Alice Weathers Bekehrung
„Ich aber sage Ihnen, der Ball war innen, Harry!“ rief Alice Weather zornsprühend und schlug erregt mit ihrem Tennisschläger auf das straffgespannte Netz, hinter dem der schlanke Marineleutnant mit seinem überlegenen Lächeln in dem glatten Gesicht stand und seine Partnerin halb belustigt, halb vorwurfsvoll anschaute.
„Gut, brechen wir das Spiel also ab, da ja doch keine Einigung zu erzielen ist,“ meinte Harry Sanders darauf mit leichter Verbeugung, drehte sich um und schritt dem kleinen Pavillon zu, der unter den breitästigen Linden zwischen den Tennisplätzen des Marinekasinos in San Franzisko lag und die Garderobenräume für die Spieler enthielt.
Vor dem weißgestrichenen, zierlichen Häuschen saß in einem bequemen Korbstuhl eine ältere hagere Dame, die zuerst dem Streit der beiden jungen Leute mit sorgenvollem Gesicht gelauscht hatte, sich jetzt aber, lächelnde Unbefangenheit heuchelnd, an den Marineoffizier mit der Frage wendete: „Selbst an diesem herrlichen Sommernachmittag Zank und Streit, lieber Sanders? Und einer solchen Kleinigkeit wegen!“ Leicht aufseufzend und in komischer Verzweiflung die Hände faltend, setzte sie leiser hinzu: „Wie soll das nur enden, wenn jeder Tag eine neue Meinungsverschiedenheit bringt!“
In demselben Augenblick ging Alice Weather vorüber, und ohne die beiden auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte sie mit gemachter Gleichgültigkeit: „Es endet so, teuerste Hopkins, daß ich morgen früh mit der ‚Ariadne‘ Frisko verlasse und nach Kalkutta zum Besuch meines Onkels Richard abdampfe und dadurch Harry endlich den Anblick meiner Person entziehe.“
Dann verschwand sie mit ärgerlich zurückgeworfenem Kopf in der Tür des Pavillons.
Wieder seufzte die spindeldürre Miß Hopkins auf. Dieses Mal schien ihre gedrückte Stimmung jedoch völlig echt zu sein. „Wenn Sie nur wüßten, was ich für ein Kreuz mit dem Mädchen habe!“ klagte sie weinerlich. „Wirklich, am liebsten würde ich diese Stellung aufgeben und mich zur Ruhe setzen. Meine Mittel erlauben mir’s ja. So behaglich ich mich auch im Hause ihres Vaters fühlte, seit seinem Tod lebe ich in beständiger Aufregung und Angst, habe nur dafür zu sorgen, daß Alice sich nicht durch ihre Streiche in der New Yorker Gesellschaft ganz unmöglich macht. Für eine Frau in meinen Jahren ist das eine fürchterliche Aufgabe. Nerven kostet’s, glauben Sie mir’s! Ich bin noch ganz krank von dieser endlosen Seereise.“
Mit bittendem Blick schaute sie jetzt Sanders an, der sich neben sie in einen zweiten Korbstuhl gesetzt hatte und nachdenklich die Finger seiner Rechten über die Darmsaiten des Tennisschlägers wie über eine Mandoline gleiten ließ.
„Helfen Sie mir doch!“ fuhr sie eindringlich fort und legte ihre Hand wie beschwörend auf seinen Arm. „Mich täuschen Sie ja nicht. Ich weiß, Sie lieben Alice ebenso heiß, wie Sie von ihr wiedergeliebt werden. Erfüllen Sie doch den letzten Wunsch der beiden Väter und –“ Nach einer kurzen Pause stieß sie hastig und halb verlegen hervor: „Verloben Sie sich endlich mit ihr!“
Harrys von Seeluft und Sonne tiefgebräuntes Gesicht hatte plötzlich einen fast abweisenden Ausdruck angenommen. Nachlässig klopfte er erst den Staub mit dem Tennisschläger von seinen hochaufgekrempelten weißen Beinkleidern, bevor er antwortete: „Ich bedaure unendlich, Ihnen diese Bitte abschlagen zu müssen, Miß Hopkins, trotzdem ich sehr wohl weiß, wie gütig und selbstlos es von Ihnen ist, daß Sie so den Freiwerber für Ihren Schützling bei mir spielen. Denn eine vielfache Millionärin in dem verheißungsvollen Alter von zwanzig Jahren und ein simpler Marineleutnant – welch ein Unterschied! Da könnte Alice Weather doch ganz andere Partien machen, besonders da ich nur über einen schlicht bürgerlichen Namen, also nicht einmal über das kleinste ausländische Grafenkrönlein verfüge und die Ehre der Bekanntschaft mit Ihrer ebenso launenhaften wie exzentrischen Herrin nur dem Umstande verdanke, daß der alte Weather und mein Vater Freunde waren. Wenn ich nun dem fabelhaften Glücke dieser glänzenden Heirat trotzdem aus dem Wege gehe, so hat das seine bestimmten, sehr schwerwiegenden Gründe. Ich habe von der Ehe vielleicht noch etwas veraltete Anschauungen, jedenfalls ganz andere, als sie jetzt in den Kreisen der oberen Zehntausend von New York und leider auch bei Ihrem Schützling zu finden sind. Von der jungen Dame, die ich einmal heimführe, verlange ich zuerst zartes, wirklich frauenhaftes Empfinden, das sich von dem Manne umwerben läßt, nicht umgekehrt, und zweitens, Miß Hopkins, könnte ich mich nie an den Gedanken gewöhnen, [41] zu den Kosten eines Haushalts im Stile Alices nur eine Leutnantsgage von monatlich fünfzig Dollar beizusteuern, das heißt also von dem Gelde meiner Frau zu leben.“
„Danach hätten Sie also das Gefühl, daß – daß Alice sich Ihnen aufdrängt?“ meinte Miß Hopkins etwas spitzen Tones, da sie ihre Sache jetzt verloren gab und ihren Rückzug möglichst geschickt decken wollte. „Ich denke, aus dem Benehmen des Mädchens Ihnen gegenüber spricht das gerade Gegenteil,“ fuhr sie plötzlich sehr von oben herab fort. „Denn einen Mann, den man für sich gewinnen will, behandelt man doch wohl kaum so, wie Alice es mit Ihnen tut.“
„Ansichtssache, Miß Hopkins, reinste Ansichtssache!“ lächelte Sanders ironisch. „Zum Glück stehe ich aber mit meiner Meinung nicht so ganz vereinzelt da, sonst könnte ich mich wahrhaftig für eingebildet halten. Es gibt zum Beispiel eine ganze Menge von meinen Kameraden von der ‚Niagara‘, die steif und fest behaupten, daß Alicens Vergnügungsjacht ‚Ariadne‘ die amerikanische Flotte auf ihrer großen Kreuzfahrt um Kap Horn nur deswegen mit so rührender Ausdauer von Hafen zu Hafen begleitet hat, weil sich eben auf der ‚Niagara‘ unter einer Zahl von zwölf Leutnants gerade der eine befand, der sich während des verflossenen Winters in New York nicht an den Siegeswagen der schönen Besitzerin der ,Ariadne‘ spannen ließ, ihr vielmehr klarmachte, daß ihn ihre auffallenden Bevorzugungen völlig kalt ließen. Und – um ganz ehrlich zu sein, Miß Hopkins – hätte Alice ihre Schwärmerei für meine bescheidene Person nicht so offenkundig gezeigt und mir es dadurch erspart, der Mittelpunkt meist recht neidischer Beachtung zu sein, so wäre vielleicht manches anders gekommen. So aber halte ich mich nur noch für verpflichtet, ihr jene Aufmerksamkeiten zu erweisen, die sie als die Tochter von John Weather zu beanspruchen hat. Aus demselben Grunde habe ich mich auch nur herbeigelassen, jetzt täglich in meiner dienstfreien Zeit einen Sport zu betreiben, der für einen an Bewegung gewöhnten Seemann kaum eine Erholung sein kann.“
Harry Sanders führte mit seinem Rakett bei den letzten Worten einen so kräftigen Schlag gegen einen nicht vorhandenen Ball, daß die nervöse Dame neben ihm ängstlich zusammenzuckte.
„Außerdem glaube ich, verehrteste Freundin, daß Alice in dem neuen Kapitän der ,Ariadne’ jetzt einen ergebeneren Sklaven für ihre Launen gefunden hat, als ich es ihr je gewesen bin. Für diesen William Harper muß die Zutraulichkeit und Liebenswürdigkeit seiner Gebieterin allerdings sehr schmeichelhaft und sehr berückend sein. Ich fürchte nur, Ihr Schützling wird mit diesem Manne noch schlechte Erfahrungen machen. Der Mensch hat etwas in seinem Blick, das mich stört, mich geradezu abstößt. Seine aalglatte Geschmeidigkeit und Untertänigkeit läßt ebenfalls auf keinen besonders gefestigten Charakter schließen.“
Diese letzten Sätze klangen so erregt, daß Miß Hopkins ihren Nachbar erst ganz erstaunt ansah, dann aber in ein lautes Lachen ausbrach. „Also eifersüchtig ist man – sieh da!“ meinte sie dann. „Ihr Herz ist demnach doch nicht so ganz unberührt geblieben, wie Sie es mir vormachen wollen. Diese Entdeckung läßt mich jetzt wieder hoffen – worauf, wissen Sie ja. Aber dem guten Kapitän tun Sie trotz alledem unrecht. Gewiß, ein unparteiisches Urteil kann man unter diesen Umständen von Ihnen kaum verlangen, wenn ich mich auch wundere, daß ein so kühl abwägender Geist wie der Ihre sich durch derartige rein persönliche Empfindungen beeinflussen läßt.“
„Sie irren, Miß Hopkins,“ sagte Sanders schon wieder in seiner gewohnten, ruhigen Art. „Meine Abneigung gegen Harper hat einen sehr triftigen Grund, den ich allerdings bisher verschwiegen habe, um nicht in den Verdacht zu kommen, irgendwie voreingenommen zu sein. Ich halte mich jetzt sogar für verpflichtet, Ihnen meine Beobachtungen mitzuteilen, da ich annehme, daß Alice tatsächlich morgen mit der ,Ariadne‘ San Franzisko verlassen wird, und ich sie nicht ungewarnt lassen möchte. Sie können ihr in meinem Namen das Nötige berichten, falls Sie es für notwendig halten sollten. Harper erinnert mich nämlich nur zu sehr an einen Menschen, den ich einmal – es war vor zwei Jahren – unter ganz besonderen Umständen zu Gesicht bekam. Ich gehörte damals zum Stabe des Kreuzers [42] ‚Ohio‘, der für einige Monate im Hafen von Sitka in Alaska stationiert war. Eines Tages wurden uns mehrere Häftlinge an Bord gebracht, die lange Zeit den Hafen von San Franzisko unsicher gemacht hatten und deren gefährlichste Mitglieder nach den Goldminen von Klondyke entkommen waren. Unsere Polizei hatte sie schließlich aber doch aufgestöbert, und der ‚Ohio‘ fiel die Aufgabe zu, die Gefangenen zurückzubringen. Unter diesen Leuten befand sich nun auch ein Mensch, mit dem Harper eine recht verfängliche Ähnlichkeit hat, trotzdem der jetzige Kapitän der ‚Ariadne‘ einen selbst für einen Seemann recht stattlichen Bart trägt und jener Bursche ebenso glatt rasiert war wie ich.“
„Und das ist alles, was Sie vorzubringen haben?“ meinte Miß Hopkins enttäuscht. „Nichts als eine unbestimmte Ähnlichkeit mit einem Kerl, der jetzt wahrscheinlich für Jahre der Welt entzogen ist! – Nein, davon will ich Alice doch besser nichts erzählen. Sie würde uns einfach auslachen. Bedenken Sie doch, lieber Freund, wo soll Harper die vorzüglichen Kenntnisse und das auf seinen Namen lautende amtliche Patent herbekommen haben, das er uns in Valparaiso vorzeigte, als unser alter Jenkins so plötzlich an Malaria erkrankte?“
„Die Papiere können gefälscht sein oder einer ganz anderen Person gehören,“ warf Sanders hartnäckig ein.
„Nein – nein, Sie müssen sich täuschen!“ verteidigte Miß Hopkins den jungen Kapitän der ‚Ariadne‘. „Außerdem kann es Ihnen auch gar nicht schwer fallen, sich Klarheit zu verschaffen. Sie brauchen sich ja nur bei der Polizei zu erkundigen.“
„Der Vorschlag läßt sich hören,“ meinte Sanders nachdenklich. „Ich will auch gleich nachher –“
Er wurde durch Alice Weather unterbrochen, die sich jetzt, nachdem sie ihre weißen Schuhe mit hohen, eleganten Lackstiefelchen vertauscht und über ihr leichtes Sportkostüm einen halblangen, losen Mantel gezogen hatte, wieder zu ihnen gesellte.
„Nur weiter, Harry!“ sagte sie noch immer kampflustig zu dem Leutnant, der bei ihrem Erscheinen plötzlich verstummt war. „Und wenn Sie mit Miß Hopkins irgendwelche Geheimnisse haben, so gehe ich gern einstweilen voraus.“
Aber Sanders ließ sich auf ein neues Geplänkel nicht ein. Die Fahrt auf der elektrischen Straßenbahn bis zum Hafen legte die kleine Gesellschaft in recht gedrückter Stimmung und einsilbig zurück.
Im Hafen war zwischen zwei hochbordigen Handelsdampfern unweit der mächtigen Speicher der Hamburg-Amerikalinie die ‚Ariadne‘ eine schlankgebaute, mittelgroße Turbinenjacht, festgemacht.
Kaum hatte Alice das Deck betreten, als sie auch schon durch einen der Matrosen den Kapitän zu sich rufen ließ, und als William Harper vor ihr stand, sagte sie absichtlich laut, so daß Sanders, der mit Miß Hopkins gefolgt war, es notwendig hören mußte: „Wir werden übermorgen früh San Franzisko verlassen, Kapitän. Bringen Sie also die Schiffspapiere auf dem Hafenamt in Ordnung und sehen Sie auch zu, daß wir für eine Reise nach Kalkutta genügend mit allem Nötigen versehen sind. Die neue Mannschaft muß ebenfalls schleunigst an Bord kommen.“
Harper zuckte bei dieser Nachricht leicht zusammen, faßte sich aber schnell, legte die Hand salutierend an die Mütze und verschwand wieder unter Deck.
Auch Sanders verabschiedete sich jetzt, da er von neun Uhr abends auf der ‚Niagara‘ die Wache hatte. Alice Weather reichte ihm sehr kühl die äußersten Fingerspitzen, vermied es jedoch, ihn anzusehen.
„Meinen Abschiedsbesuch werde ich morgen machen, wenn Sie gestatten,“ sagte der Leutnant sehr förmlich und verließ dann die ‚Ariadne‘, um an Bord seines Panzers zurückzukehren, der als erster in der Kiellinie des amerikanischen Geschwaders dicht bei der Insel Yerba Buena vor Anker lag.
Die kleine, felsige Insel Yerba Buena erhebt sich ungefähr in der Mitte der Bai von San Franzisko, die wohl der beste natürliche Hafen der ganzen Welt genannt werden muß und einer unbeschränkten Zahl von Seeschiffen sicheren Schutz gewährt. Auf Yerba Buena stand früher eine blühende Niederlassung der Franziskanermönche, die aber durch das Erdbeben im Jahre 1865 völlig zerstört und dann nicht wieder aufgebaut wurde. Erst fünfzehn Jahre später fand das Inselchen einen neuen Bewohner in einem mürrischen, rotköpfigen Irländer, der für billiges Geld von der Regierung ein größeres Stück anbaufähiges Land an der Südseite des kleinen Höhenrückens erwarb und dort mit Hilfe einer früheren Negersklavin einen bescheidenen Farmbetrieb anfing. Als die Vereinigten Staaten dann im Jahre 1895 an der Südspitze von Yerba Buena einen Leuchtturm errichteten und an den Felsabhängen größere Befestigungen anlegten, wäre man den Irländer als unbequemen Aufpasser gern wieder losgeworden; aber der ebenso starrköpfige wie habgierige Alte forderte für sein Besitztum einen so unverschämten Preis, daß man ihn unbehelligt ließ und seine späteren, nur wenig bescheideneren Angebote rundweg abschlug. So kam es denn, daß die „Rote Farm“, wie sie allgemein nach ihrem rothaarigen Eigentümer genannt wurde, auf der kleinen Insel neben den verschiedenen Regierungsbauten der einzige Privatbesitz blieb – zwei gänzlich verfallene Stallgebäude und ein niedriges Wohnhaus, die fünfhundert Meter vom Südstrand entfernt unter einigen verkrüppelten Eichen lagen.
In dem größten Raume des Wohngebäudes der Farm befanden sich an dem Nachmittag, als die Tennispartie zwischen Alice Weather und Harry Sanders so plötzlich abgebrochen wurde, O’Connor Morris, der Irländer, und seine Wirtschafterin Rosanna, die alte Negerin. Morris lag in seinem Bett, neben dem die Schwarze auf einem Stuhle saß und eifrig strickte. Stunden waren verflossen, ohne daß zwischen ihnen ein Wort gewechselt worden war. Erst der schrille Ton der Hausglocke brachte wieder Leben in die beiden einsamen Bewohner dieser weltabgeschiedenen Besitzung.
„Rosanna, es hat geläutet! Hörst du denn nicht!“ rief Morris ungeduldig und drehte sich schwerfällig in seinem Bett dem Fenster zu.
„Nur noch eine Runde!“ klang’s zurück, und die Nadeln wurden noch schneller zwischen den grauschwarzen Fingern der Alten bewegt.
Morris, den ein schwerer Schlaganfall vor zwei Jahren fast hilflos gemacht hatte, brummte ärgerlich eine Verwünschung vor sich hin und starrte dann ergeben zu der verräucherten Decke empor, an der ein paar träge Fliegen wie schwarze Pünktchen umherkrochen.
Wieder wurde draußen an der Glocke gerissen, laut, fordernd. Jetzt legte endlich die Negerin ihr Strickzeug auf das Fensterbrett, erhob sich und verließ das Zimmer. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zurückkehrte und zu Morris an das Bett trat.
„Ein Herr möchte Sie sprechen. Seinen Namen hat er nicht genannt, und ich kenne ihn auch nicht,“ sagte sie mißtrauisch. „Soll ich ihn hereinlassen?“
Aus dem bleichen Gesicht des Gelähmten zeigte sich eine deutliche Unruhe. Er hatte offenbar kein ganz reines Gewissen, und ein unbekannter Besucher brachte vielleicht nichts Gutes. Doch schließlich nickte er Rosanna kurz zu und schaute dann gespannt nach der Tür.
Der Mann, der jetzt mit nachlässigem Gruß die Stube betrat, war eine hochgewachsene Erscheinung mit energischem, von einem Vollbart umrahmtem Gesicht, in dem ein Paar stechende, dunkle Augen funkelten.
„Ich möchte mit Ihnen allein sprechen, Mister Morris,“ sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien.
Der Irländer fuhr bei dem Klang dieser Stimme sichtlich zusammen und starrte den Fremden erst eine Weile ganz entsetzt an, bevor er zu der Negerin sagte: „Laß uns allein, Rosanna!“ – Kaum hatte diese das Zimmer verlassen, als er sich mühsam in seinem Bett aufrichtete und ängstlich flüsterte: „Thomas Burton. Mann, seid Ihr des Teufels, daß Ihr Euch nach Frisko wagt! Ich erkannte Euch nicht gleich wieder mit diesem schönen Vollbart, aber Eure Stimme habe ich nicht vergessen. – Was wollt Ihr hier, Mann! Wenn die Polizei Euch abfaßt, so könnt Ihr den Rest Eures Lebens hinter eisernen Gardinen zubringen.“
Doch auf Burton schien diese Warnung gar keinen Eindruck zu machen. Er streckte dem Kranken jetzt mit einem sorglosen Lächeln die Hand hin und sagte mit einer gewissen Wärme im Ton: „Ich freue mich ehrlich, daß ich Euch noch lebend und munter vorfinde, Morris. Schade aber ist’s, daß ein Mann von Eurer geistigen Regsamkeit hier zwischen diesen vier Wänden allein mit der alten Negerin seine Tage vertrauern muß. Nun, hoffentlich bessert sich Euer Zustand noch einmal. Was aber meine Person anbetrifft, so könnt Ihr völlig außer Sorge sein. Der Bart verändert mein Gesicht so vollkommen, daß so leicht niemand in dem jetzigen Kapitän der ,Ariadne‘ jenen Thomas Burton vermuten wird, der hier jahrelang der Schrecken der Hafenpolizei war.“
Über des Gelähmten Gesicht war bei diesen fast herzlichen Worten ein Freudenschimmer gehuscht. Er hatte Burtons wohlgepflegte Hand in der seinen kräftig geschüttelt und ließ sich jetzt wieder in die Kissen zurückfallen, indem er seinem Gast durch eine Handbewegung bedeutete, in dem Lehnsessel zu Füßen des Bettes Platz zu nehmen.
„Ein Glas Whisky gefällig?“ begann er die Unterhaltung. – „Nicht? – Seid Ihr etwa einem guten Tropfen abhold geworden Dann wäret Ihr nicht nur auswendig, sondern auch inwendig mächtig verändert, das muß ich sagen.“
„Ich hab’s eilig und wichtige Sachen mit Euch durchzusprechen, Morris. Deshalb wollen wir uns nicht lange aufhalten,“ meinte Burton nachdenklich. „Ihr seid mir stets ein treuer Freund und guter Ratgeber gewesen,“ fuhr er nach einer Weile fort, „deshalb bin ich auch heute zu Euch gekommen, um Eure Meinung über einen Plan zu hören, der mich schon seit ungefähr einem Jahre beschäftigt, zu dessen Ausführung mir aber bisher stets die Mittel fehlten. Es ist eine große Sache. Doch damit Ihr alles klar überseht, will ich meinen Bericht möglichst zusammenhängend vortragen. – Auf welche Weise ich hier in Frisko doch noch entkam, nachdem der ,Ohio‘ uns eingeliefert hatte, wißt Ihr ja. Ihr habt mir selbst die Mittel zur weiteren Flucht vorgestreckt, und diesen Liebesdienst werde ich Euch nicht vergessen. Ich wandte mich dann nach Südamerika, habe mich in allen möglichen Hafenplätzen aufgehalten, aber die Geschäfte gingen schlecht, und ich mußte mich nicht selten als Kaiarbeiter verdingen, nur um nicht zu verhungern. Eines Tages, es mag so acht Monate her sein, lernte ich in Valparaiso einen alten Seemann kennen, der in seinen früheren Tagen auch so manchen großen Fischzug auf Kosten derer, die nie alle werden, unternommen hatte. Wir freundeten uns an, und als er erst wußte, mit wem er’s zu tun hatte, wurde er zutraulich und entwickelte mir einen Plan, wie wir beide in den Besitz einiger Tonnen gut gereinigter Goldkörner kommen könnten. Der alte Bill Siders war nämlich längere Zeit auch da oben in den Minen von Klondyke und kennt das Leben und Treiben dort durchaus. In Dawson hat sich nämlich eine Gesellschaft von Goldgräbern zusammengetan, die ihre Goldkörner nicht gern einer der dortigen Banken zum Weitertransport nach San Franzisko anvertrauen und die hohen Kosten sparen wollte. Diese Gesellschaft läßt jährlich zweimal ihre Vorräte an Gold durch einen Frachtdampfer nach Frisko bringen, hält aber die Abfahrtzeit des Schiffes stets sehr geheim, um gewitzten Leuten jede Möglichkeit zu nehmen, einen Überfall auf den ,Triton‘, so heißt der alte Kasten, vorzubereiten. Bill Siders gehörte früher auch zu dieser Vereinigung, hat noch heute gute Beziehungen dort oben in Alaska und weiß daher regelmäßig Tag und Stunde, wann der ‚Triton‘ mit seiner wertvollen Ladung die Reise antritt. Der Dampfer verläßt dieses Mal morgen den Hafen von Sitka und soll in zehn Tagen hier in Frisko sein. Wenn’s anders kommt, so liegt’s eben nur daran, daß Siders und ich unseren ganzen Plan auf diese Kenntnis aufgebaut haben. Ich will Euch nicht lange mit Einzelheiten aufhalten, Morris, sondern nur angeben, wie die Sache heute steht. Erwähnen muß ich jedoch, daß ich mir schon vor einem Jahre von einem Krankenwärter des Hospitals in Vera Cruz die Papiere eines dort am gelben Fieber verstorbenen Schiffskapitäns William Harper für ein recht anständiges Sümmchen besorgt hatte und dann vor sechs Wochen in Valparaiso Gelegenheit fand, mit Hilfe dieser Papiere Kapitän der Vergnügungsjacht ,Ariadne‘ zu werden, die der Tochter des bekannten Kohlenkönigs Weather aus New York gehört. Ich konnte den Posten ruhig annehmen, da ich mir bei meiner vielseitigen Tätigkeit mit den Jahren die genügenden Kenntnisse erworben habe. Und bisher reichten sie auch aus. Denn die ‚Ariadne‘ ist unter meiner Führung glücklich am hiesigen Kai festgemacht worden, nachdem wir immer in anständiger Entfernung hinter der amerikanischen Flotte hergedampft waren. Auf dem Schlachtschiff ‚Niagara‘ befindet sich nämlich der Angebetete meiner Gnädigen, den sie gerne für sich kapern möchte. Und dieser Leutnant Sanders ist allein schuld daran, daß wir uns jetzt mit unseren letzten Vorbereitungen für unsere Expedition gegen den ‚Triton‘ mächtig beeilen müssen. Anscheinend hat sich der Leutnant heute nachmittag mit meiner Herrin recht ernstlich entzweit, und sie will nun in ihrem Ärger Frisko Hals über Kopf verlassen. Gerade komme ich vom Hafenamt, wo ich die Abfahrt der ‚Ariadne‘ angezeigt und um einen Lotsen gebeten habe. Diese plötzliche Abreise paßt uns recht schlecht in unseren Kram, da wir uns für die Jacht doch noch eine neue Mannschaft besorgen müssen, eben Jungens, die vor so ein bißchen Seeräuberei nicht zurückschrecken und etwas wagen. – Na, Morris, begreift Ihr nun, wie wir das Ding anfassen wollen?“
Der Irländer schüttelte den roten Kopf. „Burton, das ist unmöglich! Die Jacht wollt Ihr stehlen? Habt Ihr Euch auch alle Schwierigkeiten überlegt?“
„Schwierigkeiten? Ihr vergeßt, daß ich Kapitän der ,Ariadne‘ bin und bei Miß Weather hoch in Ansehen stehe. Was ich ihr vorschlage, tut sie unbedingt. [43] So ist bei unserer Ankunft hier der größte Teil der erst im Frühjahr angeworbenen Besatzung auf meine Veranlassung abgelohnt worden, weil die Jacht zunächst zwei Wochen zur Ausbesserung einer Bodenbeschädigung im Dock liegen mußte und die Leute während dieser Zeit nicht untätig mitgefüttert werden sollten, in Wirklichkeit, damit ich mir nachher die neue Mannschaft selbst aussuchen konnte. Und die habe ich nun auch schon beisammen, trotzdem sie nicht gerade nach dem Geschmack meiner Herrin sein dürfte. Leider sind die braven Jungens aber nicht so leicht abkömmlich, und es wird noch einige Mühe machen, sie glücklich an Bord zu bringen. Nun paßt gut auf, Morris! Wie Ihr wißt, sind keine achthundert Meter von Eurer Farm in einer festen Baracke am Strande der Insel vierundzwanzig Zuchthäusler aus Frisko einquartiert, die mit dem Lossprengen und Behauen von Felsstücken für den Bau der neuen Inselforts beschäftigt werden. Ich habe nun ausgekundschaftet, daß sich auch neun von meinen früheren Leuten und gerade die tüchtigsten Kerle darunter befinden. Auf einige werdet Ihr Euch sicherlich noch besinnen, so auf den langen Sangnassy und den dicken Fred. Ich beabsichtige nun nichts anderes, als diesen vierundzwanzig Mann die Freiheit wiederzugeben und sie mit mir auf die Kreuzfahrt nach Norden zu nehmen. Bill Siders, der sich schon einige Wochen hier in einer Hafenkneipe aufhält, hat auch bereits die nötige Kleidung, Schiffskisten und Papiere besorgt, so daß es nur noch darauf ankommt, sie aus dieser verwünschten Baracke herauszuholen. Dabei sollt Ihr mir helfen, Morris. – Macht nicht ein so dummes Gesicht, Alter. Ich weiß schon, was Ihr wieder für Bedenken habt. Gewiß – die Kameraden da drüben werden von drei bewaffneten Aufsehern überwacht, außerdem noch von mehreren Bluthunden, die nachts innerhalb der Palisadenumzäunung frei umherlaufen. Auch führt eine Telephonverbindung nach dem nächsten Inselfort, damit die Wächter sofort Hilfe herbeirufen können, falls ihre Zöglinge einmal rebellieren sollten. Das weiß ich alles, schreckt mich aber nicht ab. Ich brauche die Leute unbedingt. Und wenn nicht diese verwünschte, überhastete Abreise gekommen wäre, so hätte ich schon Mittel und Wege gefunden, mich mit Sangnassy oder Fred in Verbindung zu setzen und mit ihnen das Notwendige zu vereinbaren. So aber tut jetzt größte Eile not. Übermorgen früh soll die ‚Ariadne’ den Hafen bereits verlassen, und bis dahin müssen die Leute an Bord sein! Und daher will ich versuchen, noch heute eine Nachricht nach der Sträflingsbaracke zu senden.“
„Das klingt ja so, als ob Ihr nur nötig hättet, ein Schreiben durch die Post dorthin bringen zu lassen,“ unterbrach ihn Morris ironisch. „So einfach dürfte das doch wohl nicht sein, wenn ich auch zugebe, daß es nicht unmöglich ist. Wie wolltet Ihr also die Sträflinge von Eurem Vorhaben verständigen?“
„Darüber möchte ich ja gerade Euren Rat hören,“ sagte Burton unsicher.
Der Irländer dachte eine Weile nach. „Ist’s denn unbedingt notwendig, daß an einen der Jungens in der Baracke Nachricht geschickt wird?“ fragte er nochmals.
„Unbedingt!“ erwiderte Burton. „Wir können ihnen von außen mit Gewalt keinerlei Hilfe bringen. Einmal fehlen uns dazu die nötigen Leute, und dann darf man das Telephon nicht vergessen, durch das die Wächter bei dem ersten drohenden Anzeichen das nächste Fort alarmieren würden. Leider ist nun die Telephonleitung unterirdisch gelegt, so daß wir sie nicht so schnell auffinden und daher auch nicht zerstören können. Nein, die Leute müssen allein handeln. Nur die Verhaltungsmaßregeln kann ich ihnen geben. Sie brauchen nur morgen abend ihre Wächter im günstigen Augenblick gleichzeitig zu überfallen und zu knebeln, dann die Hunde zu beseitigen, und sie sind frei. Die Verwandlung in harmlose Seeleute geschieht dann hier in Eurem Haus. Bill Siders und ich schaffen noch heute nacht die nötigen Kleidungsstücke her.“
„Und das alles wollt Ihr einem Stück Papier anvertrauen, das selbst bei der größten Vorsicht in falsche Hände geraten kann?“ meinte der Irländer zweifelnd. „Ich muß Euch ehrlich gestehen, Burton, die Sache sieht mir zu gefährlich aus, und ich möchte mich auf meine alten Tage doch lieber nicht an einem solchen Wagnis beteiligen, trotzdem Rosanna den Botendienst sehr gut übernehmen könnte. Denn sie geht in der Baracke dort drüben ungehindert aus und ein, weil sie den Wächtern für die Küche aus unserem Garten das Gemüse liefert und ihnen auch häufig aus Frisko Einkäufe besorgt. Aber, wie gesagt, ein unglücklicher Zufall, und wir spazieren alle drei ins Loch.“
Der Kapitän hatte hoch aufgehorcht. „Also die Rosanna! Ja, so muß es gehen!“ meinte er eifrig. „Eure Angst ist ganz überflüssig, Morris. Wenn Ihr meint, daß die Schwarze schlau genug ist, um einem der Jungens, am besten natürlich Sangnassy oder Fred, einen Zettel zuzustecken, so kann ich ihn gleich schreiben. Dann werdet Ihr sehen, daß keinerlei Gefahr dabei ist, weil eben ein Uneingeweihter den Inhalt gar nicht zu entziffern vermag. Ich werde mich unserer alten Zeichenschrift bedienen, die wir früher während unserer hiesigen Tätigkeit benützten und die allen geläufig war. Sagt mir also wo ich Papier und Feder finde.“
Nach kaum zehn Minuten war Burton mit seiner Arbeit fertig. Rosanna wurde hereingerufen, ihr das Notwendigste mitgeteilt, und ebenso erhielt sie auch die genauesten Verhaltungsmaßregeln, damit sie die richtigen Leute herausfinden könne.
„Oh, Mister Burton soll mit mir zufrieden sein, sehr!“ rief sie hocherfreut und verbarg schnell die zehn Dollar, die der Kapitän ihr in die Hand gedrückt hatte, in ihrer Kleidertasche. „Ich werde mir einen Korb Birnen mitnehmen und es schon so einzurichten wissen, daß ich Sangnassy oder Fred den Zettel übergebe. Die Aufseher lassen mich ja ruhig in der Baracke umhergehen. In einer Stunde bin ich zurück, Mister Burton.“
Das Schicksal wollte es, daß Harry Sanders am nächsten Tage nicht mehr dazu kam, Alice Weather auf der ‚Ariadne‘ zu besuchen. Er war dienstlich bis zum Abend in Anspruch genommen und fand nur noch Zeit, sich in einem kurzen Brief von ihr zu verabschieden. Die amerikanische Flotte rüstete sich zur Weiterfahrt nach Japan, und während Sanders in den Munitionsräumen der ‚Niagara‘ das Auswechseln der alten Geschoßvorräte gegen neue, aus den Marinedepots gelieferte, überwachte, fand er Muße genug, seine Herzensgefühle einer Prüfung zu unterziehen.
Je länger er über sein Verhältnis zu dem jungen Mädchen nachdachte, desto unzufriedener wurde er mit sich. Schließlich gestand er sich ein, daß nur ihn die Schuld allein traf, wenn Alice jetzt für immer für ihn verloren war, denn er sagte sich nicht mit Unrecht, daß die junge Millionärin als seine Braut gewiß sehr bald alle ihre kleinen Fehler und Schwächen abgelegt haben würde. Und als er in seinen Gedanken so weit gekommen war, als er sich überlegte, wie heiß sie für ihn empfinden mußte trotz ihres aus so vielen Widersprüchen zusammengesetzten Charakters, da suchte er auch plötzlich allerlei Entschuldigungsgründe für jene so auffallende Bevorzugung, mit der sie ihn stets ausgezeichnet hatte und die ihm so unweiblich erschienen war. Hatte doch auch ein törichter, überempfindlicher Stolz ihn selbst vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an dazu verleitet, sie, die Tochter des besten Freundes seines Vaters, mit einer verletzenden Kälte zu behandeln, um ja nicht bei ihr den Glauben zu erwecken, daß er dem Herzenswunsch der beiden Väter aus bloßer Berechnung und ohne ehrliche Neigung zu entsprechen gedenke. Doch was half ihm jetzt die bessere Einsicht!
Mißmutig lehnte er an der Wandung des Geschoßaufzuges und schaute gedankenverloren vor sich hin, nickte nur mit dem Kopf, wenn der Bootsmannsmaat ein neues volles Hundert Granaten meldete und in das Munitionsbuch eintrug. Und von der Person der heimlich Geliebten irrte sein Denken weiter ab, hin zu dem Kapitän der ‚Ariadne‘, gegen den er ein unbestimmtes Mißtrauen empfand, das er auch trotz Miß Hopkins beruhigender Worte nicht loswerden konnte.
Als dann endlich gegen zehn Uhr abends die Auswechslung der Munition beendet war, nahm er schnell in der Offiziersmesse einen kleinen Imbiß ein und stieg darauf, bewaffnet mit einem Nachtglase, an Deck, lehnte sich an die Reeling und schaute lange nach der Jacht hinüber, deren weißer Schiffskörper in der Dunkelheit noch sichtbar war und deren sämtliche Kajütfenster in hellstem Licht erstrahlten. Eine große Sehnsucht kam über ihn. Und die Sehnsucht ließ immer mehr gute Vorsätze in ihm ausreifen, ließ ihn auf ein Wiedersehen hoffen, bei dem er Alice alles erklären wollte – alles!
Wohl eine Stunde lang stand er so fast bewegungslos da, starrte durch das Glas nach der ‚Ariadne‘ hin, sah auch, daß zwei Boote an der Jacht anlegten, die von der Insel Yerba Buena her aus der Dunkelheit aufgetaucht und an dem Panzer vorübergerudert waren. Sie schienen dicht bemannt zu sein, und Sanders sagte sich, daß es wohl die neue Besatzung der ,Ariadne‘ sei, die an Bord gebracht werde, trotzdem er es sich nicht erklären konnte, weshalb man mit den Leuten gerade diesen Weg gewählt hatte.
Als er sich dann gegen Mitternacht zur Ruhe begab, schärfte er seinem Burschen ein, ihn sehr früh zu wecken. Er wollte versuchen, Alice bei der Abfahrt der Jacht noch einen letzten Gruß zuzuwinken.
Aber eine große Enttäuschung wartete seiner. Als er am Morgen das Deck betrat, war von der ‚Ariadne‘ nichts mehr zu sehen. Von dem wachhabenden Offizier erfuhr er, daß sie bereits vor zwei Stunden die Bai verlassen hatte.
Am Nachmittag klopfte es plötzlich laut an der Tür von Harry Sanders Kabine. Dieser hatte gerade vor dem kleinen Klapptischchen gesessen und, um seine trüben Gedanken abzulenken, in einem Wörterbuch der japanischen Sprache geblättert. Die Störung kam ihm höchst unwillkommen. Er befand sich nicht in der Stimmung, mit irgend einem sich langweilenden Kameraden vielleicht über gleichgültige Dinge zu plaudern. Daher klang sein Herein wenig freundlich.
Der Eintretende, Oberleutnant Riley, Kommandant des Torpedobootszerstörers ‚Cleveland‘ und ein alter Bekannter Sanders von der Militärakademie her, beachtete jedoch weder des Freundes verdrossenen Gesichtsausdruck noch die kühle Begrüßung, begann vielmehr sofort, indem er seine Hand wie beschwichtigend auf Sanders Schulter legte: „Harry, ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit zu dir. Ich weiß, daß du Alice Weather liebst. Erschrick nicht – die ‚Ariadne‘ ist in der letzten Nacht von einer Seeräuberbande entführt worden.“
Sanders sprang entsetzt auf, aus seinem Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen. Aber mit übermenschlicher Energie zwang er sich zur Ruhe, und seine erste hervorgebrachte Frage zeigte, wie alle seine Gedanken nur der Geliebten gehörten: „Und Alice? Ist sie noch auf der ‚Ariadne‘?“
„Wir müssen es leider annehmen,“ entgegnete der Oberleutnant.
Sekundenlang war’s totenstill in der engen Kabine. Dann ließ Sanders sich schwer in den Stuhl zurückfallen.
„Erzähle, was du weißt, Riley,“ sagte er dumpf. „Schone mich nicht. Ich will alles wissen, damit ich helfen kann. Denn irgend etwas muß doch geschehen – muß!“ schrie er verzweifelt auf und schaute den anderen fast drohend an.
„Fasse dich, Harry!“ bat der Oberleutnant begütigend. „Ich komme ja soeben direkt von dem Flaggschiff, wo ich von dem Admiral und einem höheren Polizeibeamten den ganzen Sachverhalt erfahren habe. Ich soll mit der ‚Cleveland‘ sofort die Verfolgung aufnehmen. Zum Glück wissen wir so ziemlich, wo wir die ‚Ariadne‘ zu suchen haben.“
„Aber, was wird aus Alice, was kann nicht alles inzwischen geschehen! Nein – nein, das ist ja gar nicht auszudenken,“ stöhnte Sanders auf und vergrub sein Gesicht in den zitternden Händen.
„Harry, mein Junge, auf diese Weise hilfst du ihr nichts! Geh lieber zu deinem Kommandanten und bitte ihn um Urlaub. An Bord der ‚Cleveland‘ bist du jetzt besser am Platz als hier in dieser Kabine. Meinst du nicht auch?“
Sanders begriff. „Ja, ich begleite dich, Riley,“ rief er heiser.
Eine Stunde später verließ der Torpedobootszerstörer seinen Ankerplatz und dampfte mit halber Fahrt dem Goldenen Tor zu. Die untergehende Sonne flammte in feuriger Lohe über den kalifornischen Bergen, und ihr rötlicher Widerschein lag in zuckenden Lichtblitzen auf den Wassern der Bai, die der scharfe Bug des schlanken Kriegschiffes durchschnitt. Auf der Kommandobrücke stand neben Oberleutnant Riley Harry Sanders, der sich die Geliebte zurückerobern wollte.
Kaum hatte der Zerstörer die offene See erreicht, als er sich auch schon in scharfem Bogen nach Norden wandte. Noch ein Klingelzeichen hinab in den Maschinenraum, und die hohe Heckwelle, die wie ein Wasserberg der ‚Cleveland‘ folgte, zeigte an, daß die Schrauben jetzt mit voller Kraft die Wogen des Großen Ozeans schlugen.
Langsam sank die Dämmerung herab und hüllte das Festland von Amerika in graue Schleier ein, in denen es bald ganz verschwand. Und in der feierlichen Stille dieser endlosen Wasserwüste, in der nichts als das dumpfe, gleichmäßige Stampfen der Maschinen und hin und wieder der Schrei eines dem Lande zustreichenden Vogels zu hören war, erzählte Riley dem Freunde noch näher, was er vor wenigen Stunden an Bord des Admiralsschiffes über den verwegenen Anschlag auf die ‚Ariadne‘ erfahren hatte.
„Es handelt sich um ein mit größtem Raffinement vorbereitetes Verbrechen,“ begann er. „Und nur der Geschicklichkeit der Polizei haben wir es zu [44] danken, daß es so schnell entdeckt wurde, wenn schließlich auch ein glücklicher Zufall dabei eine Rolle spielt. Auf der Felseninsel Yerba Buena befindet sich nämlich eine Sträflingskolonie, deren Aufseher alle vierzehn Tage abgelöst werden. Als nun heute vormittag die zur Ablösung bestimmten drei Wärter sich der Baracke näherten, in der die Sträflinge untergebracht waren, stand das Tor der Umzäunung weit offen, und die vier großen Bluthunde lagen mit zerschmetterten Schädeln auf dem Hofe. Die drei Aufseher aber fand man gefesselt und mit Knebeln im Mund in einer kleinen Kammer neben der Küche. Sie konnten nur berichten, daß sie am Abend vorher von den Sträflingen plötzlich überfallen und nach kurzer Gegenwehr überwältigt worden waren. Zunächst erschien es unerklärlich, wie den Verbrechern dann die weitere Flucht geglückt sein konnte. Schließlich fiel es einem der Aufseher ein, daß am verflossenen Abend eine alte Negerin, die zu der einzigen auf Yerba Buena gelegenen Farm gehört, nach der Baracke gekommen war und sich längere Zeit in der Küche aufgehalten hatte, wo einige Sträflinge mit Kartoffelschälen beschäftigt und dabei längere Zeit ohne Aufsicht geblieben waren. Diese unsichere Spur nahm die Polizei sofort mit allem Eifer auf. Man verhörte die Negerin und den alten gelähmten Besitzer der Farm, einen Irländer, beide stellten sich aber völlig harmlos an, und es bedurfte vieler Mühe, die Schwarze endlich zum Reden zu bringen. Dieser Kapitän der ‚Ariadne‘, nebenbei ein Mensch von guter Erziehung, der seinerzeit sogar Maschinenbaufach studiert hat, ist niemand anders als ein gewisser Thomas Burton, dessen Bande vor ungefähr drei Jahren den Hafen von San Franzisko unsicher machte.“
„Hätte ich nur Miß Hopkins Rat sofort befolgt und mich über ihn erkundigt!“ unterbrach ihn hier Sanders ärgerlich. „Wer weiß, ob dann dieser Schurkenstreich nicht zu verhüten gewesen wäre!“
„Sicherlich wäre alles anders gekommen, wenn du über Harper Erkundigungen eingezogen hättest,“ meinte Riley. „Doch die Selbstvorwürfe helfen jetzt nichts mehr. Harper oder Burton, wie du ihn nennen willst, hat es ja leider fertig gebracht, seine alten Spießgesellen als die neue Besatzung der ,Ariadne‘ an Bord zu bringen. Es ist kein Zweifel, daß er jetzt einen Anschlag gegen den fälligen Golddampfer plant, der vorgestern den Hafen von Sitka verlassen hat. Aber wir werden ihm das Handwerk legen. Kopf hoch, mein Junge! Wir werden die Jacht sicherlich finden!“
Mit einem guten Nachtglase bewaffnet verharrte Sanders die ganze Nacht über an Deck und suchte das Meer nach einem hellgestrichenen Schiffskörper ab, auf dem sich Alice Weather inmitten einer Bande verruchter Verbrecher befand. Jedes Schiff, das gesichtet wurde, mußte sich ein strenges Verhör von dem Kriegsfahrzeug gefallen lassen. Aber immer kam die gleiche Antwort: niemand war der ‚Ariadne‘ begegnet.
So verging auch der nächste Vormittag, da tauchte einige Seemeilen seitwärts der ‚Cleveland‘ ein Boot auf, das eifrig Notsignale mit einem Segel herüberwinkte. Sofort wurde der Kurs geändert, und eine halbe Stunde später kletterten der Steuermann Wilson und sechs Leute der ‚Ariadne‘, die Harper als einzige in San Franzisko nicht entlassen hatte, am Fallreep empor an Bord. Was der Steuermann den beiden Freunden erzählte, war geeignet, Sanders wenigstens einigermaßen seine Seelenruhe wiederzugeben.
„Sehen Sie, Mister Sanders, das war Ihnen eine Überraschung, als mir am Abend so gegen zehn Uhr dieser Schurke plötzlich mit dem Revolver in der Hand in seiner Kajüte auf unserer Jacht bedeutete, daß ich mir von seinen sauberen Genossen hübsch ruhig die Hände zusammenbinden lassen sollte, sonst würde er mir ein Loch durchs Hirn blasen. Ich mußte stillhalten und wurde dann ins Vorschiff in ein enges Loch geworfen. Und die sechs Leute von der alten Besatzung, die ich jetzt mitgebracht habe, hatten genug zu staunen gehabt über die neuen Kameraden, wagten aber nichts zu sagen. Und heute morgen verlud er uns dann mit den besten Segenswünschen in das Boot, da wir ihm wahrscheinlich unbequem waren. Das Maschinenpersonal mußte er freilich behalten. Aber im Maschinenraum stehen ein halb Dutzend von den Spitzbuben mit geladenen Pistolen in der Hand und passen auf, daß der ,Ariadne‘ nicht der Dampf ausgeht. Bin nur neugierig, wo der Harper unsere Herrin und die Miß Hopkins absetzen wird. Ein Leid zufügen wird er den Damen wohl nicht, Mister Sanders, da können Sie ganz ruhig sein. Werden sogar an Bord mit allem Respekt behandelt. Und als wir mit dem Boot vor ungefähr sieben Stunden von der ‚Ariadne‘ losmachten, da stand Miß Weather auf dem Promenadendeck und winkte uns zu. Sah recht blaß aus, unsere Herrin, schien aber sonst ganz gefaßt. – Nun, wir werden unsere ‚Ariadne‘ ja wohl bald wiederhaben, schätz’ ich!“
Riley drückte dem Freunde stumm die Hand, als sie wieder allein waren.
„Ich weiß, daß du dich mit mir über diese Nachricht freust,“ sagte Sanders herzlich. „Wirklich, mir ist eine Zentnerlast vom Herzen genommen.“
Nachdenklich schaute aber der Oberleutnant vor sich hin. „Ich glaube nicht, daß wir die ‚Ariadne‘ schon bald finden werden.“
Sanders nickte. „Ich bin ganz deiner Ansicht, Riley. Nach der Jacht ziellos umherzusuchen, hat keinen Zweck. Das vernünftigste wäre, dem ‚Triton‘ entgegenzufahren und ihn zu begleiten. Auf diese Weise kann uns die ,Ariadne‘ sicher nicht entgehen.“
„Das habe ich mir auch schon überlegt. Wird wohl das richtigste sein. Die ‚Cleveland‘ läuft übrigens ihre vierundzwanzig Knoten, die ,Ariadne‘ kaum achtzehn. Da holen wir sie sicher ein, wenn wir einmal ihre Spur haben. Also Kopf hoch, mein Junge!“
Die Dampferlinie Sitka-San Franzisko läuft parallel der Westküste von Nordamerika. In bestimmten Zwischenräumen läßt eine amerikanische Reederei einen Dampfer für Fracht- und Personenverkehr nach Sitka abgehen, ohne allerdings in neuerer Zeit besonders auf ihre Rechnung zu kommen, da der Zuzug von Goldgräbern nach Alaska schon bedeutend nachgelassen hat. Handelschiffe trifft man nördlich von Kap Flattery kaum noch an und so verlief auch die Fahrt der ‚Cleveland‘ zunächst äußerst eintönig. Als das Schiff nach zwei Tagen auf die Höhe der Vancouverinsel gekommen war, ließ Riley in weiten Schlägen hin und her kreuzen, da man nach seiner ungefähren Berechnung dem ‚Triton‘ hier begegnen mußte.
Diese Maßregel erwies sich auch als durchaus notwendig, da der Golddampfer tatsächlich über dreißig Meilen östlich von der eigentlichen Tourlinie gesichtet wurde und daher leicht unbemerkt hätte vorüberlaufen können. Nachdem zwischen den beiden Schiffen ein lebhafter Bootsverkehr stattgefunden hatte, trennten sie sich wieder. Die ‚Cleveland‘ dampfte nordwärts und verschwand bald am Horizont, während der ‚Triton‘ die unterbrochene Reise nach San Franzisko fortsetzte.
Auf dem Promenadendeck der ,Ariadne‘ lehnte Alice Weather neben Miß Hopkins, die in den letzten Tagen infolge der beständigen Angst und Aufregung womöglich noch dünner geworden war, an der Reeling und schaute mit umflorten Augen auf die in majestätischer Ruhe heranziehenden Wellen, zwischen denen die Jacht wie in einer mächtigen Wiege geschaukelt wurde, als Harper sich langsam näherte und mit höflichem Gruß neben sie trat.
„Miß Weather,“ begann er mit leichter Ironie in dem harten Ton seiner Stimme, „wenn ich auch zugebe, daß Sie einigen Grund haben, mich völlig als Luft zu behandeln, so müssen Sie sich jetzt doch schon in Ihrem eigenen Interesse überwinden und mir zuhören. Vielleicht bemerken Sie schon mit bloßem Auge jenen Rauchstreifen dort vor uns am Horizont – bitte, etwas mehr westlich. – So, danke! Dieser Rauch entsteigt dem Schornstein eines Frachtdampfers, der in seinem Raum eine wertvolle Ladung birgt, eine sehr wertvolle Ladung sogar. Da ich nun ein vorsichtiger Mensch bin und jener Dampfer nicht mehr zu den seetüchtigsten gehört, so habe ich mir die ‚Ariadne’ für einige Zeit von Ihnen – entlehnen müssen, um von dem ,Triton‘ dort die kostbaren Frachtgüter auf unsere bedeutend seefestere Jacht überzunehmen. Das wird sehr bald geschehen sein, ich denke etwa in einer Stunde. Höchstwahrscheinlich dürfte aber die Besatzung jenes Dampfers mit dieser Umladung nicht ganz einverstanden sein, und es könnte dann zu erregten Erörterungen kommen, wobei ebenso wahrscheinlich auch einige Schüsse fallen werden. Erschrecken Sie also nicht! Hoffentlich habe ich durch diese vorherige Benachrichtigung auch dazu beigetragen, die Nerven der teuren Miß Hopkins zu schonen.“
Harper machte eine kleine Pause. Vielleicht nahm er an, daß Alice Weather, die von den eigentlichen Absichten des Kapitäns bisher nichts ahnte, ihn jetzt mit einer Flut von Vorwürfen überschütten würde; aber das junge Mädchen schürzte nur noch hochmütiger die Lippen und starrte weiter geradeaus in die Wogen, ohne von dem dicht neben ihr Stehenden irgendwelche Notiz zu nehmen.
Miß Hopkins aber drückte ängstlich Alices Arm und flüsterte ihr zu. „Geben Sie doch eine Antwort, Sie reizen ihn ja nur unnötig!“
Doch kein Ton wurde laut.
Da glomm in Harpers stechenden Augen ein höhnisches Flackern auf, und mit einer Stimme, aus der deutlich herauszuhören war, welche Genugtuung er empfand, die stolze Millionärin so demütigen zu können, sagte er: „Ich gedenke dann diese Frachtgüter in einer stillen Bucht der Vancouverinsel an Land zu bringen, Miß Weather. Ist diese Arbeit getan, so könnte – könnte ich Ihnen auch die ‚Ariadne‘ wieder übergeben, die ich nicht mehr brauche und die von dem Maschinenpersonal leicht in den nächsten Hafen gesteuert werden kann. Ich hoffe aber, Sie werden sich mir gegenüber für die liebenswürdige Behandlung hier an Bord meiner Jacht – denn bis jetzt bin ich noch Herr des Schiffs – erkenntlich zeigen und mir nicht nur Ihre Schmucksachen und Ihr Bargeld aushändigen, sondern auch auf folgenden Vorschlag eingehen. – Ich gebe Sie und die ,Ariadne‘ frei, behalte jedoch Miß Hopkins so lange bei mir in einem guten Versteck, bis Sie mir – Sie allein, Miß Weather – in der Bai von San Franzisko an der Nordspitze der Insel Yerba Buena, wo das Seezeichen am Strande steht, die Summe von dreihunderttausend Dollar in guten Scheinen überreicht haben. Als Termin für die Übergabe des Geldes setze ich den Tag morgen über drei Wochen fest. Sollten Sie sich an diesem Tage nicht an dem einsamen Gestade der kleinen Insel einfinden oder inzwischen irgendeinen Verrat planen, so gebe ich für die Sicherheit von Miß Hopkins keinen Pfifferling mehr. Meine Jungens verstehen wirklich keinen Spaß, und das Leben Ihrer Gesellschaftsdame wird Ihnen die für Sie so geringe Summe doch wohl wert sein! – Wie gesagt, Miß Weather, wagen Sie keinen Verrat! Ich warne Sie!“
Mit einem Schreckensschrei war Miß Hopkins ihrem Schützling in die Arme gesunken, halb ohnmächtig, nicht fähig, irgend ein weiteres Wort hervorzubringen. Und so, die zitternde Gestalt des alten Fräuleins umschlungen haltend, die jeden Augenblick zusammenzusinken drohte, stand Alice dem lächelnden Kapitän gegenüber.
Aber selbst in dieser unwürdigen, schmachvollen Lage bewies das junge Mädchen eine Beherrschung und schnelle Entschlußfähigkeit, die Harper um den größten Teil des Genusses einer erhofften Demütigung kommen ließ. Wenn auch mit bebender Stimme, so doch mit stolzer Würde in ihrer Haltung erwiderte sie ihm: „Sie sollen alles erhalten, was Sie verlangen. Morgen über drei Wochen ist auch die geforderte Summe in Ihren Händen. Aber ich setze voraus, daß Sie Miß Hopkins während dieser Zeit mit jeder Rücksicht behandeln. Und nun verlassen Sie mich!“
Während sie sprach, hatten ihre Augen an ihm vorüber ins Leere geschaut. Kein Blick traf den Schurken. Dann führte sie die leise vor sich hinweinende Miß zu dem nächsten Liegestuhl, der im Schutze des hohen Kajütenaufbaus stand, und bettete sie fürsorglich in die weichen Kissen und Decken, indem sie ihr beruhigende Worte zuflüstert.
Harper hatte sich zähneknirschend zurückgezogen und besprach nun auf dem Vorschiff mit Bill Siders den Erfolg seiner Unterredung. „Der ist nicht beizukommen, Bill – hol’s der Henker! Eine Abfuhr habe ich erhalten, daß ich alles kurz und klein schlagen möchte. Wie eine Königin stand sie vor mir, so unnahbar und stolz. – Na, die Hauptsache bleibt, auf ihr Wort kann man sich verlassen, und wir beide machen noch nebenbei ein gutes Geschäft, von dem die anderen nichts wissen,“ setzte er wie sich selber zum Troste hinzu.
Bald hatte sich auch Miß Hopkins etwas erholt. Kaum war sie aber wieder fähig, ihre Stimme zu gebrauchen, als sie sich in weinerlichen Anklagen gegen Harry Sanders erging, der nach ihrer Ansicht allein an diesem Unglück schuld war. „Hätte er sich damals auf dem Tennisplatz nachgiebiger gezeigt, so wären Sie sicherlich nicht auf die Idee verfallen, so plötzlich unsere Abreise anzuordnen,“ meinte sie empört. „Und dann hätte Harper niemals Gelegenheit gehabt, uns in dieser Weise zu verraten! Ich werde noch vor Angst sterben, wenn ich allein in den Händen dieser Verbrecher bleibe!“
Alice hörte sich dieses Gerede ihrer Gesellschaftsdame schweigend an. Schließlich unterbrach sie sie jedoch sehr energischen Tones.
„Sie tun Harry bitter unrecht, liebe Hopkins, glauben Sie mir. Wenn überhaupt das Zerwürfnis zwischen uns als Ursache des Handstreichs gegen die ,Ariadne‘ in Frage kommen kann, so bin ich allein der schuldige Teil. In den einsamen Stunde der letzten Tage, als die Angst um unser ferneres Schicksal mein ganzes Innere aufgerührt hatte, habe ich Zeit genug zum Nachdenken und Abrechnen mit mir selbst gehabt. Ich glaubte Harrys Liebe mir erzwingen zu können, und wandte dazu Mittel an, die ihn abstoßen mußten, ihn, der wahrlich genug [46] Feingefühl besitzt, um beurteilen zu können, wie weit ein Weib in den Äußerungen ihrer Liebe gehen darf. Und seien Sie überzeugt, liebe Hopkins, ich werde mich nicht scheuen, ihm das alles bei unserer nächsten Begegnung zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß er sich dann nur um so ablehnender mir gegenüber verhält. Diese letzten Tage hier auf der ,Ariadne‘ sind für mich eine heilsame Kur gewesen, die mit meinen Schmucksache und dem Gelde wirklich nicht zu teuer bezahlt ist.“
Sie wollte noch mehr hinzufügen, aber der gellende Pfiff der Dampfsirene ließ sie erschreckt schweigen. In demselben Augenblick verlangsamte sich die Fahrt, und Alice, die schnell an die Reeling getreten war, bemerkte jetzt kaum dreihundert Meter vorwärts einen Dampfer, mit dem die Jacht Flaggensignale austauschte. Flatternd stiegen die bunten Wimpel an dem Signalmast der ,Ariadne‘ empor, und drüben antwortete man in gleicher Weise.
Harpers Plan schien über Erwarten gut gelingen zu wollen. Der Kapitän des ‚Triton‘ hegte scheinbar keinerlei Argwohn und ließ die so harmlos aussehende Vergnügungsjacht, die ihn um die Abgabe einiger Fässer mit Trinkwasser bat, bei der wenig bewegten See ruhig längsseits kommen.
Kaum aber lagen die Schiffe nebeneinander, als sie auch schon vertaut wurden und nun mit abgestoppten Maschinen fest verbunden auf dem einsamen Ozean schaukelten.
Klopfenden Herzens wartete Alice, die furchtlos dicht an der Reeling stehen geblieben war, das weitere ab. Von ihrem Platz aus konnte sie das Verdeck des Frachtdampfers bequem überschauen, auf dem nur wenige Matrosen zu sehen waren, während der alte, grauhaarige Kapitän neben dem Steuermann auf der Kommandobrücke ahnungslos seine kurze Pfeife schmauchte.
Hilfesuchend ließ das junge Mädchen seine Augen blitzschnell über den Horizont hinschweifen. Aber nirgends, nirgends war der graue Rauchstreifen oder die weiße Takelage eines sich nähernden Schiffes, nirgends ein Retter zu sehen, der den ‚Triton‘ vor der Plünderung geschützt hätte! Und jetzt schwangen sich plötzlich zwanzig mit Beilen und Messern bewaffnete Leute von der ‚Ariadne‘ mit Blitzesschnelle auf den wehrlosen Frachtdampfer hinüber, allen voran Harper, den Revolver in der Rechten.
Teilnahmsvoll blickte Alice auf den so sorglosen Kapitän des ‚Triton‘, dessen Leben vielleicht nur noch nach Sekunden zählte, wenn er auch nur den geringsten Widerstand wagte. Konnte sie ihren Augen trauen? Auf dem verwitterten Gesicht des alten Seemanns lag ein behagliches, schadenfrohes Lächeln. Keine Spur von Überraschung oder Bestürzung zeigte sich darin. Und ebenso seelenruhig stand der Steuermann neben ihm.
Die Erklärung für diese anfallende Gleichgültigkeit kam schneller als sie denken konnte. Plötzlich durchgellten wilde Schreie, verworrene Angstrufe die Luft. Aber alle Stimmen wurden von einer einzigen übertönt, bei deren Klang Alice ein Schwindel zu befallen drohte, so daß sie sich nur mühsam an der Reeling aufrecht hielt.
„Ergebt euch, Leute!“ donnerte diese Stimme. „Ihr seht, ihr seid umstellt. Werft die Waffen fort, sonst lasse ich Feuer geben!“
Einen Blick nur warf Alice auf das Verdeck des ,Triton‘, auf dem die Eindringlinge jetzt verdutzt dastanden und ihnen gegenüber wohl dreißig amerikanische Blaujacken, die Gewehre schußfertig im Arm. Zwischen beiden Parteien die schlanke Gestalt eines Offiziers, eine Gestalt, die das junge Mädchen nur zu gut kannte. Da hätte Alice Weather am liebsten in ihrem Herzensjubel die Arme ausgebreitet und ihr ganzes Sehnen nach dem Geliebten in dem einen Wort: „Harry!“ hinausgerufen.
Aber sie preßte die Lippen fest aufeinander. Nicht einmal die Hand hob sie zum Gruß. So nahe vor der Entscheidung hatte sie plötzlich ein zagender Kleinmut befallen. Wenn er sie nun doch nicht liebte, wenn er ihr jetzt vielleicht mit seiner kühlen Ruhe entgegentrat, höflich und gemessen, wie er’s damals bei ihrem Abschied vor fünf Tagen gewesen war – nein, das würde sie nicht ertragen, das nicht! Und beinahe schwankend schritt sie auf Miß Hopkins zu, die ihr Gesicht, nur um nichts zu sehen und zu hören, in den Kissen verborgen hatte. Aufschluchzend vor Herzenspein sank sie neben dem Liegestuhl in die Kniee, so daß das alte Fräulein bei ihrer Berührung entsetzt aufkreischte, weinte dann still in sich hinein, indem sie Miß Hopkins wie schutzsuchend umklammert hielt.
Minuten, angstvolle Minuten vergingen so. Und dann hörte sie plötzlich ihren Namen nennen, so leise, so innig! Bang schaute sie auf. Vor ihr stand Harry Sanders, streckte ihr mit leuchtenden Augen beide Hände entgegen und flüsterte wieder und wieder: „Alice – teure Alice, kannst du mir verzeihen?“
Mit einem Jubelschrei flog sie ihm an den Hals, schmiegte sich an ihn und weinte an seiner Brust heiße Tränen. Und seine Hand fuhr ihr liebkosend über das Haar, so gütig, so beruhigend, bis ihre Tränen versiegten und sie in scheuer Zärtlichkeit an ihm aufblickte.
Dann flüsterte sie: „Ich werde auch nie wieder so sein, so böse, so –“
„Nein, wir zanken uns nie, niemals wieder!“ gab er ebenso leise zurück.
Und plötzlich lachten sie beide übermütig auf wie die Kinder und küßten sich.
Miß Hopkins, die inzwischen Zeit gefunden hatte, ihre durch das unvermutete Erscheinen des Offiziers etwas stark verwirrten Gedanken zu ordnen, war jetzt die erste, die mit überschwenglichen Worten dem jungen Brautpaar gratulierte.
„Ich weiß, teuerste Freundin, Sie sind die aufrichtige Selbstlosigkeit in Person,“ meinte Harry mit vollkommen ernstem Gesicht und drückte ihr kräftig die Hand. „Sie haben ja stets nur unser Bestes gewollt. Ich danke Ihnen für den herzlichen Glückwunsch.“
Alice konnte nicht umhin, dem etwas säuerlich lächelnden alten Fräulein auch noch einen kleinen Stich zu versetzen: „Dich liebt Miß Hopkins ganz besonders, Harry,“ sagte sie harmlos. „Du hättest nur hören sollen, wie sie dich vor einer Viertelstunde hier in den Himmel gehoben hat! So gut bist du gar nicht, wie sie dich hingestellt hat!“
Die gute Miß bekam einen sehr roten Kopf, wußte aber geschickt das Gespräch durch eine Frage auf ein anderes Thema überzulenken.
Als zweiter Gratulant fand sich bald darauf Oberleutnant Riley auf der ‚Ariadne‘ ein, der mit der ‚Cleveland‘ aus weiter Entfernung die programmgemäße Abwicklung des mit Sanders vereinbarten Planes überwacht und jetzt auf ein Signal sich den beiden Schiffen angeschlossen hatte. Er ließ dann auch die in Eisen gelegten Verbrecher, die in ihrer ersten Bestürzung mühelos entwaffnet worden waren, auf seinem Schiff unterbringen und ordnete alles für die Rückkehr nach San Franziska an. –
Harper und seine Genossen wurden später zu langjähriger Zwangsarbeit in den Bleibergwerken des Staates Kalifornien verurteilt, eine Strafe, die bei der überaus anstrengenden Arbeit eigentlich nichts anderes als ein langsam zu vollstreckendes Todesurteil bedeutet. Daß der rote Irländer und die alte Negerin straffrei ausgingen, verdankten sie nur dem Umstande, daß sie rückhaltlos die Pläne Burtons verraten hatten.
Harry Sanders aber ist der glücklichste junge Ehemann geworden. Seine Alice ist das nachgiebigste, sanfteste Weibchen, das sich nur denken läßt. Nicht einmal eifersüchtig ist sie, denn sie liebt ihren Harry echt und wahr und vertraut ihm felsenfest.