Ahrenshoop, Juni 1943
Einführung
Der Artikel Ahrenshoop, Juni 1943 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Ahrenshoop vor und im Krieg“ zusammengestellten Tagebuchauszüge vom Juni 1943. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung].
Tagebuchauszüge
[1] Dienstag Abend bei Dr. Grimm. Ich war zum ersten Male bei ihm, seitdem er das kleine Haus bewohnt, welches das ehemalige Waschhaus ist, welches er sich sehr geschickt ausgebaut hat. Wir saßen in einer geschlossenen Veranda, die den Ausblick nach Norden zum Darsser Ort u. nach Westen über die See hat. Für denjenigen, der das liebt, ist die Lage des Hauses hart am Strande recht reizvoll, für mich ist das nichts. Man hat zu wenig das Gefühl der Geborgenheit im Hause, man fühlt sich der ungebändigten Natur zu sehr ausgeliefert; aber das ist ja die Sehnsucht der Großstädter! Sieburg hat wohl recht, wenn er meint, daß es die Sehnsucht aller Deutschen sei im Gegensatz zu den Franzosen, welche mehr die kultivierte Landschaft lieben. Wenn dem so ist, dann fühle ich deutlich meine französische Abstammung. Ich liebe diese Landschaft hier nicht, welche immer unbestimmt u. in Licht oder in Nebel oder in Dämmerung zu zerfließen scheint, ohne klare Konturen u. Grenzen. Die Landschaft ist ganz unkultiviert u. wild, es ist eine barbarische Landschaft. – An jenem Abend kam das besonders stark zum Ausdruck, da sich der Himmel eingetrübt hatte u. da es begann, zu nieseln, sodaß auch der Horizont nicht mehr zu sehen war. Man sitzt dann vor einer grauen Unbestimmtheit wie vor einem Abgrund, der ins Nichts zerfließt. – Wir saßen hart auf unbequemen Bänken u. tranken einen ziemlich sauren Rheinwein. [...]
[1] Am Montag haben wir zum ersten Male das Geschäft geöffnet gehabt. Es war ziemlich lebhaft durch die Filmleute, die augenblicklich hier sind. Es wird ein Film gedreht, der um 1900 spielt u. eigentlich auf Helgoland spielt, wo man aber jetzt im Kriege nicht filmen kann. Henni Porten spielt mit u. ist wohl die Kanone. – [...]
[1] heute Nachmittag war die Preisprüfungs=Kommission bei uns u. fand allerhand auszusetzen. Trotzdem kamen wir einigermaßen glimpflich davon, denn die beiden Herren in Civil waren ziemlich wohlwollend, nur der dazugehörige Polizeimann war ein rechter Büttel, der uns am liebsten in hohe Strafe genommen hätte, weil wir einige kunstgewerbliche Gegenstände zu hoch kalkuliert hatten. Zum Glück waren wir vorher von anderen Geschäftsleuten benachrichtigt worden, sodaß wir vorher den Laden ziemlich leer räumen konnten. Als die Kommission kam, war kaum noch Ware im Geschäft. Wir werden wahrscheinlich einen Verweis bekommen, u. werden uns in Zukunft noch mehr vorsehen müssen. Es ist nur tröstlich, daß dieses Regierungssystem bald sein Ende gefunden haben wird. Aber die Sache hat uns doch sehr mitgenommen u. besonders Martha war sehr aufgeregt, – was aber sehr gut war, denn sie erregte so das Mitleid der beiden Herren.
[2][2] Wir haben das Geschäft noch weiter leer geräumt, weil zu erwarten ist, daß die Preisüberwachung nocheinmal wiederkommt. Freitag abend war Frl. Neumann bei uns u. erzählte von ihren Erlebnissen mit dieser Kommission im Kurhause, wo diese Leute nicht weniger als sechs Stunden lang den ganzen Betrieb durchgeschnüffelt haben. Sie haben sich dort gradezu unverschämt benommen, während sie bei uns ziemlich harmlos waren. Frl. N. hat, als die Leute endlich fort waren, einen regelrechten Nerven-Zusammenbruch gehabt. [...]
[3][...] [4] Gestern wurde uns bekannt, daß die Preisprüfungs-Kommission ab heute bis Donnerstag Zimmer im Baltischen Hof belegt hat. Es wird also heute diese Preisschnüffelei wieder losgehen. Gestern abend haben wir nochmals einige Preise in der Textilabteilung revidiert, hoffentlich wird es diesmal alles klappen. [...]
[4][4] Das Wetter ist wieder schön geworden. Sommerliche Temperatur, Sonnenschein. Morgen ist Pfingsten. Heute im Geschäft sehr lebhaft. Die Leute kaufen, nur um ihr Geld los zu werden. Die Preisprüfungskommission ist nicht wieder bei uns gewesen. Tageskasse heute 1033,– Rm., obwohl wir nur von 4 – 7 Uhr geöffnet haben.
Herr Beichler war nach Geschäftsschluß eine Viertelstunde bei uns mit seiner Pflegetochter, Frau Gerda Knecht. Wir saßen etwas vor dem Hause u. er erzählte vom letzten Angriff auf Wuppertal, der furchtbar gewesen sein muß. Er ist Unteroffizier bei der Artillerie in Osnabrück u. zwei Wachtmeister seiner Truppe sind aus Wuppertal. Sie haben erzählt, die Engländer hätten nicht mehr wie bisher Phosphor in Kanistern abgeworfen, sondern sie hätten das Phosphor direkt aus den Flugzeugen gespritzt, sodaß ein Feuerregen niedergegangen sei, der alles vernichtet hätte, sogar das in dieser Stadt verwendete Holz=Asphaltpflaster hätte gebrannt, sodaß die Menschen nicht aus den Häusern herauskonnten. Die Leute sollen in die Wupper geflüchtet sein. [...]