Ahrenshoop, September 1943
Einführung
Der Artikel Ahrenshoop, September 1943 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Ahrenshoop vor und im Krieg“ zusammengestellten Tagebuchauszüge vom September 1943. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung].
Tagebuchauszüge
[...] [1] P. Meer erzählte Furchtbares aus Essen, u. a., wie in dem Keller, in dem er war u. wohin er das Allerheiligste u. die Monstranz u. den Kelch, dazu noch Meßgewänder usw. gerettet hatte u. in dem er mit vielen anderen Menschen, meist alten Frauen, gesessen hatte, es so heiß wurde, daß sie raus mußten. Sie haben versucht, durch Kellerdurchbrüche zu entkommen, doch erwies sich das als aussichtslos, da es überall gleichmäßig brannte. Ich weiß nicht mehr, wie ihnen die Rettung doch noch gelang; aber er sagte, daß er später hingegangen sei, um das Allerheiligste, die Monstranz, den Kelch u. die Gewänder zu bergen, doch sei von all dem nichts mehr vorhanden gewesen. Alles war infolge der furchtbaren Hitze verkohlt u. das Metall war geschmolzen. Dasselbe habe ich auch von Hamburg gehört, wo die Steintrümmer über den Kellern noch nach Tagen so heiß gewesen sind, daß man an die Keller nicht heran konnte. Die Menschen in diesen Kellern waren verkohlt u. so zusammengeschrumpft, daß man sie in Kästen verpacken konnte. Man erzählte sich von Müttern, die ihre verkohlten Kinder in normalen Koffern bei sich führten, um sie irgendwo zu beerdigen. [...]
[2][2] Nach Mitteilung unserer Frühnachrichten hat die deutsche Regierung gestern Abend um 23 Uhr sich entschlossen, die Kapitulation Italiens im Rundfunk bekannt zu geben. Sie hat sich dazu einige Stunden Zeit lassen müssen, um sich klar zu werden, was sie dem deutschen Volk sagen solle. Sie hat es dann im echt nationalsozialistischem Stil gesagt d.h. sie hat geschimpft auf die Verräter, die ihrer verdienten Strafe nicht entgehen würden, – u. selbstverständlich sind es wieder die Juden, die diesen Verrat ausgeführt haben, – obgleich es doch, wie es immer hieß, in Italien garkeine Juden mehr gab. [...]
[3][3] Ich erhielt vom Wehrbezirkskommando Stralsund eine Aufforderung, drei Lichtbilder zwecks Ausstellung eines Ausweises [...] [4] einzureichen. Eilt! – Was das bedeuten soll, weiß ich nicht. Frau Boroffka, die einzige Fotografin, ist z. Zt. verreist. Ich habe dem Bezirkskommando dies mitgeteilt. [...]
[4][...] [4] Gestern feierten wir den Geburtstag von Jens Wegscheider, der acht Jahre wurde. [...] [4] zu der sich Jens acht Jungens eingeladen hatte. Zum Glück kam Martha auf den guten Gedanken, den Kaffeetisch in der Bunten Stube herzurichten, denn es ergab sich, daß sämtliche Kinder des Religionsunterrichtes es einfach als selbstverständlich angenommen hatten, daß sie eingeladen waren. Dazu kamen noch andere dazu, sodaß nicht weniger als 20 Kinder erschienen. [...] [4] Da Gesine Meisner mit ihrer Ziehharmonika da war, schlug ich vor, es sollten gemeinsam Volkslieder gesungen werden. Ich war der Meinung, daß der Nationalsozialismus, der sich ja die Erziehung der Kinder so angelegen sein läßt u. der den Mund so voll nimmt mit seiner angeblichen Pflege deutschen Kulturgutes, das deutsche Volkslied wenigstens pflege. Aber welch ein Irrtum! Es ergab sich, daß nicht nur unsere Dorfjugend, sondern auch die vielen städtischen Kinder aus Berlin u. anderen Städten kein einziges Volkslied auch nur dem Namen nach kannte. [...]