Textdaten
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Titel: An der Jahreswende
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 894
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[894] An der Jahreswende. Wenn der Jahrgang einer Zeitschrift dem Ende entgegengeht, wenn es gilt, die letzten Bogen und die letzte Seite zu füllen, dann pflegen die Herausgeber rückwärts und vorwärts zu blicken auf den Weg, den sie durchmessen haben, und den neuen, welcher vor ihnen liegt.

Sie richten dann auch, altem guten Brauch folgend, einige Worte an ihre Leser, um ihnen für die seitherige Begleitung zu danken und sie freundlich aufzufordern, auch ferner mitzugehen und dem Blatte treu zu bleiben.

Das ist die Zeit der alliährlichen Journal-Ankündigungen und -Anpreisungen, die Zeit, wo es im lieben deutschen Vaterlande Dutzende von illustrierten Familienblättern zu geben scheint, von welchen jedes das beste, jedes das billigste und jedes das verbreitetste ist, die Zeit, wo in pomphaften Reklamen das Alte vom Neuen und das Neue vom Allerneuesten überboten wird.

Die „Gartenlaube“ steht in dieser Hinsicht allen anderen schon zeitlich sehr bedeutend nach. Während die meisten anderen das neue Jahr schon im Herbst beginnen, hält die „Gartenlaube“ noch immer an der altmodischen Gewohnheit fest, das Jahr am 1. Januar beginnen zu lassen!

Da ist es denn nicht zu verwundern, daß, während die „Gartenlaube“ im Herbst ruhig und geräuschlos weiter erscheint, wahre Stürme von Abonnements-Einladungen und Empfehlungen über ihre Leser hinbrausen. Aber so heftig und nachhaltig dieselben auch blasen mögen, sie haben es noch nie vermocht, den Stamm der Gartenlaubeleser ernsthaft zu gefährden.

Immer wieder aufs neue findet sich seit nun fast vier Jahrzehnten die große Gemeinde zusammen in ihrer alten, trauten „Gartenlaube“.

[895] Wir sind nicht eitel genug, dies einzig und allein unseren Leistungen zuzuschreiben. Es muß noch ein anderer Grund vorhanden sein, der dies bewirkt. Aber welcher?

Die Antwort auf diese Frage finden wir beim Durchblättern der zahllosen Briefe, welche im Laufe eines Jahres aus dem weiten Kreise unserer Leser, aus allen Weltgegenden bei uns eintreffen.

Da schreibt uns ein berühmter Maler, welchen wir um eine Zeichnung für unser Blatt baten: „Obwohl gegenwärtig ganz mit einem neuen großen Bild beschäftigt, will ich Ihnen die gewünschte Zeichnung doch liefern, aus alter Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Nach Abbildungen der ‚Gartenlaube‘, welche in meinem elterlichen Hause gehalten wurde, habe ich meine ersten, allerdings bösen Zeichenversuche gemacht, und nun treiben’s meine Jungen im eigenen Hause ebenso etc.“ –

Ein vielgenannter Forscher theilt uns aus einer afrikanischen Station auf eine Anfrage mit: im Begriffe ins Innere zu ziehen, werde er zunächst wohl allerdings kaum zum Schriftstellern kommen, aber, wenn irgend möglich, werde er uns später einen Bericht für die „Gartenlaube“ senden, deren eifriger Leser er lange Jahre hindurch gewesen etc.

Eine andere Berühmtheit, deren Bild und Biographie wir gebracht, schreibt wörtlich:

„Zu meinen lebhaftsten Jugenderinnerungen gehört das Wonnegefühl, das ich empfand, wenn mir an Sonntagnachmittagen oder in Rekonvalescentenzeiten ein dicker Gartenlaubeband aus der vollzähligen Reihe im Bücherkasten überliefert wurde. Die Männer und Frauen, deren Bild und Lebensbeschreibung ich da fand, prägten sich tief meinem Gedächtnisse als die besonders Ausgezeichneten ein. – An demselben Tische und in demselben geliebten Hausblatte, welches sie noch immer regelmäßig liest, hat meine Mutter nun den Namen ihres Jüngsten gefunden, und das Herz wird ihr wohl einen Athemzug lang stillgestanden sein in freudiger stolzer Ueberraschung.

„Die Kinderschuhe habe ich zertreten und manche ehrende Auszeichnung erlebt, aber die Auszeichnung, die mir durch diese Aufnahme in die Galerie der ‚Gartenlaube‘ zu Theil wurde, hat nichts an ihrer Bedeutung verloren. Ich hoffe, daß meine Kinder einst den Band 1890 ganz besonders in ihr Herz schließen werden!“

Auf schlechtem Papier, das die Spuren von Thränen trägt, bringt ein altes Mütterchen der „Gartenlaube“ in den rührendsten Ausdrücken ihren Dank dar, dafür, daß sie ihr von dem verloren geglaubten Sohne wieder Nachricht verschafft hat. Seit Jahrzehnten für die Seinigen verschollen, hatte er bei einem Landsmann im inneren Australien einen alten Gartenlaubeband in die Hände bekommen und dort den sehnenden Ruf der Mutter nach dem Sohne gelesen – und er schrieb wieder!

Damit aber auch der Humor nicht fehle, übersendet ein junges Ehepärchen von der Hochzeitsreise seinen Dank, weil durch die gemeinschaftliche Lektüre eines und desselben Exemplars der „Gartenlaube“ – durch das Anstreichen gewisser bedeutungsvoller Stellen in demselben – ihr lange Zeit sehr schwieriger Verkehr vermittelt, ihr Bund geschlossen worden sei.

Und eine junge Braut macht ihren Gefühlen darüber Luft, daß ihr etwas gar zu scheuer Anbeter endlich im Eifer des Streits über eine Gartenlaubenovelle sein Herz entdeckt habe. – – –

Wir könnten noch viele Seiten füllen mit dem Inhalt derartiger Briefe, verzichten aber darauf. –

Die in den fünfziger Jahren des Jahrhunderts die „Gartenlaube“ als junge Leute lasen, sind heute selbst Fünfziger und mehr; ihre Söhne und Töchter lesen sie heute mit ihnen und werden sie – so Gott will – einst mit ihren Kindern lesen.

Nun wohl: in diesen von einer Generation auf die andere vererbten Beziehungen liegt – so will uns scheinen – der Grund, nach welchem wir frugen, der Zauber, welcher die Hunderttausende deutscher Familien immer wieder in der „Gartenlaube“ vereinigt.

Um solche Beziehungen von einer Familiengeneration zur anderen möglich zu machen, dazu gehört aber allerdings ein treues Festhalten des einmal für recht und gut erkannten Zieles, ein unentwegtes Fortschreiten auf den erprobten Bahnen. Nicht als ob die „Gartenlaube“ sich engherzig verschlösse gegen das Neue; es wäre dies eine Verkennung der Eigenschaften, die sie groß gemacht haben, und eine Verkennung der Aufgaben, welche ihr gestellt sind. Immer war und immer soll sein die „Gartenlaube“ ein Spiegel ihrer Zeit und eine Leiterin ihrer Zeit. Fern aber soll ihr wie immer bleiben alles Unreife und unsaubere, der trübe Schaum, den die gährende Bewegung des Tages absondert und der sich so oft als die eigentliche und wesentliche Frucht dieser Bewegung geben möchte.

Möge es der „Gartenlaube“ beschieden sein, daß, wie bisher der gesunde, wahrhaft bildende Geist ihres Inhalts sich überall die Achtung der Besten gewann, so auch in Zukunft die Reinheit ihrer Ideale allenthalben offene Herzen und wachsende Anerkennung finde. Das ist der Wunsch, mit dem wir diesen Jahrgang schließen, mit dem wir den neuen eröffnen. Was wir an unserem Theile thun können zu seiner Erfüllung, das soll redlich geschehen!

Die Redaktion.