Allerlei Nahrung. III. Muschelthiere

Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Allerlei Nahrung. III. Muschelthiere
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 233–234
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Allerlei Nahrung.

Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
III.0 Muschelthiere.[1]

Könige reisen nur selten ohne Gefolge und auch nur dann, wenn sie in Folge von Niederlagen und Revolutionen froh sein müssen, mit heiler Haut davonzukommen. Königinnen haben wenigstens eine treue Kammerfrau mit sich, welche bei strengster Wahrung des Inkognito mit einem Billett zweiter Klasse reist, während die Herrin in einem Koupé erster Klasse Platz nimmt.

Die Auster ist die Königin unter den Muschelthieren, wenn es sich um materielle Genüsse handelt, die Miesmuschel ist die plebejische Kammerfrau, die ihre Herrin in zweiter Klasse begleitet. Sie kommt nicht so weit wie die Auster, wird weniger gern und nur in ganz besonderer Toilette zu festlichen Tafeln beigezogen, behauptet aber ihren Rang an dem Tische des zweiten und dritten Standes, ganz besonders in ihrem heimathlichen Gebiete.

Die Miesmuschel ist nicht sehr wählerisch in Bezug auf ihren Wohnsitz. Sie steigt aus dem Meere in das Brackwasser, ja in fast ganz süßes Wasser hinan: sie siedelt sich sogar über der Grenze der Ebbe an, so daß sie täglich mehrere Stunden auf dem Trockenen liegt, und kümmert sich wenig um Sand, Schlamm und Schlick, obgleich sie reines und ganz besonders bewegtes Wasser vorzieht. Mit ihren Byssusfäden, die sie aus einer Drüse neben dem Fuße spinnt, legt sich die Miesmuschel förmlich vor Anker und bietet den heftigsten Strömungen Trotz. An den Küsten des Kanals wie an denen Schottlands und Norwegens kann man Stellen genug finden, wo bei dem Anprallen der Fluthwellen wie bei dem Rückzüge der Ebbe die Gewässer sich tosend zwischen Felsen durchdrängen, die über und über mit Miesmuscheln bedeckt sind. An vielen Küsten sieht man bei Ebbe meilenweit einen dunklen violetten Saum sich erstrecken: es sind dicht zusammengedrängte Miesmuscheln, die sich unmittelbar unter der Fluthgrenze angesiedelt haben; bei Bergen in Norwegen sah ich seichte Uferbecken, welche bei der Fluth sich mit Meerwasser, bei der Ebbe mit süßem Wasser füllten und deren Boden mit Miesmuscheln gepflastert war.

Ueberall, von Inverneß in Schottland und Ellerbeck in der Kieler Bucht bis nach Otranto und Triest sehen wir dieselben Einrichtungen zum Fange und zur Züchtung der Miesmuscheln, deren man sowohl zur Nahrung, als auch zu Ködern für den Fischfang benöthigt. Seebarsche, Knurrhähne und Schellfische beißen am liebsten an Angeln, welche mit den orangegelben Körpern der Miesmuscheln angeködert sind. Die Küstenbewohner haben ihre Züchtungsmethode der Thatsache abgesehen, daß die Miesmuscheln sich überall ansetzen, an Felsen wie an Holzpflöcke, ja selbst an schwimmendes Holz, an Landungsbrücken, Dammverschalungen und Flöße. Die „Muschler“ rammen Pfähle ein, die sie mit Reisig bekleiden, oder Bäume mit Aesten und Zweigen, verbinden dieselben wohl auch, wie bei Otranto, mit Seilen aus Spart gedreht und warten ruhig drei bis vier Jahre, bevor sie diese so einfachen Fangmaschinen ausziehen und ablesen. Die schwimmenden Larven der Miesmuscheln setzen sich an diese Fänge, wachsen und gedeihen, bis sie marktfähig sind. Die ganze Arbeit der Miesmuschelfischer beschränkt sich also auf das Einrammen und Ausziehen ihrer Faschinenpfähle – alles Uebrige wird der Natur überlassen. Der Austernzüchter hat dagegen beständig mit Reinigen, Umlegen und Bewirthschaftung seiner Parks zu thun; der Auster haftet demnach, abgesehen von ihrer inneren Vortrefflichkeit, ein gewisses Quantum menschlicher Arbeit an, das in dem Preise seinen Entgelt finden muß. Dagegen stellt sich die Miesmuschel in Beziehung auf den Transport weit vortheilhafter; ihre Schalen, die eben so werthlos sind wie die Austernschalen, sind weit dünner und leichter als diese. In einem Centner Miesmuscheln findet sich gewiß doppelt so viel lebende Substanz, wie im gleichen Gewichte Austern.

Ich wüßte nicht, daß die Miesmuscheln so wie die Austern lebendig ohne weitere Zubereitung verzehrt würden. Bei meinen vielfachen Exkursionen im Mittelmeere, an den Küsten des Oceans, des Kanales und der Nordsee schlürften meine Matrosen behaglich die Felsenaustern oder boten sie mir als Leckerbissen an, aber die Miesmuscheln sammelten sie nur, um sie nach Hause zu bringen und dort zubereiten zu lassen. Selbst in Otranto, wo die „Cozze nere“ genannten Muscheln einen Hauptbestandtheil der Volksnahrung ausmachen, werden sie nicht roh verspeist. Dagegen finden sie massenhafte Verwendung entweder in selbständiger Zubereitung, geschmort und lebhaft gewürzt mit Zwiebeln und spanischem Pfeffer oder als Zuthaten bei gewissen Gerichten. Eine „Sole normande au gratin“, der Triumph der Zubereitung einer Seezunge, ist ohne reichliche Beigabe von Moules fast undenkbar. Die Miesmuschel verleiht dem ganzen Gerichte einen feinen, würzigen Duft, der sich weder durch Austern, noch durch Crevetten ersetzen läßt, so anerkennenswerth diese auch sonst sein mögen. Schade, daß die Miesmuschel zuweilen ein gefährliches Gift beherbergt, dessen Wirkungen man wohl kennt, dessen Natur aber noch nicht enträthselt ist. Das Gift entwickelt sich nicht erst nach dem Tode; es steckt in der anscheinend ganz gesunden und lebensfrischen Muschel. Eine todte, verdorbene Auster, die ihre Schalen geöffnet hat, ist das Schrecklichste, was der Mensch in den Mund bekommen kann; sie macht Ekel, Erbrechen, vergiftet aber nicht und verräth sich augenblicklich durch Geruch und Geschmack. Die giftige Miesmuschel riecht und schmeckt wie die andern; sie verräth sich erst, wenn es zu spät ist, durch ihre Wirkung, die ich an mir selbst kennen gelernt habe.

[234] Ich hatte den Sommer mit meiner Familie in Roscoff, einem kleinen Küstenstädtchen der Bretagne, zugebracht, und wir hatten uns dort öfter an einer Schüssel Miesmuscheln ersättigt, die unsere Wirthin ausgezeichnet zuzubereiten wußte. Niemals hatten weder wir noch unsere Gäste den mindesten Nachtheil von selbst reichlichem Genusse der Muscheln verspürt. Man kann wohl annehmen, daß eine Person bei einem solchen Mahle fünfzig Stück der vor dem Kochen entbarteten Muschelthiere zu sich nimmt. Ich war also ziemlich ungläubig gegenüber den Erzählungen von zum Theil schweren Erkrankungen, die nach Genuß von Miesmuscheln eingetreten sein sollten. Ich sollte bald eines Anderen belehrt werden.

Bei der Rückkehr nach Genf hielt ich mich einige Tage in Paris auf und frühstückte einmal bei einem befreundeten Arzte in Gesellschaft von einem halben Dutzend medicinischer Kollegen. Wir sprachen Alle einer Sole au gratin in der Weise zu, wie es vernünftige Esser thun, die sehr wohl wissen, daß einem solchen Vorgerichte andere gute Schüsseln zu folgen pflegen, denen keine Ehre anthun zu können man später bereuen würde. Wir waren unter lebhaftem, heiterem Gespräche am Dessert und beim Käse angelangt, als ich plötzlich einen solchen Schwindelanfall bekam, daß ich fast vom Stuhle gefallen wäre. Uebelkeit, Erbrechen, Durchfall folgen bei andauerndem Schwindel. Man streckt mich auf ein Ruhebett, der Hausherr ruft nach sehr starkem Kaffee gegen den Schüttelfrost, der sich einstellt. Die Kollegen diskutiren und stellen die Diagnose: Indigestion. Schwindel und Frost lassen nach reichlichem Genusse von stärkstem Kaffee und Kamillenthee nach. Der Hausherr, der Erfahrenste von Allen, befragt die Köchin.

„Waren Miesmuscheln an der Sole?“

„Versteht sich!“

„Da haben wir’s! Der Professor hat wahrscheinlich eine giftige Muschel bekommen, die einzige, die in dem Gerichte war; denn wir haben die Schüssel gänzlich aufgegessen und sind Alle kernwohl. Nun, die Nesselsucht wird nicht ausbleiben! Jetzt duselt er, in einer Stunde wird er schon aufwachen.“

In der That wache ich nach einer Stunde etwa auf, zappelig wie ein Mehlwurm, roth wie ein Krebs, mit unsäglichem Brennen und Prickeln auf der Haut, krampfhaften Zuckungen in allen Gliedern, während der Kopf brennt wie Feuer. Limonade mit Eis. Gegen Abend lassen alle Erscheinungen so vollkommen nach, daß ich mich in eine Sitzung der anthropologischen Gesellschaft begeben kann, in der ich aber nur kurze Zeit aushalten konnte; denn ich war noch am folgenden Tage wie gerädert und meine Haut marmorirt mit röthlichen Flecken.

Die akute Nesselsucht ist nicht ganz charakteristisch für die Muschelkrankheit; denn sie befällt auch manche Personen nach dem Genusse von Krebsen oder Erdbeeren. Aber die Muschelkrankheit ist nicht immer so harmlos; Freunde von mir waren wie an einem Ausschlagstyphus daran erkrankt und erlitten noch während Jahren Rückfälle bei Gelegenheiten, wo Andere einen Schnupfen davontrugen. Vor einiger Zeit hat man von einer wahren Epidemie gelesen, die unter Arbeitern in Wilhelmshafen ausbrach, wo nach reichlichem Genusse von Miesmuscheln etwa 30 Personen schwer erkrankten und einige starben. Bei genauerer Untersuchung dieses Vorfalles hat sich herausgestellt, daß alle im inneren Becken von Wilhelmshaven befindlichen und offenbar durch die eingehenden Schiffe eingeschleppten Miesmuscheln giftig sind, wie Versuche an Thieren erwiesen haben. Bei längerem Aufenthalt im äußeren Becken verlieren sie ihre Giftigkeit und werden wieder genießbar. Aber das Gift selbst hat man noch nicht isoliren und namentlich nicht erhärten können, ob Mikroben dabei im Spiele sind. Kehren wir zu meinem Falle zurück.

Ich hatte mit der Portion Sole, die mir zufiel, gewiß höchstens ein halbes Dutzend Muscheln verzehrt, und man kann weder annehmen, daß ich eine besondere Idiosynkrasie dagegen hatte, da ich ja den ganzen Sommer hindurch solche Muscheln ohne Unbehagen verzehrt hatte, noch kann man glauben, daß die mir zugetheilten Muscheln alle giftig gewesen seien, die der anderen Gäste aber nicht. Es war wohl nur eine Muschel – aber die von ihr bewirkten Erscheinungen waren heftig genug, um, wie man zu sagen pflegt, zur Vorsicht zu mahnen. Schade nur, daß man nicht weiß, wie man diese Vorsicht üben soll; denn wir wissen absolut nicht, wie wir eine giftige Muschel von einer unschuldigen unterscheiden können. Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt ein Sprichwort – ich esse keine Miesmuscheln mehr und schiebe sie bei der Sole normande auf die Seite, indem ich mir aus der obigen Geschichte wenigstens den Schluß gezogen habe, daß das Gift in dem Muschelleibe festsitzt und sich der Brühe nicht mittheilt. Der Kochhitze hält es leider Stand, dagegen soll es, nach den in Folge der Wilhelmshavener Vergiftung angestellten Versuchen, durch Kochen mit etwas Soda vernichtet werden.

Während die Miesmuschel überall, wo sie nur vorkommen mag, zuweilen auftretender giftiger Tücke angeklagt wird, beschuldigt man andere Muscheln, welche strenger lokalisirt sind, nur hier und da ähnlicher Eigenschaften. Neapel steht hier voran. Man muß hier, wie überhaupt im südlichen Italien, eher fragen, was der Küstenbewohner nicht ißt, als was er von „frutti di mare“, von Meeresfrüchten verzehrt. Wer auf Santa Lucia spaziert, sieht in den Körben der Verkäufer fast die ganze Muschel- und Schneckenfauna des benachbarten Meeres den Eßlustigen feilgeboten. Aerzte und nicht eingeborene Einwohner warnen vor allen diesen Meerfrüchten, die Austern mit eingeschlossen. Jetzt, wo überall Mikroben herum bummeln, sollen diese Muscheln und Schnecken mit dem Schlamme und Unrathe, der sich in die Bucht von Neapel ergießt, auch die Mikroben in sich aufnehmen, sie dann beim Genusse in dem Körper des Menschen absetzen und so Typhus, Malaria und Fieber aller Art erzeugen.

Ich glaube nicht an diese Theorie. Ich halte nicht dafür, daß Austern, Mies- und Herzmuscheln, Messerscheiden (Solen) und wie die Dinge alle heißen mögen, gewissermaßen Magazine sein sollen, in welchen gesundheitschädliche Mikroben aufgespeichert werden zu beliebigem Gebrauche. Man bekommt Malariafieber in Neapel eben so gut durch eine Erkältung, wie durch eine Indigestion; man bekommt es fast unausbleiblich, wenn man an einem Ort wohnt, wo der Boden aufgerissen und umgewühlt wird, geschehe dies nun oben oder unten, in den sogenannten gesunden Lagen der Corsi Vittorio Emmanuele und Principe Amadea, oder unten an der Chiaja. Neapel ist ein Ort für Bildung von Legenden, und diese ist eine der abenteuerlichsten; denn kein Mensch hat noch Fiebermikroben in den unschuldigen Muschelthieren finden können.

In den „Clovisses“, wie an den südafrikanischen Küsten einige Arten von Herz- und Tellermuscheln genannt werden, dürfte man vergebens nach Mikroben suchen. Wie nett sind diese verschieden gezeichneten und gefärbten Muscheln von der Größe eines Zweimarkstückes, die aus der einen Schalenöffnung die zierlich gefransten, kurzen Athemröhren, aus der andern den röthlichen Fuß hervorstrecken, wie sauber ihr weißer Mantel, wie fest und schmackhaft ihr Fleisch, das man einem Nußkerne vergleichen möchte! In der Umgebung der großen Etangs, welche den norddeutschen Haffen entsprechen, ersetzen die Clovisses förmlich die Austern und werden in großen Mengen verspeist; aber sie dringen nicht weit vor in das Innere des Landes; Nimes und Toulouse dürften die Grenzen ihres Verbreitungsbezirkes bezeichnen.

In Venedig genießen die Steindatteln (Lithodomus) eines vielleicht zu hoch gespannten Rufes. Die Muschel gleicht in der That mit ihren langen, braungrünen Schalen nicht übel einer getrockneten Dattel, deren Größe sie auch besitzt; ihr Hauptverdienst dürfte aber nicht in ihrer Seltenheit, sondern vielmehr in der Schwierigkeit bestehen, sie in marktfähiger Menge zu beschaffen. Die Muschel bohrt sich in festen Thonboden, am liebsten aber in etwas mürbe Kalksteine so tief ein, daß sie nur durch einen Röhrengang, in welchem durch die Athemröhren ein ein- und ausströmender Wasserstrom erzeugt wird, mit der Außenwelt in Verbindung steht. Die bröcklichen Kalksteine des Lido vor Venedig sind ein Lieblingswohnort der Steindattel. Man muß die Bruchstücke, welche von Wind und Wellen abgelöst werden, aus einiger Tiefe hervorholen und zertrümmern, um der Muschel habhaft zu werden. Die Steindattel hat einen eigenthümlichen Geschmack, als wenn zu Atomen zerstoßener Pfeffer in geringer Menge in ihrem Gewebe zerstreut wäre. Vielleicht rührt dieser Geschmack auch von einer Säure her, welche das Thier absondert und die ihm dazu dient, den Kalkstein aufzulösen, zu dessen mechanischer Anbohrung oder Abfeilung das Thier keine Werkzeuge besitzt. Der Preis der Steindatteln ist ein ganz willkürlicher, stets aber bedeutend höher als derjenige der Austern, die ich unbedingt vorziehe.

Ich ziehe die Auster auch der großen dornigen Herzmuschel (Cardium echinatum) vor, die in Torquay unter dem Namen „Rednose“, mit spanischem Pfeffer und andern Gewürzen geschmort, als Leckerbissen gilt. Für indische Gaumen! Die kleine glatte Herzmuschel (Cardium edule) dagegen hat an den Felsenküsten der Hebriden und Nordschottlands denselben Geschmack und dieselbe Wichtigkeit für die Anwohner, wie die Clovisses in Südfrankreich, während sie in dem Schlamm der Bucht von Torquay auch Schlammgeschmack hat.



  1. Vergl. Jahrgang 1886 der „Gartenlaube“, S. 350 und 364.