Allein am Weihnachtsabend

Textdaten
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Autor: R. U.
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Titel: Allein am Weihnachtsabend
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 816–818
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Allein am Weihnachtsabend.

Ganz allein! Denn der gelangweilte Kellner an der Thür dort zählt so wenig als die Bierkrüge auf dem Tisch, die heute umsonst der braven Familienväter harren. Keiner läßt sich blicken, und Herr Amtsrichter Streber, der „schöne Streber“, wie man vor zehn Jahren sagte, sitzt allein vor der Extraflasche, die ihm den Weihnachtsabend erheitern sollte, aber er sieht ganz und gar nicht heiter aus. Verdammte Gefühlsduselei! ’S ist ein Abend wie ein anderer auch, warum geht man nicht heim, setzt sich an den Schreibtisch und erledigt bei einer guten Cigarre seine Akten, wie dreihundertvierundsechzig Mal im Jahre? Ja – warum?! …

… Der einsame Mann stützt den Kopf in die Hand, seine Gedanken fliegen rückwärts. Nicht bis zur Zeit, wo er selber als glückliches Kind unter dem Christbaum jubelte, nein, nur bis zum ersten Weihnachtsabend, den er, der damals neu aufgegangene Stern, hier im Städtchen feierte. Damals kämpften die Familien um seine vielversprechende Person, und mit einem gehörigen Selbstgefühl war er bei den glücklichen Siegern oder vielmehr Siegerinnen eingetreten. Aber gleich jener lustigen Weihnachtsbowle zwischen Luisens, Paulinchens und Berthas hübschen Augen weitere Folgen geben?! … Keine Spur! Der schöne Streber kannte seinen Werth und es fiel ihm nicht ein, so aus dummer Verliebtheit zu heirathen wie verschiedene seiner guten Freunde, die nun zwischen Sorgen und kleinen Kindern saßen. Nein – er war ein Lebenskünstler, er wußte, daß die Leute sich ihre elenden Schicksale alle selbst zurechtmachen, er wollte das seinige gestalten, daß es eine Art hatte!

Reich mußte Sie sein, unbedingt! Aber auch noch schön, liebenswürdig und häuslich. Er wollte beneidet werden um seine Wahl, Carrière machen und nebenbei das elegante Leben führen, welches er seiner Persönlichkeit allein für angemessen erachtete. So lautete sein Programm.

Und die Ausführung ? … Ja, die hatte doch manche Haken, es gab überall ein Aber! Verliebt waren die sämmtlichen Mädels ja bald, diese Vorbedingung zur Wahl kostete den schönen Streber keine Anstrengung, er hätte nur zu wollen brauchen … Da war zum Beispiel Lina, die Fabrikantentochter mit dem blassen gedunsenen Gesicht und den wässerigen Augen. Die Mutter fast unmöglich, der Vater Winkler geradezu grotesk. Aber seine plumpen Schaufelhände hatten Millionen zusammengescharrt, und man konnte sie bekommen, wenn man sich überwand, die Tochter zu heirathen. Wenn man sich überwand – ja! …

Da war ferner die einzige, die sein Herz lebhaft schlagen machte, die schöne, temperamentvolle und hinreißend lebenslustige Ottilie, der Mittelpunkt aller Gesellschaften. Sie sang und tanzte entzückend, sie war dabei auch noch häuslich und stets fröhlicher Laune. Aber sie hatte einen Hauptfehler – sie war arm! Also ein Unsinn, an „so etwas“ zu denken! Er dachte auch nicht daran, er gestattete seinem Herzen nur einstweilen das süße Geplänkel von Blicken und halben Worten, das so angenehm innerlich erwärmt und alles oder nichts bedeuten kann, je nachdem man’s nimmt.

Er sieht wieder deutlich das Gesellschaftszimmer, wo man am Sonntag vor Weihnachten zu Spiel und Musik versammelt war. Die Herzenstemperatur hatte bei ihm einen bedenklich hohen Grad erreicht, auch Ottiliens Augen strahlten in verheißungsvollem Glanze …

„Du meine Seele, du mein Herz –“

sang er mit seiner weichen Tenorstimme, einzig an sie gerichtet, und jubelnd erklang es bald darauf von ihren Lippen:

„Er ist gekommen in Sturm und Regen –“

… Dann ein langer glühender Handkuß, ein Lispeln: „Fräulein Ottilie, ich danke Ihnen!“ – und ein Blick, unter dem das Mädchen glückselig erschauerte.

Am nächsten Morgen kam Streber – nicht. Ottilie wanderte rastlos von einem Fenster ans andere – umsonst. Aber plötzlich fiel ihr ein: Donnerstag war ja Bescherabend, und neulich hatte er angefragt, ob ein später Gast wohl zurückgewiesen würde, wenn er anklopfe? Gewiß, er wollte dann kommen und sich selbst, ihr Lebensglück, als Bescherung bringen!

Ottilie flog jetzt wie auf Federn durchs Haus; ihr lebhafter Sinn malte ihr den Weihnachtsabend bis aufs Kleinste aus, sie war glückselig! –

Auch er beschäftigte sich mit dem gleichen Gedankengemälde, als er vor dem Spiegel bedachtsam die helle Binde und den schwarzen Tuchrock anlegte. Er sah das bescheidene Zimmer, die überraschte Miene der Majorswitwe bei seiner Erklärung, den Jubel Ottiliens. Fünf volle Minuten gestattete er sich den Wonnetraum, das glühende junge Geschöpf in den Armen zu halten und ihre süßen Lippen zu küssen … Dann

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Allein am Weihnachtsabend.
Nach einer Zeichnung von Willy Stöwer.

[818] ergriff er seinen Hut und ging zu Fabrikant Winkler. – Ein kluger Mann hat stets mehrere Eisen im Feuer, und die Entscheidung stand ja schließlich immer bei ihm!

Da – vor Neujahr noch erhielt er ein großes weißes Couvert und entnahm demselben – die Verlobungsanzeige Ottiliens mit einem jungen Kaufmann. Teufel – das hatte er nicht gedacht! … Welche Gemeinheit! … Das war ja eine ganz raffinirte Kokette, die erst mit seinem Herzen spielte und dann – –

Der schöne Streber lief wüthend im Zimmer auf und ab, es dauerte lange, bis er seiner Empörung Herr wurde und zu dem Entschluß kam, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die kleine Fabrikanten-Lina verlangte es nicht besser … Wenn er gleich hinginge?! …

Aber da sah er im Geiste wieder mit demselben kalten Abscheu wie am Weihnachtsabend die plumpen Hände und Füße des Parvenukindes, die steifen Haare von einem unmöglichen Zwiebelblond, er hörte wieder ihr nichtssagendes Gerede – brrr! … Nicht um alles! … Nein, nur in der ersten Wuth keine Dummheiten machen! Er hatte ja Zeit, er konne wählen!

Und er wählte so lange, bis die Mütter anfingen, kalte Gesichter zu machen, und die Töchter in ihren Kränzchen ihn mit dem Namen eines „bloßen Courmachers“ brandmarkten. Noch zwei Jahre, und er erlebte es, nicht mehr ernsthaft genommen zu werden.

Dann – dann kam die Geschichte mit der schönen Frau von M. ., das dumme Geschwätz der Leute und der Bruch mit dem eifersüchtigen Ehemann. Und als er dann, um den verdammten Klatschereien ein Ende zu machen, sich entschloß, in einer der ersten Familien wirklich als Freier anzuklopfen, da bekam der schöne Streber einen Korb – auch an einem Weihnachtsabend – und dieser Korb blieb nicht verschwiegen! …

Ja, es sind keine erfreulichen Bilder, die aus dem Glase emportauchen! Längst ist der Amtsrichter das geworden, was man einen eingefleischten Junggesellen nennt. Es muß ja nicht geheirathet sein, Gott bewahre! Man lebt eigentlich bequemer so …

Aber am Weihnachtsabend, wenn überall die Lichter flimmern und andere Männer in Weib und Kind nicht die Summe ihrer Sorgen, sondern ihres Glückes ans Herz drücken, da wird es ihm sonderbar eng um das seinige. Erinnerungen steigen auf und der Blick wird trübe. Wenn er damals Ottilie geheirathet hätte, sie oder eine andere – wie wäre es wohl heute? …

Die geschäftigen Weihnachtsgeister haben nur auf dies Stichwort gewartet. Sie rücken den Wirthstisch zur Seite, lassen Tannengrün aufsprießen, füllen den Raum mit Weihnachtsduft, und jetzt wird es hell – dort schimmert der Baum, darunter staunen glückselig ein paar rosige Kindergesichter, das jüngste trägt die Großmama auf dem Arm, während sein eigener alter Vater vergnügt im Lehnstuhl ein Pfeifchen raucht. Er selbst aber, er hält die immer noch schöne, glückstrahlende Frau im Arm, und sie stammelt an seinem Herzen: „Lieber, liebster Mann! Wie glücklich sind wir, daß wir uns haben!“

– – – Ach, es war alles nur ein Traum! Die nüchterne Wirthslampe scheint wieder und die unglücklichen Bierkrugdeckel erglänzen in ihrem Licht. Es ist alles wie vorher. Und doch nicht ganz! Die Weihnachtsgeister haben in dem erkalteten Herzen noch ein Fünkchen unter der Asche gefunden und eifrig darauf geblasen. Nun brennt es. Der unlustige Trinker steht rasch auf, er hat einen plötzlichen Entschluß gefaßt. In seinem Hause wohnt ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren – nicht schön und nicht reich, aber gut und klug. Daß sie ihn im stillen liebt, weiß er längst, es war dies Bewußtsein für ihn eine Art von unsichtbarer Nelke im Knopfloch. Nun aber – er tritt vor den Spiegel und sieht beim Handschuhanziehen prüfend hinein.

„Ja, ja,“ flüstert ihm der kleine Weihnachtsgeist ins Ohr, „sie paßt ganz gut zu Dir, denn Du bist auch nicht mehr der Jüngste, und Du hast sie lieber, als Du weißt. Erinnerst Du Dich noch des Plätzchens im Erker, wo Du es neulich abends so gemüthlich bei ihr und ihrer Mutter fandest? Dort sitzt sie jetzt und denkt an Dich! Also eile Dich, schnell, schnell!“

Und er eilt sich und stürmt unaufhaltsam in die Dunkelheit hinaus. Denn wenn einer das Glück einfangen will, das er zehn Jahre lang umsonst vor seiner Schwelle warten ließ, da muß er große Schritte machen – es könnte im letzten Augenblick davongeflogen sein.

Die Christglocken aber tönen verheißungsvoll durch das Schneegestöber, sie geben ihm das Geleit, und ihr Ruf klingt dem sehnsuchtsvollen Manne deutlich wie:

„Nächstes Jahr – nicht mehr allein!“ R. A.