An der Evangelistenbrücke der Drina

Textdaten
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Titel: An der Evangelistenbrücke der Drina
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 716–719
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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An der Evangelistenbrücke der Drina.

Der Künstler unserer Illustration, Franz Zverina in Brünn, theilt uns über den Gegenstand derselben eine Schilderung mit, welcher wir das Nachstehende entnehmen. Die Brücke selbst haben wir nördlich von Montenegro im südlichen Theil der Herzegowina zu suchen, die zu dem in diesem Augenblicke so wichtigen Bosnien gehört. In jenen wilden Gebirgen entspringt die Drina, die bekanntlich in ihrem letzten nördlichen Laufe als schiffbarer Fluß die Grenze zwischen Serbien und Bosnien bildet und beim Fort Racsa in die Save mündet.

Erfüllt von den tagtäglichen Schilderungen türkischer Gräuelthaten, so erzählt unser Gewährsmann, überschritt ich nicht ohne Bangen die Montenegriner Grenze bei Rovno und wanderte, meinem unzähmbaren Drange folgend, auch die jenseits der Grenze, in der Herzegowina aufragenden Planinen (Hochebenen)

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Die Evangelistenbrücke über die Drina in der Herzegowina.
Nach der Natur aufgenommen von Professor Franz Zverina.

[718] zu sehen, rüstig jenen Bergen zu, wo der Segen des Friedens unter der Paschawirthschaft bis jetzt noch keine Wurzeln schlug und wo trotz Jahrhunderte währender Kämpfe noch keine Freiheit erblühte.

Ich konnte es als ein glückliches Zeichen ansehen, daß ich schon bei Mala Podgorica, unfern der Grenze, eine Reisegesellschaft in einem hübschen jungen Mädchen fand, welches mir freundliche Grüße zurief. Ich muß bemerken, daß das obwohl auf einer niederen Culturstufe stehende Herzegowinervolk doch zu vielen schönen Sitten auch jene sehr ritterliche zählt, daß auf Reisen und zu jeder Zeit und auch auf den einsamsten Stellen kein Mensch so sicher reist wie Mädchen und Frauen. Selbst Männer genießen in ihrer Gesellschaft ein gewisses Recht der Unantastbarkeit. Als ich landesüblich zu meinem Gegengruße auch die Frage nach ihren nächsten Verwandten an sie richtete, hub sie nicht gerade schmerzlich bewegt, aber, weil sie hierüber mehr zu sagen hatte, mit tiefer ausgeholtem Athem an:

„Meine Mutter und meinen Vater kenne ich nicht; meinen Bruder habe ich viele Jahre nicht gesehen, und meine Schwester werde ich kaum je wieder sehen.“

Noch ehe ich nach der Deutung dieser fast mystisch klingenden Worte fragen konnte, erzählte sie weiter:

„Meine Mutter starb kurze Zeit nach meiner Geburt auf der Flucht vor plündernden Türkenschaaren; mein Vater zog schon mit unserer Rächerschaar des Vuko Goluba und später das Luka Vukalovic im Lande kreuz und quer umher, kaum ahnend, daß ich noch am Tage meiner Geburt aus menschlichem Erbarmen schon fremde Muttermilch gesogen. Mein Vater flüchtete später über die Grenze in fremde Länder. Er kam nie wieder. Als Waisen lebten ich, meine Schwester und mein Bruder schwere Tage, und das Schicksal zerstreute uns endlich ganz. Schwester und Bruder verloren ihr Heim. Ich sollte die Glücklichste sein. Ich bin Braut und tanze als Mädchen kommenden Sonntag das letzte Mal den Kolo. Mein Bruder lebt an fremdem Herd; er nahm Dienste in der Czernagora (Montenegro = der schwarze Berg); Kolaciner Marktleute brachten mir Kunde und Grüße von ihm; er will zu meiner Hochzeit kommen und eine ganze Oka (etwa zwei Pfund) Pulver verschießen, weil ich des schwarzen Jovo, seines Freundes, Weib werde. Aber ich glaube, daß er auch, so Gott will, meiner Schwester Raub zu rächen kommt. Dieser riß der Türke das Kreuz von ihrer Brust; sie starb für uns, denn seit Weihnachten im Vorjahr schmachtet sie im Harem zu Mostar.“

Welchen Blick eröffnet diese eine Familiengeschichte in die Zustände des Landes und die Ursachen des jetzigen Aufstandes! Ich fühlte und konnte es nun wissen, daß ich bereits auf dem blutgetränkten Boden türkischer Oberherrlichkeit schritt, und dennoch sollte ich bei der Evangelistenbrücke weit mehr erfahren.

Die Braut ging mit mir gleichen Weges. Sie schritt, den Korb auf dem Haupte, so rüstig voran, daß ich ihr kaum folgen konnte, und hatte aus purem Mitleide – erregt durch mein erbärmliches Aussehen – mir einen Theil meiner Bürde abgenommen. Als ich sie später dafür belohnen wollte, wies sie mein Ansinnen mit der naiven Bemerkung zurück, es wäre ja unchristlich, einem armen Wallfahrer – für den hielt sie mich nämlich – nicht helfen zu wollen, aber wenn ich ihr ein kleines Heiligenbild schenke, wolle sie noch als Jovo’s Weib für meine arme Seele beten. Ich förderte mein Seelenheil und schenkte ihr zwei Heiligenbildchen und alle entbehrlichen metallenen Knöpfe und Schnallen für die Struka (Brustlatz) ihres Jovo.

Je höher wir stiegen, desto steiler und holpriger wurde der Weg, der sich stellenweise außerordentlich verengte. Auf den Abkürzungspfaden gelangten wir auch an sogenannte Felsleisten, welche kaum die Breite von zwei bis drei Fuß hatten, und wo wir über unsere Sandalspitze in die gähnende dunkelblaue Tiefe sahen. An einer solchen Stelle kam uns ein Mann mit drei Lasteseln nach, die der Durst antrieb, uns zu einer nahen Cisterne vorauszueilen. Nachdem auch wir unsern Durst gelöscht und durch kurzes Ausruhen uns gestärkt hatten, setzten wir die Reise gemeinsam fort, in lebhaftem Gespräch über die Schönheit und das Unglück dieser „Illyrischen Schweiz“.

Sechs Stunden Weges hatten wir auf der felsigen Hochebene bereits durchschritten, und vier Stunden standen uns, um unter Dach zu kommen, noch bevor, wenn wir das erste Dorf nach landesüblicher Sitte noch vor Sonnenuntergang erreichen wollten. Denn wer im Dorfe später anlangt, kann an’s Thor lange pochen, und er pocht vergebens.

Als sich der Weg zur Thalsohle neigte, übersahen wir das herrliche Panorama von Bergen und Schluchten, in deren vordersten sich die Drina in zahllosen Windungen tobend Bahn bricht. Auch unsere Brücke war von der Höhe aus bereits sichtbar. Als wir dieser ansichtig wurden, erzählte mein Begleiter, der mich bisher schon mit mancher keineswegs gemüthlich klingenden Geschichte unterhalten hatte, noch einige, von welchen zum Schlusse nur die folgende hier Platz finden möge.

Der braune Geselle hub an:

„In den fünfziger Jahren hausten Krieg und Jammer in unseren Bergen. Unsere braven Führer Vuko Goluba und Anto Vukosov schlugen sich tapfer mit den Türken und hieben zerfleischend in ihre Schaaren ein. Erschienen diese in zu großer Uebermacht, so wußten die Unseren regelmäßig durch schleunige Flucht auf die Berge zu entkommen.

Da fingen die Türken einst den Krca Petrovic, einen rechtlichen Mann, und wollten ihn zwingen, ihnen das Lager seiner Brüder zu verrathen. Dieser kannte, da er ein hülfeleistender Bruder (fremder Zuzügler) war, das Lager selbst nicht. Sie schleppten und stießen ihn im Dorfe hin und her, maltraitirten ihn arg und zogen ihn endlich mit sich fort. Und als er, auf der Brücke angelangt, zum Zeugen, daß er nichts verrathen könne, hier das Kreuz anrief, banden sie ihn unter dasselbe fest und stachen ihm die Augen aus. Das Kreuz brachen sie ihm über dem Kopfe zusammen, und es fiel auf ihn – so hat man ihn jammernd gefunden. Er lebte hierauf noch sieben Jahre, aber starb dennoch keines natürlichen Todes.

Als sich die Dorfbewohner vor den Türken einst wieder in die Berge flüchten mußten, konnte er als Blinder die schmalen Felswege nicht mehr betreten. Er blieb deshalb zurück und verkroch sich auf dem Boden seiner Hütte. Doch die Wüthriche brannten das ganze Dorf nieder, und Petrovic kam in den Flammen um’s Leben.

Aber in wenigen Jahren schon rächte diese That unser Luka Vukalovic fürchterlich und zahlte die Schuld den Türken blutig heim. Er ereilte mit seiner tapferen Ceta (eine größere Abtheilung Krieger) den Türkentroß. Den Agalic selbst schleifte er mit noch einem rothbärtigen Türken an den Ort ihrer Gräuelthat, zur Brücke, und knüpfte sie mit den Roßhaarsträngen türkischer Barjake (Türkenfahnen) gleich Schächern zu beiden Seiten des Kreuzes an den Brückenpfählen auf. An diesen flattern die Galgenstränge heute noch im Winde. Mit den versilberten Hufen des Agapferdes wurden, nachdem sie zu Reifen umgebogen waren, die Kreuzstücke umklammert. Auch diese sind noch sichtbar.

Diese harte Sühne hat das Leben der Wittwe Petrovic freilich nicht besser gestaltet; sie selbst, schon alt und schwach, lebt traurige Tage und hütet auf den Bergen ihre wenigen Ziegen. Die junge Staza, ihre Tochter, wurde schon Wittwe zur Zeit, als sie ihren Mann kaum recht kannte. Er fiel in der Porimschlucht, in welcher Luka gefangen zu werden arg bedroht war, und hinterließ ihr als theuere Abschiedsgabe ein Knäblein in den Armen.“

Bei dieser Erzählung kamen wir zur Brücke, deren Mitte eben mit der sinnigsten Staffage belebt wurde. Da sah ich Gläubige beim Kreuze beten, so beten, wie es der Mensch nur im größten Unglück, und wenn er des Lebens Last schwer schon trägt, andächtig zu vollbringen vermag. Eine junge Mutter – selbst noch einem Kinde gleichend – hatte zu den Füßen des Kreuzes ihren Säugling hingelegt, um ihn gleichsam dem Schutze des Angeflehten zu weihen. Auch das unmündige Kind streckte seine Händchen gegen den Himmel. Eine andere hagere Gestalt stand niedergebeugt mit einem langen Gewehre im Arme und hob, in einen Mantel gehüllt, die zitternden dürren Hände ebenfalls zum Kreuze empor. Von diesem wehten Düfte geopferter frischer Blumenkränze herüber, und eine lautlose Stille herrschte am Bache. Selbst die unten weidenden Thiere regten sich kaum und standen wie gebannt, von den kalten Wellen der Drina umfluthet. Der Moment schien auch für mich eine Aufforderung zum Gebete zu sein. Nachdem ich es verrichtet und die Betenden uns näher gekommen, sah ich, daß die waffentragende [719] Person ein altes gramgebeugtes Mütterchen war, dem eine Thräne im matten Auge glitzerte und das noch immer Gebete zu lispeln schien.

Bewältigt von den heute erlebten Eindrücken und eingedenk des in jenen Gauen landläufigen inhaltsschweren Sprüchwortes: „Schwer lebt sich’s dem Weibe, das des Mannes Waffen trägt,“ sprach ich, von Mitleid tief gerührt, zu meinen Genossen:

„Auch ein Mütterchen, das wohl nicht weniger Leid erfahren hat, als die Wittwe Petrovic’s.“

„Fürwahr, so ist es auch,“ erwiderten diese, „denn – sie ist es selbst.“

Dem ganzen Eindruck der Umgebung entsprechender hätte ich nicht zu der alten merkwürdigen Brücke geführt werden können. Sie ist sehr alt und gewiß noch in den Jahren der frühesten serbischen Freiheitskämpfe entstanden, also in jenen Zeiten, in welchen ein Häuflein muthiger Krieger das heutige Montenegro begründete.

Die Stelle ist mit großem Geschick gewählt. Das Bett der Drina ist hier ziemlich breit. Bei Hochwasser steigt sie daher nicht so rasch, daß Gefahr für die Brücke entstünde. Mächtige Felsblöcke, welche sich einst von der steilen Felslehne des Brlac lösten oder die Gipfel jenseitiger Berge krönten, liegen zur Hälfte im Flußbette begraben. An ihrem oberen Theil brechen sich im Frühjahre schäumend die Wellen, ohne diese Kolosse wie die kleineren Felstrümmer in die niederen Thäler fortwälzen zu können.

Fest im Boden eingekeilt und von eigener Schwere gebannt, ruhten sie vielleicht Jahrtausende, ehe der erste Versuch wechselseitigen Verkehrs gemacht, das erste Bret über sie gelegt wurde. Aus schweren Klötzen scheinbar zufällig, ist doch alles erfahrungsgemäß nach dem Gesetze der Festigkeit in einander gefügt, aber, wie auch leicht erklärlich, nach den zerstreut liegenden Blöcken in Zickzacklinien, so daß auf den schiefen, holperigen Trittflächen es oft einiges Balancirens bedarf und man ein geborener Herzegowiner sein müßte, um auch im Dunkel der Nacht die Ferse gefahrlos darüber setzen zu können.

Wahrscheinlich dem Schutze der Evangelisten allzu viel vertrauend, halten es die heimischen Passanten für genügend, das improvisirte Geländer aus Weidenruthen nur stellenweise hingeflickt zu haben; sobald man auf der Mitte jeder Biegung angelangt ist, muß man mit der anderen Hand das jenseits liegende Geländer mit richtigem Griffe erfassen, wenn man nicht ein unfreiwilliges Kaltbad in der Drina nehmen will.

Der Sage nach sollen sie Moracaner erbaut haben, welche später über die Gebirgskämme nach der Czernagora gingen. Sie war ehedem die einzig sichere Passage, welche die Bewohner der Niksic-Drobnjaker und Grubolitzer Planinen hatten, und ist auch für die heutigen Gebirgsbewohner noch von einer gewissen Bedeutung, da diese gegen die Betretung der breiteren Türkenstraßen und Brücken stets einen leicht erklärlichen Widerwillen hegen. Weiß es doch das arme Bergvolk nur allzu gut, daß auf solchen Straßen die Türken in fürsorglicher Weise von Festung zu Festung nur Kanonen führen, welche, seit sie das Arsenal verließen, nur gegen die Unterthanen gerichtet werden, denen die beim Bau jener Zwingburgen erhaltenen Schwielen bis jetzt nicht vernarbten.

Die Brücke ist auch ein vieljähriger Zeuge blutiger Kämpfe. Beim wandelbaren Kriegsglücke drangen die Türken auch bis zu dieser Stelle und übten hier ihre Zerstörungswuth. Sie zerbrachen wiederholt das Kreuz und verstümmelten bis zur Unkenntlichkeit auch die Evangelistenfiguren an den Pfählen, aber die christlichen Kämpfer richteten schon am ersten Siegestage das Kreuz mit blutenden Armen desto höher empor, und ihr frommer Sinn beeilte sich, mit den schönsten Blumen und Kränzen die Wundmale desto reicher zu schmücken, welche oft genug mit thränengenäßten Bändern von unglücklichen Müttern und Bräuten, die ihre Gefallenen hier betrauern, umweht und umschlungen sind. – So stimmt die rauchgeschwärzte Färbung der Brücke uns düster, aber sie stimmt mit der Geschichte des Landes überein. Die oft geschürte Flamme konnte die Brücke nie ganz verzehren, und so ist sie heute noch die Wahlstätte jüngerer und vielleicht glücklicherer Streiter. Mancher sonngebräunte Bergsohn sammelte mit findigem Auge in diesem Brückengehölz schon als Knabe fehlgeschossene Türkenkugeln, um sie, kaum zum Jünglinge gereift, im neuergrimmten Kampfe seinem Erzfeinde wohlgezielter zurückzusenden, und unter dem Bilde des Kreuzes stählt sich auch jetzt der Muth dieser Falkensöhne zur Heldengröße und läßt in ihrer Brust das Feuer des Glaubens und der Freiheit nicht erlöschen.