht der Herr des Uebels zu den Seinen;

90
Die Schatten stöhnen; doch auf einmal fällt

Von Sonnenaufgang her mit lichtem Scheinen
Ein sternenklarer Glanzstrom in die Welt.
Ein Götterbild mit einem milden, reinen
Gesichte schwingt sich niederwärts, das hält

95
Die Hände segnend über diese Erde

Und spricht mit hehrer, schirmender Gebärde:

„Will sich zum Hingang das Jahrhundert neigen.
So sei ein Segensspruch noch sein Geleit!
Was das Verderben sprach: heut’ soll es schweigen!

100
Den Gang nach aufwärts ging auch diese Zeit!

Und gegenüber dem gespenst’gen Reigen
Des Unheils steh’n in lichter Herrlichkeit
Errungenschaften da, die nicht vergehen,
Die siegreich mit der Nacht den Kampf bestehen!

105
War auch der Krieg nicht aus der Welt zu schaffen,

Gemildert hat ihn doch die Menschlichkeit,
Es folgt das Rote Kreuz dem Weh der Waffen,
Das heiße Mitgefühl dem blut’gen Streit.
Es regt sich alles, Recht und Schutz zu schaffen;

110
Fürsorge ist für jede Not bereit;

In immer eng’ren Bann zwingt man das Schlechte.
Und immer stärk’re Form gewinnt das Rechte!

Aus allen Winkeln will der Reichtum sprossen,
Dem Völkerwillen wich die Tyrannei,

115
Im Frieden sammeln sich die Werkgenossen

Und jedem steht das Wort zur Rede frei.
Ein Schatz von Allgemeingut ward erschlossen,
Der immer wachse, jedem dienstbar sei;
Rings um den Erdball braust in frohem Streben

120
Von Jahr zu Jahr verstärktes Völkerleben.


Wohl, ruhmreich ist, was dies Jahrhundert that!
Gespalt’ne Berge können das verkünden!
Die Schöpfung warf man in ein Feuerbad,
Um neuen Stoff und neue Kraft zu finden;

125
Um Gletscher schlang man luft’gen Eisenpfad

Und schöpfte Licht aus Nacht und Felsengründen;
Nie flogen so wie heute die Gedanken
Wie Blitze über längstverjährte Schranken.

Und machtvoll kämpft mit ihren reinen Händen

130
Für alles Herrliche die Wissenschaft;

Ihr gilt es, helfen, retten, Schmerzen enden,
Dem Weltverderben nimmt sie seine Kraft;
Zum Heil und Segen will sie Krankes wenden;
Nie rückwärts weicht sie, sondern prüft und schafft.

135
Indessen ihr zur Seite, stets begeistert,

Die Kunst des Lebens rohe Stoffe meistert.“

So spricht der Geist des Lichts. Und segnend breitet
Er seine Flügel, wie ein Lenzhauch weht
Es von ihm her; der andre aber gleitet

140
Fort in die Winternacht, wo er zergeht.

Die Wetuhr schlägt. Ihr großer Zeiger schreitet
Voran, sein Gang ist schicksalsreich und stät;
Der Menschheit Hoffnung aber und ihr Segen,
Sie geh’n mit ihm der Zukunft froh entgegen!
 Max Haushofer.