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Walther Kabel: Alice Weathers Bekehrung. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 2, S. 40–44 u. 46

Feingefühl besitzt, um beurteilen zu können, wie weit ein Weib in den Äußerungen ihrer Liebe gehen darf. Und seien Sie überzeugt, liebe Hopkins, ich werde mich nicht scheuen, ihm das alles bei unserer nächsten Begegnung zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß er sich dann nur um so ablehnender mir gegenüber verhält. Diese letzten Tage hier auf der ,Ariadne‘ sind für mich eine heilsame Kur gewesen, die mit meinen Schmucksache und dem Gelde wirklich nicht zu teuer bezahlt ist.“

Sie wollte noch mehr hinzufügen, aber der gellende Pfiff der Dampfsirene ließ sie erschreckt schweigen. In demselben Augenblick verlangsamte sich die Fahrt, und Alice, die schnell an die Reeling getreten war, bemerkte jetzt kaum dreihundert Meter vorwärts einen Dampfer, mit dem die Jacht Flaggensignale austauschte. Flatternd stiegen die bunten Wimpel an dem Signalmast der ,Ariadne‘ empor, und drüben antwortete man in gleicher Weise.

Harpers Plan schien über Erwarten gut gelingen zu wollen. Der Kapitän des ‚Triton‘ hegte scheinbar keinerlei Argwohn und ließ die so harmlos aussehende Vergnügungsjacht, die ihn um die Abgabe einiger Fässer mit Trinkwasser bat, bei der wenig bewegten See ruhig längsseits kommen.

Kaum aber lagen die Schiffe nebeneinander, als sie auch schon vertaut wurden und nun mit abgestoppten Maschinen fest verbunden auf dem einsamen Ozean schaukelten.

Klopfenden Herzens wartete Alice, die furchtlos dicht an der Reeling stehen geblieben war, das weitere ab. Von ihrem Platz aus konnte sie das Verdeck des Frachtdampfers bequem überschauen, auf dem nur wenige Matrosen zu sehen waren, während der alte, grauhaarige Kapitän neben dem Steuermann auf der Kommandobrücke ahnungslos seine kurze Pfeife schmauchte.

Hilfesuchend ließ das junge Mädchen seine Augen blitzschnell über den Horizont hinschweifen. Aber nirgends, nirgends war der graue Rauchstreifen oder die weiße Takelage eines sich nähernden Schiffes, nirgends ein Retter zu sehen, der den ‚Triton‘ vor der Plünderung geschützt hätte! Und jetzt schwangen sich plötzlich zwanzig mit Beilen und Messern bewaffnete Leute von der ‚Ariadne‘ mit Blitzesschnelle auf den wehrlosen Frachtdampfer hinüber, allen voran Harper, den Revolver in der Rechten.

Teilnahmsvoll blickte Alice auf den so sorglosen Kapitän des ‚Triton‘, dessen Leben vielleicht nur noch nach Sekunden zählte, wenn er auch nur den geringsten Widerstand wagte. Konnte sie ihren Augen trauen? Auf dem verwitterten Gesicht des alten Seemanns lag ein behagliches, schadenfrohes Lächeln. Keine Spur von Überraschung oder Bestürzung zeigte sich darin. Und ebenso seelenruhig stand der Steuermann neben ihm.

Die Erklärung für diese anfallende Gleichgültigkeit kam schneller als sie denken konnte. Plötzlich durchgellten wilde Schreie, verworrene Angstrufe die Luft. Aber alle Stimmen wurden von einer einzigen übertönt, bei deren Klang Alice ein Schwindel zu befallen drohte, so daß sie sich nur mühsam an der Reeling aufrecht hielt.

„Ergebt euch, Leute!“ donnerte diese Stimme. „Ihr seht, ihr seid umstellt. Werft die Waffen fort, sonst lasse ich Feuer geben!“

Einen Blick nur warf Alice auf das Verdeck des ,Triton‘, auf dem die Eindringlinge jetzt verdutzt dastanden und ihnen gegenüber wohl dreißig amerikanische Blaujacken, die Gewehre schußfertig im Arm. Zwischen beiden Parteien die schlanke Gestalt eines Offiziers, eine Gestalt, die das junge Mädchen nur zu gut kannte. Da hätte Alice Weather am liebsten in ihrem Herzensjubel die Arme ausgebreitet und ihr ganzes Sehnen nach dem Geliebten in dem einen Wort: „Harry!“ hinausgerufen.

Aber sie preßte die Lippen fest aufeinander. Nicht einmal die Hand hob sie zum Gruß. So nahe vor der Entscheidung hatte sie plötzlich ein zagender Kleinmut befallen. Wenn er sie nun doch nicht liebte, wenn er ihr jetzt vielleicht mit seiner kühlen Ruhe entgegentrat, höflich und gemessen, wie er’s damals bei ihrem Abschied vor fünf Tagen gewesen war – nein, das würde sie nicht ertragen, das nicht! Und beinahe schwankend schritt sie auf Miß Hopkins zu, die ihr Gesicht, nur um nichts zu sehen und zu hören, in den Kissen verborgen hatte. Aufschluchzend vor Herzenspein sank sie neben dem Liegestuhl in die Kniee, so daß das alte Fräulein bei ihrer Berührung entsetzt aufkreischte, weinte dann still in sich hinein, indem sie Miß Hopkins wie schutzsuchend umklammert hielt.

Minuten, angstvolle Minuten vergingen so. Und dann hörte sie plötzlich ihren Namen nennen, so leise, so innig! Bang schaute sie auf. Vor ihr stand Harry Sanders, streckte ihr mit leuchtenden Augen beide Hände entgegen und flüsterte wieder und wieder: „Alice – teure Alice, kannst du mir verzeihen?“

Mit einem Jubelschrei flog sie ihm an den Hals, schmiegte sich an ihn und weinte an seiner Brust heiße Tränen. Und seine Hand fuhr ihr liebkosend über das Haar, so gütig, so beruhigend, bis ihre Tränen versiegten und sie in scheuer Zärtlichkeit an ihm aufblickte.

Dann flüsterte sie: „Ich werde auch nie wieder so sein, so böse, so –“

„Nein, wir zanken uns nie, niemals wieder!“ gab er ebenso leise zurück.

Und plötzlich lachten sie beide übermütig auf wie die Kinder und küßten sich.

Miß Hopkins, die inzwischen Zeit gefunden hatte, ihre durch das unvermutete Erscheinen des Offiziers etwas stark verwirrten Gedanken zu ordnen, war jetzt die erste, die mit überschwenglichen Worten dem jungen Brautpaar gratulierte.

„Ich weiß, teuerste Freundin, Sie sind die aufrichtige Selbstlosigkeit in Person,“ meinte Harry mit vollkommen ernstem Gesicht und drückte ihr kräftig die Hand. „Sie haben ja stets nur unser Bestes gewollt. Ich danke Ihnen für den herzlichen Glückwunsch.“

Alice konnte nicht umhin, dem etwas säuerlich lächelnden alten Fräulein auch noch einen kleinen Stich zu versetzen: „Dich liebt Miß Hopkins ganz besonders, Harry,“ sagte sie harmlos. „Du hättest nur hören sollen, wie sie dich vor einer Viertelstunde hier in den Himmel gehoben hat! So gut bist du gar nicht, wie sie dich hingestellt hat!“

Die gute Miß bekam einen sehr roten Kopf, wußte aber geschickt das Gespräch durch eine Frage auf ein anderes Thema überzulenken.

Als zweiter Gratulant fand sich bald darauf Oberleutnant Riley auf der ‚Ariadne‘ ein, der mit der ‚Cleveland‘ aus weiter Entfernung die programmgemäße Abwicklung des mit Sanders vereinbarten Planes überwacht und jetzt auf ein Signal sich den beiden Schiffen angeschlossen hatte. Er ließ dann auch die in Eisen gelegten Verbrecher, die in ihrer ersten Bestürzung mühelos entwaffnet worden waren, auf seinem Schiff unterbringen und ordnete alles für die Rückkehr nach San Franziska an. –

Harper und seine Genossen wurden später zu langjähriger Zwangsarbeit in den Bleibergwerken des Staates Kalifornien verurteilt, eine Strafe, die bei der überaus anstrengenden Arbeit eigentlich nichts anderes als ein langsam zu vollstreckendes Todesurteil bedeutet. Daß der rote Irländer und die alte Negerin straffrei ausgingen, verdankten sie nur dem Umstande, daß sie rückhaltlos die Pläne Burtons verraten hatten.

Harry Sanders aber ist der glücklichste junge Ehemann geworden. Seine Alice ist das nachgiebigste, sanfteste Weibchen, das sich nur denken läßt. Nicht einmal eifersüchtig ist sie, denn sie liebt ihren Harry echt und wahr und vertraut ihm felsenfest.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Alice Weathers Bekehrung. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 2, S. 40–44 u. 46. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alice_Weathers_Bekehrung.pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)