Ahrenshoop, Mai 1945
Einführung
Der Artikel Ahrenshoop, Mai 1945 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Ahrenshoop vor und im Krieg“ zusammengestellten Tagebuchauszüge von Mai 1945. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung].
Tagebuchauszüge
[1] Dieses neue Heft beginnt mit der Notiz, daß jetzt stündlich der Abschluß des Waffenstillstandes zu erwarten ist. So gab es jedenfalls heute früh der Soldatensender zu. Graf Bernadotte vom schwed. Roten Kreuz ist in der Nacht vom Sonntag zu Montag in Apenrade mit Himmler zusammengetroffen u. hat das erneute Angebot bedingungsloser Kapitulation an alle drei Verbündeten entgegengenommen. Er ist dann sofort nach Stockholm zurückgeflogen u. hat das Angebot weitergeleitet. – [...]
[2] Für uns war die Kapitulation der letzte Augenblick. Die Russen waren gestern bereits in Greifswald, sie werden heute in Stralsund sein u. morgen in Ribnitz. Es wäre immerhin möglich gewesen, daß es dann auch bei uns zu Kampfhandlungen gekommen wäre, da Kapitänlt. Dr. Krappmann nicht mehr hier ist u. der junge Kapitänlt., welcher aus Swinemünde mit seinen Soldaten im Kurhause liegt, ein etwas dummer Mensch ist, der am Ende Dummheiten gemacht hätte. –
Eben um 10 Uhr kam Dr. Ziel, um die Dinge zu besprechen u. sich Rat zu holen, wie er sich verhalten solle, da er schon seit 2 Monaten keine Pension mehr bekommen hat. Ich beruhigte ihn u. meinte, daß er gewiß seine Pension wieder bekommen, würde, sobald die Lage geklärt sei. – Ferner wiederholte er, was uns schon vorher erzählt worden war, daß den Soldaten der Batterie gesagt worden sei, sie würden heute Mittag um 12 Uhr entlassen u. jeder solle zusehen, wo er bleibe.
Während wir sprachen, kam Frau Ziel sehr aufgeregt u. sagte, es sei alles garnicht wahr, ein Soldat habe es gesagt, außerdem seien die Russen schon in Ribnitz, welches in Flammen stünde. Ich glaubte das nicht u. beruhigte die aufgeregte Frau. Zum Glück kam dann auch der treue Mehlis und gab uns richtige u. sachliche Auskunft. Danach ist die Batterie heute Nacht um 3 Uhr alarmiert worden, die Leute mußten angekleidet liegen. Heute sei ihnen nun bekannt gegeben worden, daß alle Geräte zerstört u. die Geschütze unbrauchbar gemacht werden sollten. Die 5. Kompanie, das ist die Kompanie, die im Kurhause liegt, würde tatsachlich um 12 Uhr entlassen, jeder soll sehen, wo er bleibt. Ihnen selbst, der alten Batterie, sei von der Entlassung noch nichts bekannt, was wahrscheinlich daher käme, weil sie eben noch die Zerstörungen vorzunehmen hätten. Dagegen sei die SS, die bisher ihr geheimnisvolles Wesen im Darss getrieben hätte, heute Nacht mit ihren vollgepackten Panzern abgehauen, sie wären an der Batterie vorbeigefahren. Auch die Soldaten in Zingst wären gestern schon entlassen worden. Mehlis selbst war eben im Begriff, den letzten Befehl nach Darsser Ort zu bringen. Er wird bei dieser Gelegenheit feststellen, ob der Darss noch immer gesperrt ist u. ob in Prerow noch Soldaten sind. Auf der Rückfahrt wird er uns Bescheid geben. [...]
[2] Gestern Abend flogen hier uralte Flugzeuge an der Küste entlang Richtung Kiel. Wahrscheinlich wurden diese alten Kästen für irgendwelche Leute zur Flucht benutzt. Heute fahren die merkwürdigsten Fahrzeuge an der Küste entlang Richtung Kiel. Es scheint, daß alles, was schwimmen, kann benutzt wird, um nach dem Westen zu entkommen. Eben fuhr ein Lazarettschiff mit einer Rote-Kreuz-Flagge vorbei.
Im Dorf stehen die Leute vor den Geschäften Schlange, um einzukaufen, was sie noch kriegen können. –
Gestern kam ein Feldwebel von der 5. Kompanie, um zu bitten, daß unser Auto, welches bei Monheim steht, in die [3] Garrage von Mc Dornan gebracht werden könne. Wir gaben ihm den Autoschlüssel. Ich fürchte sehr, daß die Leute sich des Autos zur Flucht bemächtigen werden. –
Nachmittags 3 Uhr.
Die SS fuhr Mittags mit Autos, Kübelwagen u. Lastwagen hier durch. Vier Kübelwagen standen lange vor der BuStu., die Offiziere, die darin saßen, hatten ihre Frauen oder Weiber mit sich. Die Lastwagen vollgepackt mit Mannschaften u. Weibern. Eines der Autos fuhr später wieder zurück, während die anderen Richtung Ribnitz weiterfuhren. Dieser eine Wagen ist eben wieder gekommen u. steht wieder vor der BuStu. Man hat nie geahnt, daß im Darss so viel SS steckt. Auch zu Fuß u. per Rad zogen Soldaten vorbei, manche mit kleinen Wagen, die aus alten Fahrrädern zurecht gemacht waren, denn alle schleppten viel Gepäck. Auch der Treck von Brandt, der nebenan im Hause Dohna gewohnt hatte, ist abgehauen mit zwei großen Lastwagen mit Zugmaschinen davor u. einer Kutsche mit seinen zwei Pferden. – Es war irgendwoher gesagt worden, daß die Kanonen der Batterie um 12 Uhr mittags zerstört werden sollten, ob es geschehen ist, weiß ich nicht.
Eben aber kommt Agnes Borchers sehr aufgeregt von Bernh. Saatmann herüber u. gleich darauf Frau Daubenspeck noch viel aufgeregter. Sie erzählten, es sei bei Bernh. S. ein Zollbeamter gewesen, der berichtet hat, daß die Russen z. Zt. in Marlow seien u. daß die Batterie den Befehl bekommen habe, sich selbst zu verteidigen. Er habe gesagt: „Das hat euch grade noch gefehlt!“ – Nun, ich habe den beiden gesagt, sie sollten nicht auf jedes Geschwätz hören u. sich nicht überflüssig aufregen. – Herr Soehlke war Mittags auf der Straße u. sagte mir, daß zufällig ein neuer Marine-Oberlt. bei der Batterie sei, der hier dienstlich zu tun gehabt hat u. nicht wieder weggekommen ist. Dieser ist dienstälter als der Oblt. Quast, welcher jetzt die Batterie führt u. er soll ein verständiger Mann sein, der geäußert hat, er garantiere dafür, daß die Batterie keinen Schuß abgeben werde.
Um 4 Uhr nachm. fahren immer noch hoch bepackte Lastwagen, anscheinend zur Flag in Zingst gehörend, durch den Ort, ebenso immer noch Kübelwagen der SS, auch ein großer, schnittiger u. sehr eleganter Personenwagen mit höheren Offizieren. Flag-Offiziere u. Soldaten gehen bescheiden zu Fuß, die Soldaten allerdings in übler Form, teilweise haben sie sich Zivil besorgt. Viele übel aussehende Weiber sind dabei. Frl. Reg. Treffer war bei Martha. Sie geht mit einer Kollegin zu Fuß nach Warnemünde, denn alle Helferinnen sind entlassen worden. Die Soldaten sind jedoch noch nicht entlassen.
Nachm. 6 Uhr.
Mehlis war wieder da u. berichtete, daß der junge Kapitänlt. Wegener das Kommando übernommen habe. Er habe die Soldaten antreten lassen u. eine Rede gehalten, daß sie doch deutsche Soldaten seien u. das Vaterland lieben müßten u. was dergl. Phrasen mehr sind, – u. daß sie sich eben verteidigen müßten, wenn die Russen kämen. – Die Soldaten sind einschließlich der Unteroffiziere + Feldwebel außer sich vor Wut u. wollen alles tun, um einen Schießbefehl zu sabotieren. Er verriet mir, daß die Absicht bestünde, die Schlagbolzen ins Meer zu werfen. Man wird nun abwarten müssen u. hoffen müssen, daß dieser Narr irgendwie zur Vernunft kommt, bzw. daß ihn endlich ein Befehl seiner vorgesetzten Dienststelle erreicht, die Waffen niederzulegen. – Mehlis sagte, daß der ganze Darss noch voller Lastwagen stecke, die nach u. nach von Raupenschleppern herausgeholt werden müssen. Die Soldaten der Batterie sind natürlich wütend, denn [4] sie sehen ja die ganze Flag u. die SS an ihrem Lager vorbeimarschieren, während sie selbst da bleiben sollen, um eventuell sogar noch zu schießen.
Der Bursche von Dr. Krappmann hat Sachen von Dr. K. zur Aufbewahrung gebracht, sowie den Kinderwagen, den wir für Eva leihen wollen.
[4][4] 9 Uhr Morgens. Der gestrige Abend verlief noch etwas dramatisch. Der Zug der flüchtenden Truppen aus dem Darss wurde gekrönt durch einen im Leichenzugtempo daherkommenden Zug der Strafgefangenen, die in Born untergebracht waren unter SS-Bewachung. Voraus fuhr ein hoch getürmter, verdeckter Wagen mit zwei kleinen, weißen Panje-Pferden. Oben auf dem Verdeck saß neben dem Kutscher ein Mensch mit blau-weiß gestreiftem Sträflingsanzug u. spielte sehr gut auf einer Ziehharmonika. Dann kamen die Sträflinge, alle in derselben Sträflingskleidung, den Beschluß machten SS-Leute als Bewachung, die ebenso gemein aussahen wie die Sträflinge selbst.
Gegen 8 Uhr kam Regina Treffer sehr aufgeregt u. berichtete, daß alle Soldaten entlassen seien u. daß um 9 Uhr die Batterie gesprengt werden würde. Das war gewiß sehr erregend, denn wenn sich das bewahrheitet hätte, wären die Dörfer Alt= u. Niehagen u. Ahrenshoop zusammengestürzt. Zum Glück kam Mehlis auch noch u. sagte, daß nur die Geschütze unbrauchbar gemacht würden, die Munition würde nicht gesprengt. Allerdings wußte er es auch nicht genau, er hatte nur den Oberfeldwebel gefragt u. der hatte gesagt, er glaube nicht, daß die Munition gesprengt werden würde. Verrückterweise hatte nämlich die Batterie grade gestern neue Munition erhalten.
Einesteils war diese Nachricht ja gut, weil dann eben nicht geschossen würde, andererseits konnte die Sprengung auch allerhand Unglück anrichten. Ich ging vorsichtshalber zu den Nachbarn u. sagte, daß alle Fenster geöffnet werden sollten. Inzwischen kamen drei Marine-Helferinnen vom Hause Monheim u. baten flehentlich um Unterkunft. Sie hatten Angst, alle 12 Helferinnen im Monheimschen Hause zu bleiben, weil der Russe ja dann sofort merken würde, daß sie Marine-Helferinnen waren. Nun wollten sie gern unauffällig untertauchen. Wir schickten sie zunächst zurück, da der Russe kaum in dieser Nacht ankommen würde u. bestellten sie für heute Morgen. –
Inzwischen kamen viele der Autos der SS wieder zurück. Sie waren nur bis Ribnitz gekommen, der Russe war bereits im Anmarsch. Ein höherer SS-Offizier war arg zugerichtet. Es wurde erzählt, daß er in Ribnitz angeordnet hätte, Panzersperren zu errichten u. Ribnitz zu verteidigen, aber er habe von der Bevölkerung furchtbare Prügel bezogen.
Um 1/2 9 Uhr hörte man dann die ersten Detonnationen von der Batterie her, wo sie anfingen, die Geschütze zu zerstören. Die Detonnationen waren nicht stärker als gewöhnliches Uebungsschießen. Da dann nichts weiter erfolgte, schloß ich um 1/2 10 Uhr wieder die Fenster. Martha u. ich saßen mit Paul im Seezimmer, als es einen starken Lichtschein gab u. darauf eine Detonnation, daß unser ganzes Haus schwankte wie ein Schiff. Dennoch waren nirgends Fensterscheiben kaputt gegangen. Am Himmel stand eine riesige schwarze Rauchsäule. Ich ging mit Martha runter, um zu sehen, ob auch an der BuStu. nichts passiert sei. Es war hier eine Schaufensterscheibe rechts neben dem Eingang kaputt gegangen, sonst war alles in Ordnung. Als wir noch dort standen gab es eine zweite Explosion von nicht minderer Heftigkeit, die der [5] Scheibe den letzten Rest gab, sonst aber auch keinen neuen Schaden anrichtete. –
Das ganze Dorf war natürlich auf der Straße. Ich ging noch zur Dühne, um durch das Glas den Brand des Göring'schen Jagdhauses im Darss zu beobachten, der sich bedrohlich ausgedehnt hatte. Während der Nacht ist er dann aber doch erloschen, da es etwas zu regnen anfing u. das Holz überhaupt feucht war vom Regen der letzten Tage. – Der Brandt'sche Treck kam im Laufe des Abends auch wieder zurück.
Ich legte mich schließlich halb angezogen schlafen. Man hörte noch lange Detonnationen bis nach Kiel hin u. immer noch Autos, aber sonst ereignete sich nichts mehr. Leider gab es aber auch keinen Strom mehr. Die letzten Nachrichten hatten wir gestern früh zwischen 4 – 6 Uhr, seitdem war es mit dem Strom aus.
Heute früh um 7 Uhr hieß es, daß Russ. Panzer kämen. Bei Reichert-Saatmann stand bereits eine lange Schlange, die sich sofort eiligst verflüchtete. Es kamen dann wieder die drei Helferinnen aus dem Monheimschen Hause, die wir zunächst in der BuStu unterbrachten. Inzwischen hat Martha sie wieder los werden können, da Ilse Schuster-König sich bereit erklärte, sie aufzunehmen. Regina Treffer kam ebenfalls mit einer Kollegin, beide brachten wir im kleinen Hause in der Schneiderei unter. Dann kam Mehlis, dem wir die Kammer im Dach anboten, dazu bekam er den blauen Anzug von mir, den ich bisher noch immer als Sonntagsanzug getragen habe u. abgelegt habe, seitdem ich den neuen Anzug von Frau Mazurek bekam. Mehlis erzählte, daß ein russ. Panzer-Spähwagen in der Nacht bei der Batterie vorgefahren sei u. sich sehr höflich erkundigt hätte, was los sei. Nachdem man ihm gesagt hatte, daß die Batterie gesprengt worden sei, hat er höflich gedankt u. ist wieder Richtung Ribnitz zurückgefahren.
Die Bevölkerung hat in der Nacht die Essenvorräte der Batterie geplündert. Es soll dabei toll zugegangen sein.
11 Uhr Vorm. Frau Margot Seeberg war hier um mich zu bewegen, mit Herrn Dr. Ziel zusammen den Bürgermstr. Gräff abzusetzen u. die Geschäfte zu übernehmen. Zufällig kam Herr Ziel dazu. Ich hatte die Sache sofort abgelehnt u. Ziel tat dasselbe. So war diese Unterredung nur kurz. Frau Seeberg versuchte, uns noch zu überreden, aber wir sagten beide, daß wir garnicht daran dächten, unaufgefordert irgendetwas derartiges zu tun. Es wäre auch völlig sinnlos, denn Ziel wie ich sind in den Augen der Russen auch nur Bourgois. Der Bürgermeister soll von sich aus sehen, wie er mit den Russen fertig wird, – u. die Russen selbst können dann ja sagen, was sie wollen, – es läßt sich dann immer noch darüber reden. Vor der Hand werde ich mich hüten, auch nur das Allergeringste zu unternehmen, u. wenn etwas Derartiges an mich herantreten sollte, werde ich auch dann nur im äußersten Falle mich zur Verfügung stellen, also nur in dem Falle, wenn ich damit den ganzen Ort vor einer ernsten Gefahr retten kann.
Sehr freute es mich, daß Ziel fragte, ob heute Abend der Vortrag stattfinden würde. Ich bejahte es, falls nicht höhere Gewalt den Vortrag verhindern sollte.
Die Russen sind über Ribnitz nach Rostock weiter[1] vorgedrungen, vorläufig interessieren sie sich offenbar garnicht für uns.
Frau Seeberg war über Nacht in Müggenburg, wo es elektr. Strom gab. Sie hat den hamb. Sender gehört, der bekannt gegeben haben soll, daß Hitler tot sei.
[6][6] 9 Uhr vorm. Heute früh sind die Russen hier durchgekommen. Gestern war der ganze Tag ruhig, nur unsere Soldaten, die sich irgendwie mit Civilkleidern versorgt hatten, zogen den Weg zurück in den Darss, bzw. verteilten sich sonst in den Häusern. Es waren viele SS-Leute darunter, die gefährlich aussahen. [...]
[6] Abends zum Vortrag waren nur Herr + Frau Ziel u. Frl. Wernecke zugegen, alle anderen brachten die innere Ruhe dazu nicht auf. Herr Ziel war am Tage in der Batterie gewesen, die von Soldaten u. Bevölkerung total ausgeplündert war. Es muß dort furchtbar ausgesehen haben, man hat dort wüst gehaust. Die Baracken sind total demoliert, alles ist kurz u kleingeschlagen, Lebensmittel sind geplündert. Ziel hat in der total zerstörten Apotheke allerhand kostbare Heilmittel u. Medikamente sicher gestellt, um sie der Apotheke in Ribnitz zu geben, die diese Sachen dringend braucht.
Um 7 Uhr heute früh kamen die ersten Reiter durch das Dorf, dann ein bespannter Lastwagen u. allerhand Soldaten, die in die Häuser gingen u. Uhren klauten. Ich war noch beim Ankleiden. Sie waren bei uns im Hause, aber nur in der Diele, wo Paul mit ihnen verhandelte u. gleich seine Armbanduhr los wurde. Als ich runter kam, war das schon vorbei. Ein Soldat kam vom Boden des kleinen Hauses, wo Meiers wohnen, aber er hat dort nichts genommen. Ich schenkte ihm Cigaretten u. er war zufrieden. Andere waren in der BuStu gewesen, wo sie aber nichts fanden. Bei Bernh. Saatmann nahmen sie auch die Uhr weg, bei Papenhagen fanden sie nichts, wollten aber Gläser haben, um Schnaps zu trinken u. gaben auch Carl Papenhagen davon ab. Schließlich zogen sie weiter. Aber bald nacher kamen andere Kolonnen, Reiter, Beutewagen u. Pferde, Radfahrer. Räder werden den Leuten einfach abgenommen. Meist fahren die Kolonnen im scharfen Trabe durch, einige halten u. sehen zu, ob sie noch etwas klauen können, aber im allgemeinen sind es ganz gutmütige Kerle, wenn man berücksichtigt, daß Troßleute niemals u. in keiner Armee Elitesoldaten sind. [...]
[6] Der Troß reißt aber kaum ab. Es kommen immer neue Abteilungen. Einige der Soldaten sind schwer betrunken, aber abgesehen vom Klauen ist es noch zu keiner Unregelmäßigkeit gekommen. Die Olga von Seebergs, die ja Russin ist, will wissen, daß diese Abteilungen alle nach Prerow fahren, wo die 2. russ. Armee stehen soll. [...]
[7] Eben war Herr Ziel hier, der gehört hatte, mir sei die Uhr abgenommen worden. Ich sagte ihm, daß das nicht der Fall wäre u. wir überhaupt bisher kaum Unannehmlichkeiten gehabt hätten. Bernh. Saatmann mußte seine Lederweste ausziehen, auch Herr Gerdes hat seinen Rock hergeben müssen, in dem seine Brieftasche mit Geld u. den Papieren war. Es ist das eine große Ungeschicklichkeit von Gerdes gewesen, er hätte seine Brieftasche sicher wieder bekommen können. – Der dumme Sohn von Frau Gess hatte einen Revolver gehabt, mit dem er renomiert hatte. Der ukrainische Schuster, den wir seit einiger Zeit im Dorfe haben, hat ihn denunziert. Der Bengel hatte den Revolver aber irgendwo ins Wasser geworfen u. das wurde ihm nun nicht geglaubt. Da er es nicht beweisen konnte, wäre es beinahe zu einem ernsten Zwischenfall gekommen, wenn nicht der Kutscher von Brandt, der russisch kann dazwischen gekommen wäre. – Auch Paul hatte übrigens eine altmodische Pistole, die er den Leuten gleich ausliefern wollte, aber sie wollten das alte Dings nicht haben. – Im Kurhause haben die dort wohnenden Soldaten grade beim Frühstück gesessen, als die Russen kamen. Die Russen haben ihnen aber nur gesagt, sie würden bald alle wieder nachhause fahren können, es würde bald wieder die Eisenbahn fahren u. elektr. Strom würde es auch bald wieder geben.
[7][7] 9 Uhr vorm. Gestern erschossen sich Herr + Frau Siegert auf ihrem Felde. So endete das Nazi=Leben dieser Frau, die uns alle hier seit 12 Jahren mit ihrem Fanatismus verrückt gemacht hat u. eine dauernde Gefahr war für jeden, der nicht Nazi war.
Der Nachmittag verlief gestern sonst ruhig, aber Abends gegen 9 Uhr traf wieder ein Tross ein, der genau vor unserem Hause anhielt. Das Haus war verschlossen. Zwei junge Burschen von 16 – 17 Jahren rüttelten an den Türen. Ich ging raus u. verhandelte mit ihnen. Sie wollten Schnaps. Ich gab ihnen Zigaretten u. wie sie schließlich begriffen hatten, daß kein Schnaps da war, zogen sie wieder ab. Ich hatte vorher mit Paul die Reste unseres Weines aus dem Keller geschafft, weil damit zu rechnen war, daß wir Einquartierung bekämen Es kam dann ein Leutnant, der sich aber nur etwas aufwärmen wollte. Er war enttäuscht, daß es nicht sehr warm war. Er setzte sich reichlich ungeniert u. etwas flegelhaft bei Paul ins Zimmer an das Fenster. Bald kam ein junger Soldat ans Fenster u. rief, daß der „Kapitan“ da wäre, worauf der Herr Leutnant eiligst verschwand. Es wurde dann drüben bei Permin die Einfahrt geöffnet u. der ganze Troß zog dort hinein. Es war dann bald Ruhe auf der Straße, nur einzelne Leute gingen dann u. wann umher. Ich selbst postierte mich ans Fenster in der Mansarde, wo ich bis 1/4 nach 12 Uhr Wache hielt. Da sich nichts weiter ereignete, ging ich dann schlafen, d.h. ich legte mich angezogen aufs Bett.
Heute morgen war ein großes Gelaufe zum Geschäft von Reichert-Saatmann. Ich sah vier russ. Soldaten dort stehen.
[8][8] Gestern ereignete sich nichts mehr. Auch die Nacht war ruhig. Ich saß bis 11 Uhr unten in der Diele Wache, aber es ereignete sich nichts, sodaß ich dann ruhig schlafen ging. Gefährlich sind wohl nur die Tross-Züge, die hier durchgekommen sind u. die ja bei allen Armeen der Welt aus Soldaten minderer Qualität bestehen. – Was jetzt hier ist, sind Infanteristen, die an der ganzen Küste entlang einzelne Doppelposten aufgestellt haben, die sich dort eingegraben haben. Am Hohen Ufer, wo unsere Batterie gestanden hat, haben sie zwei Geschütze aufgestellt, wie mir Mehlis sagte. Gestern Abend sah ich vom Seezimmer aus, wie Papenhagen sich an den Posten heranmachte, der hier vor uns sich in die Düne eingrub. Papenhagen brachte den Leuten dann etwas Baumaterial, damit sie sich vor Regen schützen konnten. Das war sehr geschickt. Als es dämmerig war, ging auch ich hin u. brachte ihnen ein paar Zigaretten. Der Mann, dem ich sie gab, war ein großer, blonder u. nett u. gutmütig aussehender Soldat, nicht so jung, wie die Troß-Soldaten meist waren, so etwa 30 Jahre. Er freute sich über die Gabe u. sagte auf deutsch „Danke schön“. So war die Freundschaft geschlossen. Ich werde das öfter tun, damit die Leute uns wohlgesinnt bleiben.
Die Aufregung der gestrigen Nacht u. des gestrigen Tages macht sich nun doch bemerkbar. Alle im Hause sind etwas nervös, auch Paul. Ich habe noch am meisten meine Ruhe bewahrt.
10 Uhr Vorm. Frau Müller aus dem Geschäft Saatmann kam u. sagte, die Leute erzählten, die BuStu sei ausgeräubert worden. Wir gingen sofort rüber u. stellten fest, daß jemand von der Westseite, vom Hause Dohna her, durch die Scheibe, die dort kaputt ist u. die wir bloß notdürftig vernagelt hatten, eingestiegen war. Es war alles sehr durchwühlt, aber offenbar haben die Leute nicht viel gefunden, was sie interessierte. Aus dem Turm haben sie wenigstens eine große Puppe herausgeholt u. heute früh haben mehrere Leute einen Russen mit einer Puppe unterm Arm auf der Straße gesehen. Was sonst noch fehlt, läßt sich schwer feststellen.
[8][8] Gestern Vormittag sah ich Prof. Reinmöller auf der Straße gehen. Sein Selbstmord war also wieder einmal ein falsches Gerücht. Dagegen wurde mir der Selbstmord des Herrn v. Knesebek durch dessen Nichte bestätigt. [...]
[9] Im Ort ist seit gestern Nachmittag ein Feldwebel als Ortskommandant installiert, der im Gemeindeamt sein Büro aufgeschlagen haben soll. Ich sah diesen Mann [...]
[10] gestern vom Fenster aus. Er machte einen recht guten Eindruck. Anscheinend trug er einen deutschen Soldatenmantel u. gab sich offenbar Mühe, proper u. ordentlich auszusehen. Er hat gestern seine erste Verfügung erlassen, daß die Einwohner ab 10 Uhr abends ihre Häuser nicht verlassen dürfen. Heute ist, wie Paul eben sagt, eine neue Verfügung angeschlagen, daß sofort alle vorhandenen Waffen im Haus von Wilh. Helms abzuliefern seien. Daraus schließe ich, daß der Feldwebel dort wohnt, da das Haus dem Gemeindeamt gegenüber liegt.
Es scheint so, als wollte nach u. nach eine Beruhigung eintreten. Das Geschäft haben sie heute Nacht in Ruhe gelassen, nachdem sich wahrscheinlich herumgesprochen hat, daß dort nichts zu holen ist. Ich selbst habe mich heute Nacht ins Bett gelegt u. geschlafen, seit dem 1. Mai zum ersten Male ohne Kleider. Gestern sind einzelne Soldaten noch in einigen Häusern gewesen u. haben Essen verlangt. Da es aber nirgends etwas gibt außer Eiern, haben sie sich damit begnügt. Sie haben dann selbst Butter u. Speck geholt u. Rotwein oder Schnaps u. Brot u. haben sich die Eier braten lassen. Bei Frau Noelle in Althagen waren sie auch u. haben Zigaretten verlangt. Frau N. soll gesagt haben, daß sie selber gerne eine Zigarette hätte, worauf sie ihr eine Zigarette angeboten hätten. Außerdem haben sie ihr angeblich 50,– Rm. in Interalliiertengeld geschenkt. Dergleichen hört man öfter, ob's stimmt, weiß ich nicht.
Paul war heute früh beim Bauer Paetow, um sich anzubieten ihm in der Arbeit zu helfen, da der polnische Knecht gestern mit allen polnischen u. russischen Hausgehilfinnen in einem requirierten Wagen mit requirierten Pferden abgefahren ist. Typisch ist, daß der polnische Knecht keinen Wagen u. auch nicht die Pferde von Paetow requiriert hat. Wagen u. Pferde waren mir ganz fremd, er muß sie sonst woher besorgt haben. Paetow ist sehr bedrückt gewesen u. hat es abgelehnt, sich helfen zu lassen, er meint, daß er das Vieh allein versorgen könnte. Man hat ihm alle Milchkühe gelassen, nur eine Starke hat einer der durchgekommenen Trosse mitgenommen. Auch Pferdegeschirr haben sie mitgenommen, aber immerhin doch altes Geschirr dafür dagelassen. –
Die Patrouillen am Strande schießen zuweilen, wohl nur zum Spaß. Es macht diesen Russen Spaß, Lärm zu machen. So lassen sie die Motoren ihrer Beutewagen gern im Leerlauf laufen. Motorräder fahren sie kaputt u. verstehen nicht, den Motor wieder in Gang zu bringen, wenn er mal versagt. Sie reiten gern im Gallopp auf dem Bürgersteig, weil das so schön klappert. – [...]
[11] Frau U. wußte allerhand Nachrichten über Unstimmigkeiten zwischen Russen u. Anglo-Amerikanern insbesondere über die Besatzungszonen. Danach hätten die Russen eigentlich nur bis zur Westgrenze Pommerns besetzen dürfen u. sie wollen nun nicht mehr aus Rostock raus. Aber das alles sind ja Gerüchte u. ganz unkontrollierbar. Es wird furchtbar viel erzählt u. wenn man näher hinsieht, ist alles nicht wahr. So hat man erzählt, die Russen hätten den Hof unseres Bauern Paetow völlig ausgeplündert u. den alten Mann zum Schluß erhängt. Nichts davon ist wahr. Nur das stimmt, daß bis heute Nachmittag 4 Uhr alle Waffen abgegeben sein sollen. Martha u. ich haben eben vorsichtshalber Fritzens Zimmer durchsucht, haben aber nichts gefunden. Ich entsinne mich auch nicht, bei Fritz je eine Waffe gesehen zu haben.
[11][11] 9 Uhr morgens. Die Lage beruhigt sich mehr u. mehr. [...]
[11] Am Spätnachmittag kamen Frau Korsch u. Frau Masurek, die von ihren Erlebnissen erzählten. Auch ihnen ist nichts geschehen. Dann kam Herr Deutschmann, der sich nun wohl erhöhte Mühe gibt, mit uns gut zu stehen. Er wußte aber sonst auch nichts Neues. Während er hier war, kam die aufgeregte Frau Daubenspeck, die natürlich einen Korb voll Neuigkeiten wußte, aber alles belanglose Geschichten. Es sind gewiß hier u. da üble Dinge passiert, besonders im Hoffmannschen Hause, bei Knecht u. auch bei unserem Nachbar Brandt, aber was sonst erzählt worden ist, stellt sich gewöhnlich als maßlose Uebertreibung heraus. Spangenberg haben sie allerdings fast die ganze Garderobe gestohlen.
Abends holte ich die letzte Flasche Wein, es war der Met-Wein, den wir vor einem Jahre zu Weihnachten von Betty Thomas aus Thorn bekamen. Wir haben nun bloß noch drei Flaschen franz. Sekt u. vier Flaschen Cognac. [...]
[11] Sehr dumm ist es, daß man fast garkeine Nachrichten hört. In Swinemünde soll noch immer gekämpft werden u. auch sonst noch soll es einzelne Widerstandsnester geben, aber im großen Ganzen scheint doch überall Waffenruhe zu herrschen. Ob Paulus oder sonst jemand eine Regierung gebildet hat, ist nicht bekannt. Sobald das der Fall sein wird, wird doch wohl auch sofort der endgültige
[12] Friede geschlossen werden, da ja irgendwelche Verhandlungen dazu nicht in Betracht kommen. – Es verlautet nichts darüber, wo unsere Bonzen geblieben sind. Diejenigen, welche Rundfunk hören können, weil sie einen Akku haben, erzählen, daß die Engländer an den Tod Hitlers nicht glauben, da noch niemand seine Leiche zu Gesicht bekommen hat. – [...]
[12] 3 Uhr nachm. Habe am Vormittag Gartenbeete eingeteilt, um Dahlien zu pflanzen, bin aber nicht sehr weit gekommen. Es strengte mich sehr an u. es fehlt die Lust. Später saß ich in meinem Zimmer am Fenster, als Eva von unten heraufrief. Ich ging rasch runter. Es stand ein Mongole an ihrer Tür u. wollte rein, der Kerl muß von hinten her durch den Garten gekommen sein. Ich ging, durch die Küche hinaus u. begrüßte den Burschen. Da er sich nicht vom Fleck rührte, versuchte ich es mit Zigaretten. Er wollte die ganze Schachtel haben, die ich ihm aber nicht gab. Dann wollte er eine Uhr haben, ich zuckte bedauernd die Achseln. Aber der Kerl ging nicht weg. Indessen ritten vorm Hause auf der Straße einige Russen umher, anscheinend Offiziere. Ich ließ den Kerl stehen, um nachzusehen, was es gäbe. Als ich wieder zurück kam, war der Kerl verschwunden, wahrscheinlich über die Düne. [...]
[12] Eben kommt Paul vom Kurhaus, wo er den Sender gehört hat. Danach ist die endgültige Kapitulation der gesamten deutschen Wehrmacht jeden Augenblick zu erwarten. Es gibt nur noch einige kleine Widerstandsnester. Auf Rügen scheint bis jetzt noch gekämpft worden zu sein. Die gelegentlichen Flüchtlingsboote, die hier vorbeigefahren sind, dürften demnach von Rügen gewesen sein. [...]
[...] [13] Von Himmler ist überhaupt nicht mehr die Rede, nur, daß ein Befehl von ihm aufgefunden worden ist, nach dem die Insassen des Konzentrationslagers Dachau keinesfalls lebend in die Hände der Anglo-Amerikaner fallen dürften. Es werden dort 30 – 40000 Insassen gewesen sein, der Befehl ist aber zum Glück nicht ausgeführt worden. – [...]
[13][13] Von denen, die Radio hören können, hörten wir gestern Nachmittag, daß gestern früh 245 Uhr die bedingungslose Kapitulation der gesamten deutschen Wehrmacht unterzeichnet worden ist. Unterzeichnet haben Generaloberst Jodl u. ein Admiral, ich glaube mit Namen Freudenberg. Damit ist nun also endlich dieser furchtbare Krieg zu Ende, u. wenn man sich dieses Endes auch nicht besonders freuen kann, da wir weiterhin in Furcht u. Schrecken leben, so ist es doch wenigstens ein Lichtblick in eine bessere Zukunft. – Gestern Abend hörte man von Dänemark herüber lange anhaltende u. sehr schwere Detonnationen, es sind dort wohl alle Wehrmachts-Anlagen in die Luft gesprengt worden. Der ganze Horizont war verhangen von grauem Dunst, in dem die Sonne blutrot u. merkwürdig deformiert unterging.
Nachmittags war Heinr. Dade, Trudes Vater, da u. berichtete, daß es bis jetzt allen gut ginge. Sie verstecken die Tochter bald hier, bald da. Er erzählte, daß die flüchtenden SS-Banden alle Boote vom Strande gestohlen hätten. Da sie aber nicht wußten, daß jedes Fischerboot im Boden ein Loch hat, das zugepfropft werden muß, ehe man das Boot zu Wasser bringt, sind die Boote voll Wasser gelaufen. Die Fischer haben ihre Boote am nächsten Morgen draußen auf See schwimmen sehen. Da das Boot von Fischer Meyer nicht gestohlen war, konnten sie sich alle Boote wiederholen. Von den SS-Leuten war nichts mehr zu sehen, sie werden wohl alle ertrunken sein. [...]
[13] Im Dorf scheint sich die Lage weiter zu beruhigen. Die Russen haben am Dorfeingang nach Althagen zu einen Schlagbaum errichtet, dessen Zweck mir nicht verständlich ist. In Wustrow haben sie, so viel ich bisher gehört habe, zwei Häuser in der Strandstraße beschlagnahmt
[14] u. zwar das Strandheim u. das Haus Lettow. Natürlich wurde gestern hier erzählt, die ganze Strandstraße sei „enteignet“ worden. Abends kam Dr. Ziel u. stellte die Sache richtig. Frau Dr. Hahn war in Wustrow gewesen u. hatte die Nachricht mitgebracht. Es scheint demnach so, als würde nun im Strandheim eine Ortsunterkunft für russ. Soldaten eingerichtet u. im Hause Lettow für den Stab eine Unterkunft geschaffen. Das ist alles. [...]
[14] Frau Dr. Hahn war in Wustrow beim Kommandanten, um einen Ausweis zu bekommen, daß sie ungehindert nach Wustrow fahren könne. Der Mann war höflich, wenn auch eiskalt, u. hat ihr gesagt, sie brauche dazu keinen Ausweis, sie könne ungehindert überall hingehen, aber es empfehle sich, nicht mit dem Rade zu fahren, da ihr dieses leicht von Soldaten abgenommen werden könne. Zu Fuß aber könne sie überall hingehen, wo russische Besatzung sei.
Fischer Meyer fischt jeden Morgen, aber es ist nicht ungefährlich. Ich sah heute morgen vom Fenster aus, daß sein Boot unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Die beiden Insassen warfen sich auf den Boden u. banden rasch ein Taschentuch an ein Ruder, mit dem sie winkten. Das Feuer hörte dann auf.
Die Lebensmittel-Knappheit nimmt mehr + mehr zu, es kann das sehr schlimm werden. [...]
[14] Sabine Klein hat einen durchziehenden amerikan. Kriegsgefangenen [15] gesprochen u. ihm einen Brief an ihren Vater nach Amerika mitgegeben. Sie erzählte das überglücklich Martha in dem Augenblick, als die Tochter von Frau Stricker da war, die mit ihrer ganzen elterlichen Familie von je her wütende Nationalsozialistin u. Judenhasserin war. Sie ist nun dauernd auf der Flucht vor den Russen, denn sie ist sehr hübsch. Sabine Klein, die Judentochter, nahm sich ihrer sofort an, bot ihr Quartier an u. einen anderen Mantel, da der Mantel, den sie trägt, auffällig u. den Russen schon bekannt ist. [...]
[15] Die Russen sollen heute Nachmittag draußen auf der Kuhweide eine Siegesfeier veranstalten. Sie werden dann wieder schwer besoffen sein. Hoffentlich passiert nichts.
Heute Vormittag bereitete ich mich auf den morgigen Vortrag vor, nachher pflanzte ich Dahlien. [...]
[15][15] Die sog. Siegesfeier, die die Russen gestern veranstaltet haben sollen u. von der ich mit Besorgnis eine allgemeine Besoffenheit erwartet hatte, ist sehr ruhig verlaufen. Hier u. da hörte man Russen singen, bzw. gröhlen u. vereinzelt wurden Leuchtraketen geschossen, aber schon um 10 Uhr war alles ruhig. Ich blieb vorsichtshalber bis 12 Uhr am Fenster sitzen u. betete den Rosenkranz, aber dann ging ich schlafen. Ich habe bis jetzt, 9 Uhr Morgens, nicht gehört, daß sich irgendwo etwas ereignet hätte.
Gestern im Laufe des Tages erhielten wir durch irgend einen Boten ein Briefchen von Carmen Grantz, nach dem es ihr u. ihrer Mutter noch gut geht. Die Russen haben ihr, wie üblich, eine Uhr weggenommen, eine Flasche Parfüm u. ein Paar lederne Handschuhe, doch ist es ihr gelungen, die letzteren wieder aus den Manteltaschen der Russen zurückzustehlen. – [...]
[15] Nun ist auch noch die Möglichkeit, Radio-Nachrichten zu hören, die bisher im Kurhause bestand, verloren gegangen. Der Apparat ist mitsamt dem Akku gestohlen worden. Wir sind nun ganz auf Gerüchte angewiesen. [...]
[16] Heute Vormittag pflanzte ich weite Dahlien. Es ist heute sehr schönes, warmes Wetter. Auch Gladiolen-Zwiebeln habe ich gepflanzt. [...]
[16][16] Gestern Abend kurz vor Beginn des Vortrages, kam wieder ein Russe ins Haus. Er kam von hinten her in die Küche. Es war wohl ein Pole. Ich weiß nicht, was diese Burschen eigentlich wollen. Er erbat sich Trinkwasser, das er bekam, aber es war wohl bloß ein Vorwand. Er sah sich mit dem etwas verlegenen u. dummdreisten Gesicht des Knechtes, der den Herrn spielt, um, ging in die Diele, interessierte sich für das Telephon. Ich zeigte ihm, daß es außer Betrieb sei. Dann wollte er ins Eßzimmer. Ich konnte ihm verständlich machen, daß dort Eva's Kind schliefe u. da ließ er es. Dann deutete er auf die Treppe u. sagte etwas, was ich nicht verstand. Zur Probe nickte ich mit dem Kopfe, worauf er die Treppe hinaufgehen wollte. Ich vertrat ihm den Weg u. schüttelte nun zur Abwechslung den Kopf u. er gab seine Absicht auf. Dann ging er langsam raus, besah den Hintergarten u. kam wieder zurück. Ich gab ihm zwei Zigaretten u. dann zog er langsam ab. Nach kurzer Zeit erschien er aber wieder mit einem Radfahrer. Beide gingen an die Tür des kleinen Hauses u. rüttelten daran, dann gingen sie zum Seiteneingang der BuStu u. rüttelten u. schließlich zogen beide ab u. verschwanden im Strandweg. – Es passiert ja nichts, aber es ist jedesmal eine arge Nerven-Erregung. [...]
[17] Ueber die Zustände in Wustrow sagte Dr. Ziel, daß die ganze Strandstraße vom Strandheim ab abgesperrt sei. Die Hausbesitzer haben die Häuser räumen müssen, es mögen das etwa 15 Häuser sein, u. diese Häuser sind mit Soldaten belegt worden, sodaß dort nun alle Soldaten zusammen wohnen. Es ist ihnen streng verboten, andere Häuser zu betreten. Auch Nachts dürfen die Soldaten ab 10 Uhr nicht mehr auf der Straße sein. Es gehen Nachts zwei Patrouillen. Der Bürgermeister hat vorgeschlagen, daß diese Patrouillen von zwei Bürgern begleitet werden sollen u. der Kommandant hat dem zugestimmt. Die Läden sind dort wieder geöffnet u. das Leben fängt an, wieder normal zu sein. Die vier Barnstorfer Bauern, die ihre Gehöfte verlassen mußten, da sie von Soldaten belegt wurden, konnten ihre Gehöfte wieder in Besitz nehmen. Die Männer von 18. – 60 Jahren sind zusammengerufen worden u. man hat, wenn ich mich recht besinne, die Soldaten unter ihnen herausgenommen u. sie nach Ribnitz gebracht die übrigen konnten wieder nachhause gehen, ohne daß sie registriert worden wären. Es scheint also, als ob in Wustrow das Leben wieder anfängt, normal zu werden, es wird also wohl auch bei uns bald wieder normal sein.
Die sog. Siegesfeier der Russen ist ebenfalls ruhig verlaufen, so weit ich bis jetzt sehe. Ich hatte deshalb Sorge u. blieb bis 12 Uhr wach, aber es ereignete sich nichts. Nur Leuchtraketen sah ich am Himmel stehen. [...]
[17][...] [18] Nicht weniger schlimm sind die ortsfremden Flüchtlinge. Sie haben die Einrichtung des Kaffee Namenlos ausgeplündert. Sie gehen zu den Bauern u. wenn sich diese ihren Forderungen widersetzen, drohen sie damit, daß sie mit Russen wiederkommen würden. Der Bauer Paetow, dessen Frau allerdings schon immer im Rufe großen Geizes stand, ist total ausgeplündert worden, nachdem er den Russen, die Brot, Eier u. Butter gefordert hatten, dies verweigert hatte. Sie haben das Haus durchsucht u. sollen in der Räucherkammer die Produkte von zwei ausgeschlachteten Schweinen mitgenommen haben. Auch alle Kartoffeln u. alles Heu haben sie genommen. Den Bauern in Althagen ist es ebenso ergangen. Es wird eine furchtbare Hungersnot geben. [...]
[19] In Wustrow sollen mehrere Selbstmorde vorgekommen sein: der Mann der Frau Woehrmann soll sich die Schlagader aufgeschnitten haben, Frau W. hat sich die Pulsadern geöffnet, jedoch soll sie daran nicht gestorben sein. Auch der Gendarmerie-Wachtmeister soll sich mit seiner Frau erhängt haben. Alle diese Leute waren Nazis. So traurig es ist, darf man doch nicht vergessen, daß alle diese Leute im Falle eines Sieges der Nazis uns unfehlbar ans Messer geliefert hätten.
1/2 3 Uhr nachm. Die Russen sind heute früh aus Ahrenshoop abgerückt. Der sog. Kommandant ist nicht mehr im Hause von Wilh. Helms u. auch das Gemeindeamt ist frei. Auch aus der Kolonie draußen höre ich, daß dort alle Offiziere fort sein sollen u. auch die Soldaten, die draußen im Kinderheim waren, sind fort. Zwar fahren durch's Dorf noch einzelne Wagen u. Autos, zuweilen auch ein Reiter, aber sonst ist von den Soldaten nichts mehr zu sehen. Heute morgen wurde am Strande noch hier u. da geschossen, wie sie es ja anscheinend zum Zeitvertreib immer getan haben. [...]
[19][19] Es ist immer noch kein Strom da. – Die Russen sind tatsächlich aus Ahrenshoop abgezogen, nur die Offiziere liegen noch draußen in der Kolonie im Quartier. Sie scheinen außer sehr viel Essen u. Trinken nichts zu tun zu haben.
Herr Gräff hat durch Anschlag am Schwarzen Brett bekannt gemacht, daß er die Geschäfte des Bürgermeisters „im Einverständnis mit dem Kommandanten“ wieder übernommen habe. Dieser einverstandene Kommandant ist aber nicht mehr da.
Gestern Abend war Herr Brandt bei uns. Er, Paul u. ich besprachen, was zu tun sei, um der zu erwartenden Hungersnot entgegenzutreten. Gräff ist dem nicht gewachsen, er besitzt keine Initiative u. es taucht immer öfter die Idee auf, daß ich die Geschäfte übernehmen soll. Ich weigere mich jedoch entschieden. Ein Anderer ist nicht da. Also spreche ich dafür, daß man Gräff ruhig im [20] Amte lassen soll, nur soll man ihm Männer zur Seite geben, die Initiative besitzen u. den Kram machen. So wäre Paul für die ganze Verwaltung ausgezeichnet geeignet u. er könnte dann später, wenn sich die Verhältnisse geklärt haben, auch das Amt übernehmen. Herr Brandt wäre sehr geeignet, Lebensmittel von den Gütern jenseits des Bodden heranzuschaffen u. vor allem könnte er den Paetow'schen Hof, der ja nicht erst jetzt schlecht bewirtschaftet wird, ertragreich machen. Jedenfalls sind drei Maßnahmen dringend erforderlich. 1) Es müssen diejenigen Lebensmittel, die in den Geschäften noch vorhanden sind, so sichergestellt werden, daß sie an die Allgemeinheit ausgegeben werden u. nicht bloß an einzelne Freunde der Ladeninhaber. Bei Reichert=Saatmann soll noch immer etwas vorhanden sein, trotz der Plünderung, doch werden diese Lebensmittel unter der Hand an die guten Freunde abgegeben. 2) Es müssen neue Lebensmittel zugeführt werden. In Wustrow ist z.B. ein Dampfer mit Mehl angekommen. Was für Wustrow möglich ist, muß auch für uns möglich sein. Der Schlachter muß in die Lage versetzt werden, Schlachtvieh heranzuschaffen. Herr Brandt ist ebenfalls bereit, nach Ribnitz zu fahren. Man muß notfalls den hier einquartierten Offizieren die Sache vorstellen u. sich von ihnen beraten lassen. 3) Es muß der Hof von Paetow sachgemäß bewirtschaftet werden, wozu Herr Brandt ebenfalls bereit ist. Ferner müssen die Russen veranlaßt werden, in Althagen ihre Pferde nicht auf die Aecker zu treiben. Es sollen dort 300 Pferde auf den Aeckern stehen u. den jungen Roggen abweiden.
Ich will nun heute zu Gräff gehen u. ihm dies alles vorstellen u. ihn fragen, was er zu tun gedenkt. Falls er nichts unternimmt oder unternehmen will, will ich zu Deutschmann gehen u. zu Kapitän Krull u. will beide zu einer Besprechung einladen mit Paul, mir u. Herrn Brandt. – [...]
[20] Nachm. 4 Uhr. Ich war morgens bei Gräff. Ich fand ihn an einem Tischchen in der kleinen Veranda vor seinem Hause, wo er Lebensmittel-Bezugscheine ausgab. Es war ein immerwährendes Kommen u. Gehen, teils Deutsche, teils [21] Russen. Die Leute erzählten, daß jetzt bei der Batterie in Althagen ein großer Anschlag sei, nach dem sich alle Männer zwischen 17 – 50 Jahren zu melden hätten, ferner, daß alle Flüchtlinge bis zum 14. Mai, also Montag, den Ort zu verlassen hätten, u. endlich, daß alle Radiogeräte abzuliefern seien. Es ist zu erwarten, daß dieselbe Anordnung auch für Ahrenshoop erfolgen wird. Die Flüchtlinge sollen nach Ribnitz transportiert werden, wie sie von dort weiterkommen werden, weiß niemand. u. wenn sie weiterkommen, weiß niemand, wohin sie gehen sollen, denn meistenteils existiert ihre Heimat ja nicht mehr. Mitnehmen können sie natürlich garnichts. – Die Ablieferung der Radio-Geräte ist völlig unbegreiflich.
Gräff wußte mir nichts zu sagen. Er zeigte mir die Verfügung, daß er die Bürgermeister-Geschäfte wieder zu übernehmen habe u. die vom Kommandanten in Wustrow ausgefertigt ist. Er weiß aber nicht, wer denn nun eigentlich als Behörde zuständig ist. Er hat Passierscheine vorbereitet für den Schlachter Leplow u. a. Leute, aber da er ja nicht mit jedem solchen Schein nach Wustrow laufen kann, muß er warten, bis irgend ein höherer Offizier einmal kommt, um solche Scheine zu unterzeichnen. Dann aber ist solch ein Passierschein von zweifelhaftem Wert, da kein russischer Soldat sich daran kehrt. Die Leute werden unterwegs trotzdem ausgeplündert. Leplow würde niemals mit Schlachtvieh bis hierher kommen, auch wenn er irgendwo solches noch auftreiben würde. Bisher hat Gräff solche Unterschriften wenigstens von den Majoren bekommen, die bei Frau Longard wohnten, aber diese sollen nun auch fort sein. Alles Bettzeug haben sie mitgenommen. Gräff wartet nun auf den Kommandanten von Dierhagen, der bisher jeden Tag mit dem Auto nach Ahrenshoop gekommen sein soll u. der nach Gräff's Beschreibung ein Mann ist, mit dem sich reden läßt. Jedenfalls sind die Schwierigkeiten ungeheuer u. man kann Gräff keinen Vorwurf machen, wenn keine Ordnung ist. [...]
[21] das Gemeindeamt ist total demoliert. Die Russen haben sämtliche Schränke u. Schreibtische erbrochen, Stühle zerschlagen u. mit den Akten ihre Feldküche geheizt. Alle Grundstücks-Akten sind vernichtet.
[22] Ich pflanzte weiter Dahlien u. einige junge Zwiebelpflanzen, die uns Frau Schuster heute früh brachte. Um 3 Uhr hatten wir ein kurzes, heftiges Gewitter mit minimalem Niederschlag.
Vormittags waren Frau Soehlke u. Frau Kuhnke da u. erzählten von den Zuständen in Althagen, die noch viel unsicherer sind als bei uns. Es ist eine furchtbare Not. Man muß lachen, wenn man an die vier Freiheiten denkt, die Herr Roosevelt versprochen hat u. unter denen die Freiheit von Furcht die begehrenswerteste war. Wir kommen Tag u. Nacht nicht aus der Furcht heraus. Dazu kommt, daß es jetzt überhaupt keinen Strom mehr gibt, sodaß man keine Nachrichten hört. Wenn man uns dann noch die Radio-Geräte fortnehmen wird, dann weiß man überhaupt nichts mehr. Heute hat es bei Leplow Fleisch gegeben. Die Leute haben stundenlang angestanden. Beinahe hätte es aber auch dies nicht gegeben, da die Russen heute früh bei Leplow eingedrungen sein sollen, um das Fleisch fortzunehmen. Es konnte schließlich noch verhindert werden. Spangenberg haben sie zwar bis jetzt noch seine Pferde gelassen, – ein wahres Wunder, denn die Pferde sind gut, aber sie haben ihm heute auch noch den zweiten Wagen fortgenommen, nachdem der erste schon vor mehreren Tagen fortgenommen wurde. Wenn wir über Wustrow Lebensmittel bekommen sollten, werden keine Wagen dasein, um sie abzufahren. [...]
[23][...] [24] Paul ist heute zum ersten Male in der Gemeinde [25] tätig gewesen. Er hofft, daß er morgen einen Lebensmittel-Transport nach Ribnitz u. zurück organisieren kann, doch hängt das davon ab, was Herr Niemann, der heute nach Ribnitz zur Erkundung gefahren ist, für Nachrichten bringen wird. [...]
[25][...] [25] Gerüchtweise wird erzählt, es sei nun endlich eine provisorische Regierung unter Generalfeldmarschall Paulus gebildet worden. Hoffentlich stimmt das, damit endlich wieder Post, Eisenbahn u. Stromversorgung in Betrieb kommen. Es ist lähmend, daß man überhaupt nicht weiß, was in der allernächsten Umgebung vor sich geht.
5 Uhr nachm. Paul sagt mir eben, daß er mit jenem Herrn Niemeier (oder Niemann?) aus Stralsund gesprochen hat, der von seiner Mission in Ribnitz zurückgekehrt ist. Danach sollen in Ribnitz lauter rote Fahnen wehen u. die Kommunisten sollen die Lage beherrschen. – Er hat berichtet, daß Mehl, Kartoffeln u. a. Lebensmittel zur Verfügung stehen, doch müssen wir sie selbst abholen, was morgen geschehen soll, teilweise allerdings aus Rostock. Es ist ein Förster hier aus Ostpreußen, der eine Holzgas-Zugmaschine u. einen Wagen hier hat u. der bereit ist, mit entsprechendem Ausweis zu fahren. Die Ausweise sind vorhanden. In der Molkerei Wustrow sollen die Russen 60% der Milch beschlagnahmt haben, sodaß nur 40% für die Bevölkerung übrig bleibt. Infolgedessen will die Molkerei nur noch Mecklenburg beliefern, wir in Ahrenshoop bekämen dann nichts. Da wir dann aber auch keine Milch abzuliefern brauchen, wäre das ja nicht schlimm. [...]
[25][...] [25] Der arme Paul ist furchtbar deprimiert. Ich holte gestern Abend eine Flasche franz. Cognag herauf u. gab ihm zu trinken, um seine Lebensgeister wieder aufzufrischen. [...]
[25] Heute ist nun also das Lebensmittel-Auto nach Ribnitz gefahren, vielleicht bringt es etwas. Mit dem Auto sind auch Flüchtlinge abgefahren, wie überhaupt ununterbrochen Flüchtlinge Ahrenshoop verlassen. Wenn wir diese [26] erst einmal los sein werden, wird es um vieles besser werden. [...]
[27][...] [27] Nun kommt eben Paul u. sagt, daß die Russen im Abmarsch seien. Es sollte heute früh das Lebensmittel-Auto nach Ribnitz fahren, es ist aber nur bis zur Batterie gekommen. Dort war der ehemalige Obermaat Richter, der das Auto gewarnt hat, weiter zu fahren. Alle Pferde der Russen sind zusammen getrieben, alle Wagen gepackt, alle Autos stehen auf der Straße u. alles deutet auf den sofortigen Abmarsch hin. Das Auto hat es unter diesen Umständen nicht gewagt, weiterzufahren u. ist zurückgekehrt. [...]
[28] 5 Uhr nachm. Frau Dr. Daubenspeck war eben da, um mich zu überreden, Bürgermeister zu werden. Das ganze Dorf wolle es. Ich habe wieder abgelehnt u. darauf hingewiesen, daß Paul die Geschäfte viel besser macht als ich u. daß er sich ja auch ganz dafür einsetzt. [...]
[29][29] Gestern Abend kam Agnes Borchers u. ihr Mann. Sie war schrecklich aufgeregt, was sie ja immer ist, u. berichtete, daß ihr Schwager Fritz Peters aus Wustrow verhaftet sei und nach Althagen zu Bendix gebracht worden wäre, wo er streng bewacht würde. Außer ihm sollen auch noch viele andere Wustrower, die eine Rolle in der Partei gespielt haben, verhaftet worden sein. Jetzt behauptet Agnes plötzlich, Peters wäre nie Nazi gewesen; aber in der Tat ist er ja immer sonntags mit seinem Patrei-Abzeichen herumgelaufen u. bei näherer Nachfrage stellt sich heraus, daß er sogar das Amt hatte, die Mitglieds-Beiträge einzusammeln. [...]
[29] Schließlich berichtete sie noch, daß an der Gemeindetafel angeschlagen sei, daß sich heute alle Männer zwischen 17 – 60 Jahren zu melden hätten u. daß morgen alle Radio-Geräte abzuliefern seien.
Heute Morgen kam Trude wieder. Sie hatte gestern gesehen, daß vier Wustrower Männer unter russ. Bewachung nach Althagen gebracht worden seien, unter ihnen sei auch Fritz Peters gewesen. Diese Männer sind im Hause Bendix interniert worden u. sie werden in dem Gelände der Batterie mit Erdarbeiten beschäftigt. Alle vier waren ehemalige Nazis. Die Sache ist also vollkommen in Ordnung. Die Russen benötigen Arbeiter, wahrscheinlich zum Latrinenbau u. ähnlichem, u. sie holen sich dazu ehemalige Nazis. Dagegen ist nichts einzuwenden. [...]
[29] 4 Uhr nachm. War Vormittags an der Gemeindetafel, um mir den Anschlag anzusehen. Er nennt sich „Wehrmachts-Befehl Nr. 1.“ u. geht vom Befehlshaber in Ribnitz aus. Er ist ziemlich umfangreich. Wesentlich ist neben der Meldung der Männer zwischen 18 – 60 Jahren, daß Waffen u. Radiogeräte abzuliefern sind u. daß alle Arbeiter u. Geschäftsleute sofort ihre bisherige Arbeit wieder aufzunehmen haben. – Es standen dort natürlich viele Leute, darunter auch Frau Booth, die sich am meisten dafür interessierte, ob sie sich auch melden müsse, da alle Leute der SS u. SA, der NSKK. des SD u. der Polizei, auch der HJ u. BdM u. der Frauenschaft sich zu melden haben. Die NSV war aber zur großen Erleichterung von Frau Booth nicht dabei. Frau Booth fing nun an, auf den Führer zu schimpfen. Ich drehte mich um u. sprach vor allen Anwesenden meine Verwunderung aus, daß jetzt diejenigen, die [30] noch vor 14 Tagen immer so laut „Heil Hitler“ geschrieen haben, jetzt am lautesten schimpfen. Frau Booth behauptete, niemals Nazionalsozialistin gewesen zu sein, sie wäre auch nicht in der Partei gewesen. Ich fragte, warum sie denn dann immer so laut „Heil Hitler“ gerufen hätte? Sie sagte, das hätte sie nur aus lauter Angst getan. – So ist dieses Gesindel. [...]
[30] Es könnte sein, daß wir mit der Zeit noch froh sein werden, Russen hier zu haben, denn aus den besetzten Westgebieten dringen Gerüchte hierher, wonach die Engländer u. Amerikaner sich in jeder Weise bemühen, das Ehrgefühl der Bevölkerung zu verletzen. Es wird dort vielleicht nicht geklaut u. vergewaltigt, aber die Reitpeitsche soll eine große Rolle spielen. Auch im Rundfunk wird von den Engländern eine große Propaganda entfaltet, um das ganze deutsche Volk zu diffamieren. Wenn die Russen klug sind, dann können sie sich jetzt in Deutschland leicht Freunde werben. [...]
[31][31] 11 Uhr vorm. Soeben war Dr. Ziel da u. erstattete Bericht über alles, was los ist, so weit er Kenntnis davon hat. Er hat den russ. Kommandanten, der bisher in Wustrow war, jetzt aber in Althagen in der Batterie ist, aufgesucht u. ihm die Angelegenheit der Plünderungen vorgestellt. Er hat bei diesem Offizier, einem Major, großes Verständnis gefunden u. hat erreicht, daß nun nachts eine Streife geht u. daß Dr. Hahn ihn zu benachrichtigen hat, wenn etwas passiert. Der Kommandant ist dann selbst mit Dr. Ziel hierher gekommen u. ist durchs ganze Dorf gegangen bis zum Kinderheim, wo er selbst Soldaten beim Plündern überrascht hat. Er soll sie sehr energisch zurechtgewiesen haben, die gestohlenen Sachen mußten sie wieder abliefern. Ich habe allerdings nicht gehört, daß diese Soldaten bestraft worden wären, – eine energische Zurechtweisung dürfte kaum sehr wirksam sein über den Einzelfall hinaus. Immerhin ist eine Tendenz zur Besserung da. [...]
[31] Wir haben Fleisch bekommen, sodaß zu Pfingsten jeder etwas Fleisch essen konnte. Mehl ist noch nicht gekommen, auch alle anderen Nahrungsmittel fehlen. Das Lebensmittel-Auto ist aber heute wieder unterwegs, es nimmt jedesmal 15 Flüchtlinge mit. Es sollen bis jetzt etwa 250 Flüchtlinge den Ort schon verlassen haben, aber 600 Flüchtlinge oder mehr sind noch immer im Ort. [...]
[32][...] [32] Heute morgen –, wir waren eben mit dem Frühstück fertig –, kam Paul herauf u. sagte, der Oberleutnant sei wieder da. Ich ging gleich mit Martha runter u. trafen vor dem kleinen Hause einen etwa 35jähr. Mann, überaus primitiv, aber freundlich u. herzlich. Er hatte sich wieder Herrn Rüdiger mitgebracht als Dolmetscher, der bei Gräff wohnt u. aus Bialystock ist, wo er angeblich eine Tuchfabrik u. Landbesitz gehabt hat. Er war bei der deutschen Wehrmacht dienstverpflichtet gewesen u. ist mit ihr zurückgegangen. Seine Frau u. die Kinder sind in Dessau oder jedenfalls in jener Gegend. Das letzte, was er von ihnen gehört hat, war ein Telegramm nach einem Luftangriff, er solle sofort kommen, Personenschaden. Seitdem weiß er nichts mehr. – Das sind so Schicksale, wie sie tausendfach sind.
Nun, wir gingen also in die Bunte Stube u. Herr Rüdiger verdolmetschte, daß der Oberleutnant wüßte, daß ich Maler wäre u. ob ich ein Porträt von Stalin machen könne. Ich bejahte es. Er kaufte dann allerhand Kleinigkeiten ein u. bezahlte mit Markscheinen der alliierten Militärbehörde, die ich zum ersten Male sah. Dann bat er mich, mit zum Kommandanten in der Batterie zu kommen.
In der Batterie sah es sehr sauber u. ordentlich aus. Ich mußte mit Herrn Rüdiger draußen warten, dann kam der Oberleutnant bald zurück u. rief uns. Wir gingen in eine Baracke in ein einfaches, völlig schmuckloses Dienstzimmer, in dem wir den Kommandanten, einen Major, fanden. Der Mann war höflich, jedoch ohne jedes Lächeln. Es gibt [33] bei den Russen offenbar keinerlei Ehrenbezeugungen Untergebener vor den Vorgesetzten, der Verkehr ist vollkommen zwanglos in einer Weise, wie es für uns Westländer kaum vorstellbar ist. Alle unsere durch Jahrhunderte lange Kultur des gesellschaftlichen Verkehrs geschaffenen u. entstandenen Umgangsformen existieren einfach nicht. Damit fällt aller gesellschaftl. Zwang, alle Konvention u. alle Höflichkeitsform einfach weg, es ist eine erstaunliche Freiheit zwischen diesen Menschen.
Der Major wünschte also, wie sich nun herausstellte, Bilder von Stalin, Lenin u. a. großen Persönlichkeiten des Bolschewismus. Es dauerte etwas, bis ich begriff, daß er einfache Plakate haben wollte u. keine künstlerischen Portaits. Ich sagte ihm, daß ich ihm die Bilder machen wollte, wenn er mir die Leinewand dazu lieferte. Er fragte nach dem Preis. Ich sagte, ich wollte kein Geld, sondern Lebensmittel. Er schien Bedenken zu haben u. fragte, wie groß meine Familie sei. Wie er hörte, daß diese nur aus meiner Frau u. mir bestünde, wurde er zugänglicher. Er versicherte mir, daß in wenigen Tagen die Lebensmittel-Zufuhr funktionieren würde u. daß ich dann mit dem Alliierten Gelde alles kaufen könne; aber dennoch würde er mich mit Lebensmitteln versorgen. So wurden wir denn handelseinig. Er versprach mir, bis heute Nachmittag 4 Uhr weiße Leinewand zu schicken. Ich stand dann auf u. reichte ihm die Hand, die er mir in dieser zwanglosen Art gab, ohne Lächeln u. ohne Verbindlichkeit, aber offensichtlich auch ohne irgend einen Hintergedanken. [...]
[33][33] Gestern Abend kam der Oberleutnant mit Herrn Rüdiger wieder. Er brachte weisse Leinewand, dazu eine Zeitschrift mit dem Bilde Stalins u. einen kleinen Kalender mit Lenins Bild. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, dem er ein Stück Brot u. Tabak entnahm gewissermaßen als Anzahlung. Es ergab sich, daß ich je zweimal Stalin u. Lenin malen sollte, 80x100 cm. groß, u. zwar nur schwarz = weiß.
Später kam Ilse Schuster mit der Nachricht, daß Deutschmann verhaftet worden sei u. bei Bendix in Althagen interniert sei. Wir ratschlagten, ob da etwas zu machen sei. Ich hielt es für zwecklos, da die Russen nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, sich in ihre Sachen nicht reinreden lassen. Martha ging aber dennoch zu Dr. Ziel, der dann aber derselben Ansicht war, wie ich. Es wird ja Deutschmann auch nichts weiter passieren, als daß er irgendwo in ein Konzentrationslager kommt zur Arbeit, wie sie es anscheinend mit allen Nazis machen, die irgend eine Funktion ausgeführt haben. [...]
[34] Eben war Partikel da mit einer Liste zwecks Registrierung aller Einwohner. Ich sprach von dem Auftrag, Stalin u. Lenin zu portraitieren. P. sagte, daß dieser selbe Oberleutnant auch bei ihm gewesen wäre, aber er meint, der Mann sei ein Schwindler. Das ist großer Unsinn, P. versteht einfach nicht die naive Mentalität dieser Leute u. denkt, daß sie schwindeln. [...]
[34][34] Gestern am Spätnachmittag kam der Rechtsanw. Hoffmann, der Verbindungsmann zwischen den Gemeinden u. der russ. Behörde, mit seiner Frau. Wir saßen im Seezimmer. Ich ahnte nichts Böses u. glaubte, daß er uns nur einen Besuch machen wolle. Er erklärte mir aber, daß er gekommen sei, mich im Auftrage des russ. Kommandanten zu fragen, ob ich bereit sei, die Geschäfte des Bürgermeisters von Ahrenshoop zu übernehmen. – Ich war entsetzt u. lehnte es mit Entschiedenheit ab. – Herr Hoffmann fragte, wen ich sodann vorschlagen könne. Ich nannte Paul. Hoffmann sagte, daß Küntzel ja eigentlich nicht in Ahrenshoop wohne u. außerdem mit den Verhältnissen nicht gut vertraut wäre. Er käme deshalb nicht in Frage. Einen anderen konnte ich dann freilich nicht nennen. Herr Hoffmann fing dann an, mich zu überreden. Er sagte, daß das ganze Dorf hinter mir stände u. alle von mir erwarteten, daß ich die Führung übernehme u. daß Gräff eben in der jetzigen Zeit unmöglich sei. Außerdem würde mir ja genügend Hilfe zur Verfügung [35] stehen wie Paul Küntzel u. Dr. Hahn. Diese würden die Arbeit machen, sodaß ich nur eben die Leitung hätte. Ferner bestünde doch immer die Gefahr, daß unser Wohnhaus beschlagnahmt würde, während man das Haus des Bürgermeisters respektieren würde. Er redete sehr eindringlich, aber ich konnte mich nicht entschließen. Schließlich sagte er, ich möge mir doch die Sache überlegen u. ihm bis heute früh 9 Uhr Bescheid geben lassen.
Abends kamen dann Dr. Ziel mit Frau, Dr. Hahn u. Frau Schuster zum Vortrag, den ich aber ausfallen ließ. Ich bat Paul, heraufzukommen u. wir beratschlagten zusammen. Das Ergebnis der Besprechung war, daß sich Paul u. Dr. Hahn als Mitarbeiter zur Verfügung stellten u. Ilse Schuster als Sekretärin. Unter diesen Umständen willigte ich ein. Ich setzte eine schriftliche Erklärung auf, schrieb einen kurzen Lebenslauf u. übergab beides Paul zur Weiterbeförderung.
Der Himmel weiß, wie sich diese Nachricht dann gleich im Dorfe verbreitet hat. Wahrscheinlich hat Herr Hoffmann gestern schon nicht dicht gehalten. Heute morgen scheint das ganze Dorf es schon zu wissen. Agnes Borchers kam schon beim Frühstück, um ihre Freude auszudrücken, nachher kam auch Carl Papenhagen. Man sagt mir, daß das ganze Dorf erleichtert aufatmet, daß wieder eine Führung da ist. Ich selbst bin freilich nicht sehr beglückt. –
Herr Hoffmann berichtete gestern Abend, daß in Damgarten ein Hitlerjunge einen russischen Leutnant erschossen habe. Es sei deshalb eine verschärfte Spannung entstanden. Die Russen haben alle Hitlerjungens in Damgarten festgesetzt u. es wäre recht gut, wenn sie allen zusammen ordentlich das Hinterleder versohlten. [...]
[35] Ich zeigte gestern Abend das Bild von Stalin, das alle sehr bewunderten. Heute morgen kam der Oberleutnant u. brachte noch einen anderen mit, aber beiden gefiel das Bild garnicht. Ich hatte selbst in der Tat Bedenken gehabt, denn mein Bild ist eben so geworden, wie ich eben male, d.h. streng. Die Herren fanden, daß Stalin nicht freundlich genug aussehe. Ich bedauerte, nicht anders malen zu können u. sie hatten dafür auch Verständnis. Sie beschlossen, das Bild zum Kommandanten mitzunehmen u. es ihm zu zeigen, er sollte dann entscheiden. Ich wäre froh, wenn sie mir lieber keine weiteren Aufträge geben würden. Es ist das eben die echt russische Mentalität, die zum Führer einen freundlichen, weichen Menschen haben will, „Väterchen Stalin“, nicht einen preußischen General. Mein Stalin sieht eben preußisch aus. [...]
[36] Herr Hoffmann sagte uns übrigens gestern Abend auch, daß der Lehrer Deutschmann gestern Nachmittag bereits aus der Haft wieder entlassen sei. Wir freuten uns alle sehr darüber.
[36][36] Keine besonderen Ereignisse. Dr. Ziel kam gestern Abend u. besprach die Angelegenheiten des Prof. Reinmöller u. des Bauunternehmers Wilh. Helms, die beide auf der schwarzen Liste der Russen stehen. Reinmöller hat noch in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch Reden gehalten, daß der „Wehrwolf“ das einzige wäre, was uns noch retten könne. Ich bin aber der Ansicht, daß das nur dieses verantwortungslose u. dumme Geschwätz ist, was dieser Mann an sich hat u. solchen Worten keine praktische Bedeutung zukommen. Er ist z. Zt. nun einmal die einzige ärztliche Hilfe, die wir im Orte haben. Ich sagte zu Ziel, daß ich zwar nichts unternehmen würde, um Herrn Reinmöller zu schützen, daß ich aber auch nichts gegen ihn unternehmen würde. Ich würde das ganz den Russen überlassen. Im Falle Helms würde ich ebensowenig tun. Den ehemaligen Zollbeamten Nülken, der ja ebenfalls vor dem Zusammenbruch solch alberne Reden über den „Werwolf“ gehalten hat u. der nun anscheinend sehr bescheiden geworden ist, würde ich mir vornehmen u. ihn verwarnen. [...]
[36] Das Dekret, welches mich zum Bürgermeister ernennen soll, war bis gestern noch nicht da. Hoffentlich verzögert es sich noch weiterhin, damit ich mich mit dieser Flüchtlingssache nicht mehr zu befassen brauche.
Meinen Oberleutnant habe ich gestern auf Partikel gehetzt. Heute früh sah ich ihn schon mit ihm auf der Straße. Vielleicht wird er ihm einen freundlicheren Stalin malen können.
Es ist sehr kalt geworden. Nordwind.
[36][...] [37] Wie ich höre, soll Partikel mehr Glück gehabt haben mit seinem Stalinbilde, als ich. – [...]
[38][38] Der Arbeitstag war vorgestern sehr anstrengend, wir arbeiteten bis 8 Uhr abends. Gestern war vormittags noch einmal großer Andrang, doch ebbte es am Nachmittag rasch ab, sodaß wir um 6 Uhr Schluß machen konnten. Bis dahin waren etwa 750 Menschen registriert u. mit Lebensmittelkarten versehen. Schrecklich ist dabei nur, daß alle diese Menschen pro Woche nur 500 gr. Brot bekommen u. sehr wenig Fleisch u. Fett, von anderen Lebensmitteln ist überhaupt nicht die Rede. Vor allem ist es erschütternd, die vielen Kranken u. Schwachen zu sehen, die größtenteils schon seit langem durch die Kriegsereignisse schwer erkrankt sind, u. die alten Leute die alle nicht mehr satt werden können u. dringend einer zusätzlichen Ernährung bedürfen. Dabei haben wir jetzt acht Fischer im Dorfe, doch nehmen die Russen stets die ganzen Fänge weg u. es bleibt nichts für uns übrig.
Widerlich ist auch das Drängeln nach der Futterkrippe. Der Lehrer Deutschmann ist zwar aus der Haft entlassen u. wieder zuhause; aber gestern kam Herr Zelk, ein Schulrektor aus Hamburg, der dort sozialdemokrat. Bürgerschafts-Mitglied gewesen u. seit 1933 entlassen worden war u. der schon seit einigen Jahren bei uns Zuflucht vor dem Bombenkrieg gesucht + gefunden hatte, zu mir ins Amt u. eröffnete mir, daß er zum Schulrat für das Fischland ernannt worden sei, – natürlich durch die Gnade des Herrn Dr. Hoffmann. Einen solchen Posten hat es früher nie gegeben. Er sagte mir, daß Herrn Deutschmann die Lehrerlaubnis entzogen worden sei u. daß an seine Stelle zwei Lehrerinnen treten würden. Von der einen habe ich bisher überhaupt noch nicht ermitteln können, woher sie kommt u. welche Berechtigung sie zum Lehren hat, die andere entpuppte sich bei näherem Zusehen als die Frau des ehem. Kapitänleutnants Wegener, der immer Nazi war u. durch seinen albernen Schießbefehl beim Anmarsch der Russen fast die Existenz des ganzen Fischlandes aufs Spiel gesetzt hätte. Nachdem die Russen einmarschiert waren, hat dieser Mann sich mit seiner Frau, mit dem Oberlt. Meyer u. dessen Frau u. mit der Frau des Nazi=Rechtsanwalts Denzin im Hause der Frau Smith verborgen gehalten. Diese alle sind dann getürmt, nur Wegener u. seine Frau blieben zurück. W. wurde von den Russen verhaftet u. auf Fürsprache von Dr. Hoffmann wieder entlassen u. für die Elektrizitäts-Versorgung des Fischlandes bereitgestellt.
Dieses Amt hat früher für alle Dörfer der Elektromeister Maaß in Wustrow mit einem Lehrjungen versehen. Jetzt sind für Ahrenshoop allein Herr Liebers u. Herr Stramm, beides Fachleute u. ehem. Soldaten, eingesetzt. Gestern Abend berichtete mir Herr Liebers, daß auf Hoffmanns Anordnung nun auch noch der ehem. Obermaat. Knoop u. der ehem. Stabsfeldw. Voigt dafür angestellt sind. Das sind mit Herrn Wegener 5 Personen, – u. dabei gibt es keinen Strom. Wegener, Knoop u. Voigt sind ehem. Nazis. [...]
[39] Draußen traf ich dann Herrn Schulrat Zelk, dem ich ausführlich über die Schulangelegenheit meine Meinung sagte. Er zeigte sich sehr einsichtig.
Nachmittags Konferenz mit Ortsbauernführer Paetow betr. Milch- u. Butter-Versorgung, die ein viel besseres Bild gab, als ich erwartet hatte. Wir werden morgen die Sache so organisieren, daß alle Kleinstkinder ihren 1/2 Ltr. Milch täglich bekommen u. alle Kinder vom 3. – 6. Lebensjahr wenigstens 1/4 Ltr. Milch. auch Butter wird es wenigstens etwas geben u. ich hoffe, auch Eier zu bekommen für Kranke u. alte Leute. [...]
- ↑ später stellte sich heraus, daß die Russen von Rostock her in Ribnitz einmarschiert sind.