Textdaten
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Autor: J. W. v. M
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Titel: Am Niagarafalle
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 708–710
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[708]
Am Niagarafalle.
Von J. W. v. M.

Kaum graute noch der Tag, so wurde ich plötzlich aus meinem Schlummer aufgeschreckt. Eilende Schritte, ein unverständliches, ängstliches Durcheinanderrufen brachte mich auf den Gedanken, daß irgend etwas Ungewöhnliches sich ereignet haben müsse, als dicht unter meinem Fenster eine gellende Stimme rief: „a man in the rapids“ (ein Mann in der Stromschnelle).

Wie der Blitz war ich von meinem Lager, warf mich hastig in meine Kleider und eilte auf die Straße, wo mich der Strom der aufgeregten Menschenmenge erfaßte und nach dem Schauplatze des Ereignisses führte.

Einige hundert Schritte vor dem Falle des Niagara scheidet eine Insel die reißend schnell dahinstürzende Wassermasse desselben in zwei Arme, deren rechter das amerikanische Ufer bespült. – Hier sind die furchtbaren Rapids. – Stromschnelle, Katarakt, Wirbel, ich finde kein Wort, die Natur dieser Rapids vollständig wiederzugeben. In rasendem Schwunge stürzt das Wasser, eingeengt zwischen Festland und Insel, wie nach Vernichtung gierig, über felsigen Grund dem nahen Abgrunde zu – ein entsetzliches Gewühl von titanischen Gewalten, von deren Wucht die riesenhaftesten Stämme, welche der ferne Urwald sendet, wie schwache Stäbchen geknickt im Strudel versinken.

Als ich auf der Insel (Goat-Island) ankam, war die Brücke, welche dieselbe mit der amerikanischen Seite verbindet, und das Ufer der Rapids mit Tausenden von Menschen bedeckt, denen sich ein herzzerreißendes Schauspiel bot. Kaum zwanzig Schritte oberhalb des senkrechten Falles, mitten im Strombett auf einer Klippe, befand sich ein junger Mensch, der, mit dem Ausdrucke der höchsten Verzweiflung in seinen Mienen, die Menge um Hülfe anzuflehen schien. Auf meine Fragen erfuhr ich, daß drei junge Freunde am Abend vorher die vermessene Idee ausführen wollten, in einem kleinen Kahne weit oberhalb auf dem Strome spazieren zu fahren.

Kaum waren sie vom Lande abgestoßen, als die wilde Strömung trotz aller Anstrengungen der Ruderer das schwache Fahrzeug erfaßte; es schlägt um und verschwindet wenige Augenblicke nachher mit zweien der Freunde im kochenden Strudel; der Dritte, Avery mit Namen, hatte sich, nachdem ihn die Strömung bis nahe vor den senkrechten Fall mit sich gerissen, an einem Baumstrunke festgehalten. – Es war derselbe, dessen Todeskampf zu schauen wir gekommen waren.

Nicht die wildeste Phantasie vermöchte die tausendfachen Schrecken des Todes zu ahnen, welche den Unglücklichen seit elf Stunden inmitten des Flusses, kaum zwanzig Schritte von dessen jähem Sturze in den Abgrund, umtobten. Sein Hülferuf während der ganzen langen Nacht erstarb im Donner des Falles; erst das mitleidige Licht des Tages offenbarte die entsetzliche Lage des Unglücklichen, deren Schreckenskunde mit Blitzesschnelle durch die Gegend flog und alle Bewohner der zerstreuten Häuser herbeirief, beseelt von dem glühendsten Verlangen, den Armen zu retten. Aber ein Abgrund, und welch’ ein schauerlicher Abgrund! trennte ihn von seinen Rettern.

Ich habe die feste Ueberzeugung, daß keiner der Anwesenden vor dem Opfer einiger seiner eigenen Lebenstage zurückgebebt wäre, wenn der Engel des Todes diese Sühne geheischt hätte. Der aber marktet nicht; finster und unerbittlich umschwebte er das Haupt des verzweifelnden Jünglings.

Da rief einer der Zuschauer, Herr Porter, mit aller Kraft seiner Stimme:

„Tausend Dollars dem, der ihn rettet!“

Und wie ein Echo antwortete eine zweite Stimme:

„Auch ich verspreche tausend Dollars dem Kühnen, der es wagt!“

Als ich nach dem Namen des Zweiten forschte, hieß es: „ein Mann aus dem Süden“; mehr wußte man nicht zu sagen.

Das hochherzige Anerbieten steigerte das Mitleid bis zum Enthusiasmus und zwanzig Stimmen riefen auf einmal:

„Nur eine Stunde noch halte er aus, und wir retten ihn.“

Wie aber konnte man dem Unglücklichen diese tröstliche Nachricht beibringen, daß er den Muth bewahre im stürmischen Drange der Todesangst?! – Da ergriff mein lieber Reisegefährte, Herr Ulke, ein junger, talentvoller Künstler, dem keine tausend Dollars, wohl aber eine Idee von nicht geringerem Werthe zu Gebote stand, einen Pinsel und malte die englischen Worte: We will save you in riesengroßen Lettern an eine Mauer. Der Unglückliche, der zu ahnen schien, daß dies ihn angehe, folgte jedem Zuge der Schrift mit seinen Augen und schüttelte wehmüthig das Haupt, als der Maler geendigt hatte. Diese Sprache war ihm fremd.

Da schrieb Herr Ulke mit deutlichen großen Zeichen: „Wir retten Dich.“ – Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es das Antlitz des jungen Mannes, seine freudigen Mienen schienen zu sagen: „Großer Gott, sind Deutsche da, dann bin ich gerettet!“

In diesem Augenblicke braust eine Locomotive heran, die vor einer halben Stunde nach Buffalo gesendet worden, und bringt ein Rettungsboot.

Mit größter Vorsicht wird das kleine Fahrzeug an starken Tauen befestigt und in’s Wasser gelassen. Die Strömung schleudert es nach allen Seiten, wirft es in die Höhe – es widersteht, [709] aber es ist aus der Richtung gekommen – nach fünf Minuten banger Erwartung hört es auf zu schwimmen. Die Taue haben sich in den Felsen verwickelt, das Boot steht unbeweglich fest.

Die Blicke des Schiffbrüchigen haften verzweifelnd an dem Kahne – er begreift, daß er für diesmal der Hoffnung entsagen muß.

Nicht Willens, die kostbare Zeit mit unnützen Versuchen zu vergeuden, ergreift die Masse einstimmig den Vorschlag, ein Floß zu bauen, und tausend Hände regen sich, Alles wetteifert, Männer, Weiber und Kinder, alt und jung, reich und arm, die Arbeit schleunigst zu beginnen.

Aber die Erbauung eines Flosses erfordert eine Zeit, welche vielleicht zu lang für die Kräfte des Armen sein könnte, der die ganze Nacht ohne Nahrung im Wasser zugebracht, von dem erschütternden Donner des Falles umgeben, gegen welchen das Heulen der Charybdis ein schwaches Gemurmel wäre.

Diese Furcht ist die Urheberin einer andern Idee. Man füllt ein Faß mit Lebensmitteln und vertraut es der Strömung an. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, schwimmt es in der Richtung des Baumstammes auf den Schiffbrüchigen zu – er sieht es mit einem Ausdruck unaussprechlicher Dankbarkeit, er streckt seinen Arm aus, erfaßt es, aber die Strömung reißt es aus seinen schwachen Fingern, und einige Minuten darauf hat es der Abgrund verschlungen.

Ein Mann in der Stromschnelle.
(Nach einer Originalzeichnung des Verfassers.)

War es die schmerzliche Täuschung allein oder die Ahnung seines schrecklichen Schicksales, die sich auf den Zügen Avery’s so deutlich ausprägte?

Unterdessen schreitet der Bau des Flosses rasch vorwärts, der Unglückliche verfolgt mit sehnenden Blicken den Gang der Arbeit; er klammert sich inniger an seinen einzigen Hoffnungsanker und wartet. –

Die Arbeit ist gethan; das Floß, von mächtigen Tauen gehalten und mit Seilen reichlich versehen, schwimmt auf dem Wasser. Es ist ein Augenblick furchtbarer Angst für alle die bangen Gemüther, der Athem stockt und jedes Wesen sendet seine innigsten Gebete für das Gelingen des Unternehmens zum Himmel.

Das Floß hält die Richtung nach dem Baume, es nähert sich reißend schnell; Avery hält sich gefaßt, ihn ermuthigt die Großherzigkeit seiner Retter.

In athemlosem Schweigen harrt die Menge, als sich das Floß bei ihm befindet, er springt – er fällt – er hält sich fest – er scheint gerettet. – Ein donnernder Jubelruf aus tausendfachem Munde zerreißt die Lüfte, und übertönt im Augenblick das schauerliche Gebrüll der Wasser, die ihre Beute fordern.

Ueberwältigt von der Wucht seiner Gefühle sinkt der Arme auf die Kniee, und hebt die Arme zum Himmel auf mit einem Blicke unendlichen Dankes. Doch kaum hat das Floß sich aufwärts bewegt, als auch er durch die verhängnißvolle Ursache aufgehalten wird, welche vorher den Kahn gefesselt hat. Die Taue haben sich um einen Felsen geschlungen, das Floß bleibt unbeweglich, obwohl man gleich alle Mittel versucht, die Taue abzuwickeln. Man spannt 2, 4, 10, endlich 20 Pferde daran – der Stein erzittert, er wankt, er stürzt.

Unaufhaltsam steigt das Floß aufwärts, es kämpft 5 bis 6 Minuten gegen die Strömung, und wieder ertönt das Jubelgeschrei der Zuschauer, das den Triumph des menschlichen Geistes über die rohe Naturgewalt verkündet.

Ein diesmal unübersteigliches Hinderniß hält aber plötzlich den Siegeslauf des unverzagten Muthes auf, ein Fall von vier Fuß Höhe, den das Floß trotz aller Anstrengungen der Ziehenden und Avery’s verzweifluugsvollen Versuchen nicht übersteigen kann. Und wieder ertönt in diesem Augenblicke höchster Angst der weithin schallende Ruf: „Tausend Dollars mehr für einen weitern Versuch der Rettung!“

Und wieder eilt eine Locomotive nach Buffalo, und bringt ein zweites Lebensboot. Es ist die höchste Zeit, die Kräfte des Verunglückten schwinden sichtlich.

[710] Der Tag ist unter resultatlosen Versuchen verstrichen, die Sonne neigt sich zum Untergange, es ist 6 Uhr, und seit 32 Stunden ringt Avery um Leben und Tod.

Das Fahrzeug, von Tauen gehalten, beginnt seinen Lauf mit langsamer Sicherheit, die Richtung nach dem Flosse verfolgend, es nähert sich, Avery löst die Bande, die ihn auf dem Flosse festgehalten – noch einen Augenblick, und das Boot ist an seiner Seite.

Bewegungslos, wie vorhin, starrt das Volk auf den Jüngling, der zitternd vor Schwäche und Hast die Arme nach den rettenden Borden ausstreckt – da hebt sich das Vordertheil des Flosses, wie von einer unterirdischen Gewalt getroffen, Avery verliert das Gleichgewicht, er taumelt, er stürzt in die Wirbel. Entsetzen hat die vorhin noch so hoffnungsfreudigen Herzen der Zuschauer erstarrt.

Mit dem Reste jenes Muthes, welcher die Menschen im Angesichte und in der Umarmung des Todes zu ohnmächtiger letzter Anstrengung aller Kräfte antreibt, versucht Avery gegen den Strom zu schwimmen.

Nachdem er sich aber kaum einige Augenblicke auf einem Punkte erhalten, verlassen ihn die Kräfte, der Strudel erfaßt ihn, er überstürzt ihn und wirbelt ihn nach dem Abgrund. Noch hat er ihn nicht erreicht, da erhebt er sich mit letzter Anstrengung über das Wasser, ein einziger Blick nach dem linken Ufer, eine verzweiflungsvolle Gebehrde des Abschiedes – er ist verschwunden.

Da wenden sich alle Blicke nach jener Seite, die bisher Niemand beachtet hatte. Dort liegt eine Frau auf den Knieen und stürzt im Augenblicke, als der Unglückliche über dem Abgrunde verschwindet, wie vom Blitze getroffen, todt nieder. Die Frau, welche vom Morgen bis zu diesem entsetzlichen Momente mit starren, thränenlosen Blicken den Himmel um Hülfe angefleht hatte, war seine Mutter.